2 - Tag Eins (Edeltraut Mayerhofer)
Es war ein Morgen wie jeder andere, dennoch war etwas anders. Doch das zweite Bett war immer noch unbenutzt, das Gefühl der Leere immer noch da. Was sollte sich geändert haben?
Edeltraut Mayerhofer schwang die Beine aus dem Bett, schlüpfte in ihre Pantoffel und schlurfte in die Küche. Der Kalender zeigte Donnerstag, den fünfzehnten Oktober.
Das Datum versetzte ihr einen Schlag in die Magengrube. Vor genau einem Jahr hatte Georg ihr offenbart, dass er sie verlassen würde. Er hatte eine andere Frau kennengelernt, eine jüngere, natürlich. Angeblich hatte er versucht, dagegen anzukämpfen, vergebens. Die Gefühle für die Neue waren zu stark.
»Ich weiß, es ist nicht richtig«, hatte er gesagt und sogar so zerknirscht gewirkt, wie er zu klingen versuchte. »Aber seit langer Zeit fühle ich mich endlich wieder lebendig.«
Natürlich hatte er ihr mehrmals versichert, dass es nicht an ihr lag, sondern einzig und allein an ihm. Und er hatte ihr gedankt für die vielen, guten Jahre, die er mit ihr erleben durfte.
»Er ist ein Idiot«, hatte Mina gesagt. »So schön wie bei dir wird er es nicht mehr haben.«
»Es gehören immer zwei dazu.« Wilma war die Pragmatikerin und immer schonungslos offen. »Hilft ja nichts, man muss sich der Realität stellen.«
Ausgerechnet Henriette, der überzeugte Single, hatte ihr geraten, sich Zeit zu lassen. »Es macht am Ende keinen Unterschied, ob er dich verlassen hat oder gestorben ist. Er ist aus deinem Leben verschwunden und deshalb musst du trauern.«
Edeltraut wusste, dass sie ihren Freundinnen viel verdankte. Das Angebot, in den ersten Tagen des Alleinseins bei ihr zu bleiben, hatte sie abgelehnt, die täglichen Anrufe hingegen akzeptiert.
Bald war dann die Routine zurückgekehrt. Seither trafen sie sich wieder im Zwei-Wochen-Rhythmus in ihrem Café.
Edeltrauts Blick fiel erneut auf den Kalender. Donnerstag. Heute war wieder Kaffeeklatsch.
Da haben wir ja was zu feiern, dachte sie sarkastisch.
Sie setzte den Wasserkessel auf, löffelte Tee in den Filter und deckte den Tisch, wie sie es schon immer getan hatte. Nur, dass jetzt nur noch ein Gedeck auf dem Tisch stand. Trotz aller Deprimiertheit hatte sie keinen Schlendrian aufkommen lassen.
Als das Wasser kochte, brühte sie den Tee auf und stellte den Timer. Die vier Minuten waren ausreichend, um auf die Toilette zu gehen, in den kuschligen Morgenmantel zu schlüpfen und die Zeitung aus dem Treppenhaus zu holen. Das hatte sie sich immerhin zugestanden: erst eine Tasse Tee und die Morgenlektüre, dann ins Bad.
Georg schien das Abonnement vergessen zu haben. Edeltraut hatte sich nie um solche Dinge gekümmert, aber sie wusste, dass das Zeitungsabo immer ein Jahr lang lief. Sie glaubte sich erinnern zu können, dass die Abbuchung im Mai fällig war. Georg hatte immer tagelang geschimpft, dass die SZ schon wieder teurer geworden sei. Abbestellt hatte er sie aber auch nicht.
Edeltraut versuchte, sich auf die Artikel zu konzentrieren, doch immer wieder schweiften ihre Gedanken ab.
Sie musste dringend Georg anrufen; das Geld, das er ihr monatlich überwies, reichte hinten und vorne nicht mehr. Seit Wochen schob sie das Telefonat vor sich her, aus Angst, die Neue zu erwischen.
Die Neue. Sie konnte sich nicht überwinden, Georgs Freundin beim Namen zu nennen. Sie wollte ihn nicht einmal denken. Es hätte ja bedeutet, die Tatsache anzuerkennen.
»Das ist doch Blödsinn«, sagte sie laut. »Ihr Name ist Bianca. Und er kommt nicht wieder zurück.«
Sie fühlte sich erleichtert. Ungeduldig schüttelte sie den Kopf, trank den letzten Schluck Tee, räumte die Tasse ins Spülbecken und ging ins Bad. Lange musterte sie sich im Spiegel.
An ihrem Aussehen konnte es nicht gelegen haben, dass Georg sie verließ. Sie sah nach wie vor jünger aus als sechzig, auch wenn der Schock der letzten Monate deutliche Spuren hinterlassen hatte. Ihr Busen war immer noch fest, was aber vermutlich vor allem dem Umstand zu verdanken war, dass er relativ klein war. Der Bauch, den sie nach den Wechseljahren bekommen hatte, war dank des fehlenden Appetits in den ersten einsamen Monaten verschwunden.
Gut, die Haare waren inzwischen fast vollständig grau - kein Wunder nach den letzten Monaten. Sie konnten einen Schnitt vertragen, saßen aber noch leidlich gut. In diesem Monat war ein Friseurbesuch nicht mehr drin, zudem scheute sie die endlose Diskussion mit Petér, der sie dazu überreden wollte, sich die Haare zu färben.
»Sie sind viel zu jung für graue Haare«, sagte er jedes Mal. »Es würde Sie zehn Jahre jünger machen, mindestens.«
Das bringt Georg auch nicht zurück.
