Schweitzer Fachinformationen
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Die Sommerferien ohne meine Mutter waren ein Albtraum gewesen, und der Anfang der neunten Klasse war auch nicht viel besser. Ich rutschte in drei Fächern auf eine Vier. Lisa vermied es, zu mir zu gucken, wenn Tests zurückgegeben wurden, obwohl ich schriftlich immerhin etwas besser war als mündlich. Ich meldete mich nie. Ein paar andere wurden auch schlechter, unsere Sportlehrerin behauptete, wir seien so was von in der Pubertät, und schließlich hielt sogar unsere Klassenlehrerin, Frau Wild, uns eine Standpauke. Es gebe mehr auf der Welt als unsere miese Laune und unsere privaten Probleme. Ich wusste, dass sie nicht mich damit meinte, aber Wilhelm drehte sich ostentativ zu mir um, und mir wurde fast schlecht vor Wut und vor Traurigkeit.
Irgendwann fingen wirklich alle an, sich um die Klimakatastrophe zu sorgen, und Lisa und die Hälfte aus meiner Klasse gingen zu den Demonstrationen von Fridays for Future. Sie fragten nicht groß, ob ich mitkommen wolle, sie dachten, es sei klar, weil ich immer gegen Plastikbecher und den ganzen Müll war. Ich war auch gegen ansteigende Meeresspiegel und Dürre. Ich hielt den Mund und ging mit, ein Stück weit, dann bog ich ab, um zurück nach Hause zu fahren. Mit der U-Bahn, den Schülerausweis umschloss ich fest mit der Hand, froh, dass wir seit dem Sommer keine Tickets mehr brauchten und ich nicht mit meinem Vater verhandeln musste, wie viele Fahrscheine ich im Monat bekommen konnte.
Einen Antrag auf den Berlinpass für bedürftige Familien wollte er nicht stellen, weil es ihm lächerlich vorkam. Dass wir plötzlich auf so was angewiesen sein sollten.
Schließlich merkten die anderen, dass ich jedes Mal abhaute. Ich erzählte Seteney von einem Jungen aus einer anderen Schule, desMarie-Curie-Gymnasiums, den ich kennengelernt hätte - sie kicherte neugierig - und den ich bei den Demos treffen würde. Keine Verabredung oder so, aber er warte auf mich und lade mich zum Eis ein. Sie nickte und erzählte es weiter, so wie ich es mir gedacht hatte, und gleich wunderte sich keiner mehr, dass ich nicht mit den anderen Mädchen herumzog, sondern irgendwie verschwand. Ich sähe, sagte mir Seteney einmal, ganz schön konfus aus. Konfus war gerade das Lieblingswort von Lisa und so.
Vielleicht hatte Lisa ihrer Mutter etwas Ähnliches erzählt, jedenfalls rief Gesine an und lud mich ein, mal wieder nach der Schule zum Essen zu kommen, und sie fragte, wie es meinem Vater gehe. Gut, sagte ich und ging natürlich nicht hin.
Übers Wochenende nahmen sie mich eh nicht mehr mit, wenn sie aufs Land fuhren, weil ich mit Lisa verkracht war. Es war ein altes Haus mit einem großen Garten. Einmal hatte ich dort einen Igel gefunden und ihm frühmorgens Milch gebracht. Es gab schiefe Apfelbäume und einen Schuppen, und natürlich die beiden Hunde, zwei Irish Terrier, die wir Werwolf und Waswolf nannten, eigentlich hießen sie Alistair und Ivanhoe.
Im Herbst brachen in Brasilien und Australien große Feuer aus.
»Ob beim Wegrennen die Kängurubabys aus dem Beutel fallen können?«, fragte im Biologieunterricht Wilhelm, der bescheuertste Junge aus unserer Klasse, und Herr Retter, unser Biolehrer, hielt das natürlich für eine kluge Frage. Er zeigte uns ein Foto von einem Känguru, das vor dem Feuer in die Stadt geflohen war. Es stand hoch aufgerichtet da und starrte in die Kamera. So fühlte ich mich auch ungefähr.
In Indien oder Indonesien gab es Überschwemmungen, und dann auch in Venedig, daran erinnere ich mich, weil wir drei Mal dort waren, früher, meine Mutter, mein Vater und ich. Mit sechs oder acht war ich einmal weggelaufen, ich hatte mich auf einem Boot, einem grünen Boot, versteckt, das plötzlich ablegte und losfuhr. Ich stand an der Reling und schrie, und Männer in Uniformen kamen zu mir gestürzt, mit aufgeregten Gesichtern. Später erzählte meine Mutter mir, dass es ein Müllboot gewesen war, das nur kurz angelegt hatte, um die Müllcontainer zu leeren. Und sie erzählte mir auch, dass die Müllboote alle denselben Namen tragen, Veritas, was Wahrheit bedeutet.
Es kommt mir manchmal vor, als wäre das eine der letzten Sachen, die sie mir erzählt hat, bevor sie starb, obwohl das natürlich Quatsch ist. Veritas, wiederholte sie, als würde ihr das Wort besonders gut gefallen. Veritas. Dabei können wir gar kein Latein.
An manchen Tagen sah sie aus, als hätte man bei einem Foto den Filter verändert. In Lisas Smartphone kann man Magic auswählen, alles ist dann blass und gleichzeitig überdeutlich, genauso sah Mama aus.
Sie war dann besonders sanft, aber auch so, dass ich Angst hatte, sie könnte wieder einen ihrer Herzanfälle kriegen.
