Schweitzer Fachinformationen
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Drei Wochen nach Jeans Tod besuchte ich Moshe. Zum ersten Mal seit Jahren fuhr ich direkt vom Flughafen nach Jerusalem. Jean war in seinem Kloster Sept-Fons beerdigt worden, Moshe wenige Stunden vor mir in Israel eingetroffen.
Die Tür stand offen. Er saß in dem niedrigen, etwas schäbigen schwarzen Sessel, in dem er meistens sitzt. Obwohl Ende Januar, wärmte die Sonne, es waren mindestens vierzehn Grad, zwanzig Grad mehr als in Berlin. Moshe trug einen dunklen Anzug, er hatte abgenommen, als ich ihn umarmte, erschrak ich, er kam mir zerbrechlich vor. Er war 68 Jahre alt, sah jünger aus, das Gesicht schmal, auf Stirn und Kinn zeichneten sich blaß die beiden Narben ab, die er sich im Oktober bei einem Autounfall zugezogen hatte, sein dunkelblondes Haar war jetzt fast weiß. Ich bin einen halben Kopf größer als er, zum ersten Mal fiel mir das auf.
Der Fußboden glänzte, alles war aufgeräumt und sauber - das Verdienst von Tess, der philippinischen Haushaltshilfe -, das Sofa neu bezogen. Moshe winkte mir, ich solle mich setzen. Der lange Wohnzimmertisch verschwand fast unter Papieren und Stiften, unter Briefen, Rechnungen und den Notizzetteln, die mir Moshe manchmal schickt. Er las eine Aktennotiz, vermutlich von seinem Kollegen und Nachfolger in der Kanzlei, stand kurz auf, um mir ein Glas Wasser zu bringen - gleich gibt es Kaffee, sagte er -, und las schon weiter. In den letzten Monaten war so viel geschehen, daß ich nichts dagegen hatte, still dazusitzen und Moshe anzuschauen. Er ist ein gutaussehender Mann, etwa ein Meter fünfundsiebzig groß, vielleicht wirkt er durch seine lebhaften, abrupten Bewegungen kräftiger, als er ist, durch die Ungeduld und Entschiedenheit, mit der er reagiert, meist schneller als sein Gegenüber, meist unerwartet, und oft begreift man erst Stunden oder Wochen oder Jahre später, warum er gesagt oder getan hat, was er gesagt oder getan hat. Ähnlich ist es mit seinem Gesicht: erst nach einer gewissen Zeit bemerkt man, wie sich die dichten Brauen über den Augenhöhlen wölben, wie fein die Flügel der kräftigen Nase geschwungen sind, und plötzlich wirken die Gesichtszüge fragend und sogar traurig, die Entfernungen nicht überbrückbar. Wir kannten uns im Januar 1999 seit mehr als acht Jahren.
Als er aufstand, abrupter als nötig - er will mir zeigen, daß er sicher auf den Beinen ist, schoß es mir durch den Kopf -, sah ich, wie abgeschabt der Bezug des Sessels war. Vor dem Fenster pfiff ein Vogel Bulbul, ich glaube, ich begriff erst da, daß ich in Israel angekommen war. Moshe setzte Kaffee auf, schnitt Kuchen ab (sicher hatte Tess ihn gekauft), alles zu rasch, als daß ich ihm hätte helfen können. »Datteln mußt du dir morgen selber kaufen«, sagte er, auf eine Schale mit Obst zeigend. Von der Beerdigung erzählte er nichts.
Die Wohnung liegt im Souterrain, auf abschüssigem Gelände, so daß sich der hintere Teil zu einem kleinen Gartenstück, einer Wildnis aus ungeschnittenem Gras und Brombeerbüschen öffnet.