Charmant war Petér, das musste man ihm lassen. Er wickelte beinahe jede Kundin um den Finger. Sein rollendes R tat ein Übriges. Edeltraut war überzeugt, dass er viel Trinkgeld bekam. Sie wollte sich keine Blöße geben und zeigte sich nach wie vor großzügig, auch wenn er mit seiner Hartnäckigkeit manchmal nervte.
Seufzend stieg sie unter die Dusche. Während sie sich abtrocknete und eincremte, dachte sie darüber nach, was sie sich zu Mittag kochen sollte. Eine Suppe war genug, schließlich gab es am Nachmittag Kuchen.
Das war eines der Dinge, die sie am meisten vermisste: Kochen und Backen. Für sie selbst rentierten sich die meisten Rezepte nicht.
Ich sollte ein paar Leute zum Essen einladen, dachte sie und ging in Gedanken durch, wer dafür in Frage käme. Natürlich ihre drei Freundinnen, vielleicht auch ihre Nachbarin von oben. Acht Leute brachte sie locker an den Esstisch. Sie würde mindestens ein Vier-Gänge-Menü zubereiten und für den Nachmittag einen leckeren Kuchen.
Und wer soll das alles bezahlen?
Ernüchtert ging sie ins Schlafzimmer, schlüpfte in die Unterwäsche und stellte sich vor den Kleiderschrank. Sie fühlte die hochwertigen Stoffe und war dankbar, dass sie beim Kauf ihrer Kleidung immer Wert auf Qualität gelegt hatte. Manche Sachen hatte sie seit Jahrzehnten, aber man sah es ihnen nicht an. Natürlich waren sie nicht der letzte Schrei, aber sie war noch nie mit der Mode gegangen. Klassisch-elegant war ihr Stil, schon seit jungen Jahren.
War es das, was Georg in die Arme der anderen getrieben hatte?
Ihre Wahl fiel schließlich auf ein dunkelblaues Kostüm und den passenden Pullover dazu. Sorgfältig wählte sie den Schmuck dazu aus, entschied sich für eine dezente Goldkette. Zweifelnd schaute sie die Ringe an, die Georg ihr im Laufe ihrer Ehe geschenkt hatte. Sie hatte sie selten getragen, denn bei der Hausarbeit störten sie nur.
Nur den Ehering hatte sie immer getragen, er steckte noch immer an ihrem rechten Ringfinger. Sie waren nach wie vor verheiratet, wenn auch nur noch auf dem Papier. Georg schien es ernst zu sein mit seiner neuen Liebe, auch wenn er noch nicht von Scheidung gesprochen hatte. Sie machte sich keine falschen Hoffnungen mehr: Ihre Ehe war vorüber, ob nun offiziell oder nicht.
Edeltraut atmete tief durch und zog den Goldreif vorsichtig vom Finger. Für einen Moment fühlte sie sich nackt und ungeschützt, es war ein seltsames Gefühl. Bisher hatte sie den Ring nur einmal abnehmen müssen, vor über fünfzehn Jahren, im Krankenhaus.
Neugierig betrachtete sie ihn. Es war eine gute Qualität gewesen, der Ring zeigte kaum Abnutzungsspuren. Sie vermied es, auf die Innenseite zu schauen, wusste auch so, was dort eingraviert stand:
E & G - 14. Mai 1983
Es war das Datum der kirchlichen Trauung.
Edeltraut war versucht, den Ring wieder über den Finger zu streifen, steckte ihn dann jedoch entschlossen in das Polster zu den anderen. Sie wählte stattdessen einen mit einem Lapislazuli, hielt die Hand ausgestreckt von sich und nickte zufrieden.
Heute war der erste Jahrestag. Es war an der Zeit, dass sie aufhörte, die Tage zu zählen und einer Vergangenheit nachzutrauern, die nur in der Erinnerung rosig war.
Edeltraut lächelte sich aufmunternd zu, klappte den Schrank zu, schlüpfte in die passenden Pumps und verließ die Wohnung, um ihren morgendlichen Rundgang zu absolvieren.
Es war ein typisch goldener Oktobertag, die Bäume der Blumengasse leuchteten in der Sonne. Edeltraut beschloss, bei Petér einen Termin Anfang November zu vereinbaren.
»Hallo, meine Liebe, wie schön, Sie zu sehen!« Der Friseur klang immer, als hätte er nur auf diese eine Kundin gewartet, auch wenn der Laden voll war. Edeltraut fand das meist etwas zu aufdringlich, andererseits war seine gute Laune ansteckend. Heute war der Salon noch leer.
»Hallo Petér, ich wollte einen Termin ausmachen.« Sie zeigte auf ihren Kopf. »Die haben es mal wieder nötig.«
Sie rechnete ihm hoch an, dass er niemals log, indem er behauptete, ihre Frisur sehe immer noch gut aus.
»Gerrne«, gurrte er und eilte zur Theke, auf der sein Kalender lag. »Wann passt es Ihnen?«
»Anfang November. Tag und Uhrzeit dürfen Sie aussuchen, Sie wissen ja, dass ich fast immer Zeit habe«, erwiderte Edeltraut lächelnd und fand sich ein klein wenig schelmisch dabei.
»Aberr das eine hat doch mit dem anderren absolut nichts zu tun!«, widersprach Petér ernst. »Nur weil Sie Zeit haben, müssen Sie keine Lust haben, nicht wahrr?«
»Da haben Sie natürlich recht«, sagte Edeltraut und dachte: Wenn ich immer schon vorher wüsste, auf was ich Lust habe, wäre mein Leben einfacher.
»Warum bleiben Sie nicht...