Venedig jedenfalls war auch überschwemmt, schlimmer als je zuvor oder schlimmer als seit hundert Jahren. Alle sagten, dass das zu den Klimakatastrophen gehörte und dass Venedig bald nicht mehr existieren würde. Einmal pro Woche traf sich eine Arbeitsgruppe in der Schulcafeteria, um zu beratschlagen, was man machen könne, außer freitags demonstrieren zu gehen. Viele in der Schule, auch die Älteren, waren mit solchen Sachen beschäftigt, mit Greta Thunberg, mit dem Klimawandel und was aus uns werden würde, und wenn ein Erwachsener eine Bemerkung darüber machte, wie schlecht ich aussah, erwiderte ich, dass ich nicht schlafen könne, weil ich mir solche Gedanken machte und Angst hätte. Dann nickten alle verständnisvoll.
Irgendwann verschwanden die Bilder von den Feuern und dem Hochwasser wieder, ich war froh, wenn etwas Neues kam, Überschwemmungen im Sudan und wieder Hitze in Australien, weil die anderen dann noch nicht anfingen, von Advent und Weihnachten zu reden. Ein paar hatten schon in der achten Klasse so getan, als wären sie zu alt, sich für Advent und Weihnachten zu interessieren, aber das Weihnachtskonzert gab es ja trotzdem, und viele bekamen einen Adventskalender. »Geh doch beim Laternenumzug mit!«, verspotteten sie Clarissa, die schon Anfang November davon schwärmte, wie sie sich auf ihre Adventskette und auf den Weihnachtsbaum und die Lebkuchen freue und überhaupt.
Daran erinnerte ich mich, als ich am elften November in einen Umzug reingeriet, einen richtigen Laternenumzug mit Gesang und gerührten Eltern und heulenden Kindern und einer echten Kerze, die ihre Laterne verbrannte, obwohl der besorgte Vater bestimmt gesungen hatte: Brenne auf, mein Licht, aber nur meine liebe Laterne nicht, und einem weißen, wunderschönen Pferd, auf dem ein Mann saß, ein großes Schwert in der Hand und in einem roten Mantel.
Durch Zufall wurde ich in die Nähe gedrängt, der Mann schaute zu mir herunter, das Gesicht geschminkt und ziemlich nervös. Eigentlich sah er ganz nett aus, und das Pferd beäugte mich aufmerksam. Plötzlich blitzte etwas, und er rief mir zu: »Halte sie fest!«
Ich konnte gerade eben die Zügel packen, da explodierte ein Böller im benachbarten Park, und das Pferd tänzelte und wieherte aufgeregt, es riss mich mit sich, schließlich stieg es sogar ein bisschen, und ich klammerte und klammerte mich an den Zügel.
Vielleicht ist das ein Wunder, dass nichts passiert ist, ich meine, keins von dem kleinen Gewuzzel ist zu Schaden gekommen. Ein paar aufgebrachte Eltern fingen an zu schimpfen und sagten, das sei doch absurd, mit einem echten Pferd, und viel zu gefährlich, und wer nur diesen Mann engagiert habe.
Ich stand neben dem großen Kopf, das Pferd schnaubte, ich streichelte die Schnauze, und dann erinnerte ich mich, was Timo, mein Lieblingspony in den Reiterferien früher, gemocht hatte, und streichelte auch seine Ohren, ganz fest, knetete sie ein bisschen, denn jetzt ließ es den Kopf sinken, und dann seufzte es, gar nicht so tief, wie man von einem Pferd vielleicht erwarten würde, eher mit einer hellen Stimme.
»Danke«, hörte ich plötzlich, »danke dir! Meine Güte, das hätte schiefgehen können!«
Ich schaute hoch und sah das Gesicht des Mannes, schon weniger geschminkt, weil er sich mit dem Mantel darübergefahren war. Er schwitzte, aber lächelte immerhin vage, und er war jünger, als er vorhin ausgesehen hatte. »Es ist eine Stute, oder?«, fragte ich, und er nickte. »Du kennst dich aus mit Pferden, nicht wahr?«
Bevor ich den Kopf schütteln konnte, war er abgestiegen.
»Ich hatte Angst, dass sie austickt und ich sie mit dem blöden Schwert in der Hand nicht zügeln kann. Warte«, fügte er hinzu. »Halte sie einen Moment!«
Der Umzug war ohne uns weitergegangen, die meisten Kinder hatten sich jetzt in dem kleinen Park versammelt und sollten singen. Aber sie wollten nicht, und ihre Eltern sangen falsch und zu laut und wedelten mit den Laternen, die Kinder quengelten nach Süßigkeiten und wollten nach Hause, und ich wollte auch nach Hause. Wo sollte ich sonst auch hin. Nur musste ich mich dazu von der Stute verabschieden, die jetzt ganz ruhig und zutraulich bei mir stand, und natürlich musste der Mann erst wiederkommen, der sich mit zwei Polizistinnen beriet. Ich streichelte noch einmal vorsichtig die Nüstern, und als ich in ihr Auge schaute, in dem sich das Blaulicht des Polizeiwagens spiegelte, passierte es. Es war nicht wie ein Blitzschlag oder eine Erleuchtung, es war nicht hell und hatte nichts mit Wissen zu tun, mit Wissen im üblichen Sinn, auch nichts mit irgendeiner plötzlichen Erkenntnis. Es war wie eine Wärme, die sich ausbreitete, wie eine Gewissheit, die von meiner Hand ausging, während sie Nüstern und Stirn der Schimmelstute streichelte, von dem großen schwarzen Auge aus, das mich anblickte.
Einen Moment dachte ich, dass es wegen des Blaulichts war, das mich an meine Mutter erinnerte.
Aber...
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