»Wenn du schon so lächerlich lang bist, solltest du wenigstens essen.« Moshe wirkte müde. Aber als er aufzählte, was in absurder Abfolge passiert war, sahen wir uns an und fingen an zu lachen: unberechenbare Schwindelanfälle, Verdacht auf einen Hirntumor, der Brief seines Freundes Jean, ein Autounfall, die erfolglose Suche nach Jean in Frankreich, die Todesnachricht. »Fehlt nur noch, daß die Wohnung abbrennt und Batsheva mich verläßt«, spottete Moshe.
Kurze Zeit später rief Batsheva an und fragte, ob ich noch bei Moshe sei. In einem Autobus der Linie, die ich in Tel Aviv immer benutze, war eine Bombe explodiert. Wir schalteten den Fernseher ein. Acht Tote, mehr als zwanzig Verletzte.
Moshe bat mich, bei ihm oder Batsheva zu übernachten, statt nach Tel Aviv hinunterzufahren. »Oder möchtest du, daß ich die ganze Nacht wach liege?« Aber ich wollte nach Tel Aviv, ich sehnte mich nach dem Meer und dem Zimmer, das ich dort immer miete, der Gedanke, in Jerusalem aufzuwachen, bedrückte mich. Ich fahre eigentlich nur noch nach Jerusalem, um Moshe zu besuchen.
Unwillig brachte Moshe mich zum Busbahnhof. Ob er überlegte, wie er mich zurückhalten könne? »Du schreibst doch«, sagte er. »Ich schenke dir Jeans Geschichte, schreibe sie auf.«
Ich war überrascht: Moshe hatte über meine Bücher bisher immer kritisch und oft spöttisch gesprochen. Wir hatten den Busbahnhof erreicht, ich sah, daß der 415er zur Abfahrt bereitstand. Hastig umarmte ich Moshe und versprach anzurufen, sobald ich angekommen sei.
Während der einstündigen Fahrt dachte ich über Moshes Geschenk nach. Die wenigen Fahrgäste waren still. Als wir die Ebene erreichten, schaltete der Fahrer das Radio ein, der Nachrichtensprecher und Augenzeugen berichteten Einzelheiten über das Attentat, da wurde mir klar, daß ich in Jerusalem hätte bleiben sollen.
Gleich nach meiner Ankunft rief ich Moshe an. »Und«, meldete er sich ungeduldig, »hast du über meinen Vorschlag nachgedacht?«
»Wenn du willst, versuche ich es.«
»Gut, und sei übermorgen um fünf Uhr bei mir, wir gehen spazieren.«
Ich konnte nicht schlafen und fing in der gleichen Nacht zu schreiben an. Vor ein paar Wochen hatte ich ein Manuskript abgegeben, seither plagte ich mich mit der Übersetzung eines langen Romans. In den folgenden Tagen schrieb ich zwanzig Seiten, es ging mir leicht von der Hand. Den Tisch hatte ich ans Fenster gerückt, der dicke Vorhang ließ sich weder mit List noch mit Gewalt ganz zurückziehen. Ich stellte mir vor, daß Jean die letzten Wochen seines Lebens in einem ähnlichen Zimmer verbracht hatte. Moshe erwartete von mir keinen Tatsachenbericht. Mittags lief ich zum Meer hinunter, traf mich mit Freunden, und alle zwei Tage fuhr ich nach Jerusalem, zu Moshe. Wir gingen auf den Markt und kauften Datteln, er führte mich und Batsheva zum Essen aus. Das Wetter schlug um, Moshe gab mir seinen Regenschirm. Ein paarmal gingen Gewitter nieder, aber Schnee fiel nicht.
Nach Berlin zurückgekehrt, las ich, was ich geschrieben hatte. Es war schlecht, und ich ließ es liegen. Moshe hatte mich diesmal nicht drängen müssen, Sebastian zu besuchen, Sebastian, der vor Jahren mein Freund gewesen war, den ich verlassen hatte, als ich in Jerusalem studierte, meine große Liebe. Im Frühjahr fuhr ich mehrfach nach Freiburg, auch sonst reiste ich viel. Schließlich zog Sebastian nach Berlin. Wir lebten in meiner Zwei-Zimmer-Wohnung zusammen, und ich versuchte zum zweiten Mal, Jeans Geschichte aufzuschreiben. Nach achtzig Seiten war auch dieser Versuch mißglückt. Mit jedem Ortswechsel kann eine Geschichte aus den Fugen geraten. Die Geschichte ähnelt einem Glas, das - in Zeitungen und schmutzige Wäsche verpackt - die Reise nicht überstanden hat.
In dem Jahr, das auf Jeans Tod folgte, dem Jahr, in dem Sebastian nach Berlin zog, fuhr ich dreimal nach Israel, einmal - im Herbst - begleitete mich Sebastian. Jedesmal blieb ich drei Wochen. Wir sahen uns oft, Moshe und ich; er war manchmal gesund und manchmal nicht, häufig spottete er über mich, ungeduldig wie im ersten Jahr unserer Freundschaft, über das wir oft sprachen. Als prüften wir uns und unsere Freundschaft unter veränderten Bedingungen.
»Mir fällt das Reisen schwer«, sagte ich zu Moshe. Er sah mich belustigt, beinahe empört an. »Von welchen Reisen sprichst du denn? Von deinem komfortablen Dahin, Dorthin, wie es uns beliebt?«
»Willst du«, verteidigte ich mich, »daß ich mit dem Schiff nach Palästina fahre und drei Wochen mit Malaria in einem verdreckten Krankenhaus in Haifa liege? Und dann darf ich auch übers Reisen reden?«
Aber ich wußte, was er meinte.
Im Frühsommer 1938 leerte sich die Charlottenburger Wohnung der Feins. Möbel wurden herausgetragen, um bei Freunden eingelagert zu werden, jedes Stück von seiner Mutter noch einmal sorgfältig poliert, in große, hölzerne Kisten wurde das Geschirr verpackt, in Holzwolle die Gläser, Gegenstände wurden unsichtbar, eine geschäftige Operation verbarg, was endgültig war. Mit seiner Kinderfrau schickte man Moses zu langen Spaziergängen. Eine große Reise würde es sein, sagte man ihm. Der Lehrer, der ihn seit seinem sechsten Geburtstag zu Hause unterrichtet hatte, blieb weg. Die Kinderfrau führte Moses in den Tiergarten; er wollte in den Zoo, das war nicht möglich. Um ihn zu trösten, weil er auch diesen Sommer nicht eingeschult wurde, versprach sein Vater, ihn bald selbst zu unterrichten.
Der Tag der Abreise (große Koffer, zwischen denen seine Mutter hin- und herlief, während der schmale Vater am Bahngleis stand, mit hängenden Armen und still wie ein Signalpfosten) war mild, das dicke, pelzgefütterte Mäntelchen viel zu warm, Moses weinte und wollte es ausziehen.
Er erinnert sich, daß ihm heiß gewesen war (es war Anfang Juni), wie er weinte, weil er den Mantel nicht ausziehen durfte. An die Zugfahrt und Ankunft in Paris erinnert er sich nicht, vage nur an das enge Hotelzimmer, an Nächte, in denen seine Eltern das Zimmer verließen, im Glauben, er schliefe. Fremde Stimmen drangen ins Dunkel, Schatten zogen einer hinter dem anderen aus den Ecken, sammelten sich um das leere Bett seiner Eltern, als suchten sie nach ihnen. Die Eltern hatten ihm gesagt, er müsse leise sein, schon während der Zugfahrt hatten sie es befohlen. Er schwieg, bis heute kann er in einem öffentlichen Verkehrsmittel nicht laut sprechen.
Er wußte nicht, wohin seine Eltern nachts, wohin sie tags- über gingen, wenn sie ihn alleine ließen, um müde, mutlos zurückzukehren.
Seine Mutter trat rasch ins Zimmer, wo er auf ihrem Bett saß und...
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