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In der gegenwärtigen Krise hört man oft die Frage, warum wir überhaupt an der Europäischen Union, gar an dem alten Ziel einer »immer engeren politischen Union« festhalten sollten, wo sich doch das ursprüngliche Motiv, Kriege in Europa unmöglich zu machen, erschöpft habe. Darauf gibt es mehr als eine Antwort. Im Folgenden möchte ich aus der Sicht einer Konstitutionalisierung des Völkerrechts,[47] die mit Kant weit über den status quo hinaus auf einen künftigen kosmopolitischen Rechtszustand vorausweist,[48] ein neues überzeugendes Narrativ entwickeln: Die Europäische Union lässt sich als entscheidender Schritt auf dem Weg zu einer politisch verfassten Weltgesellschaft begreifen.[49] Zwar sind die europafreundlichen Energien auf dem mühsamen Weg zum Lissaboner Vertrag im Streit über solche verfassungspolitischen Fragen zerrieben worden; aber ganz abgesehen von den verfassungsrechtlichen Konsequenzen der nun geplanten europäischen »Wirtschaftsregierung« empfiehlt sich diese Perspektive heute aus zwei weiteren Gründen. Zum einen hat sich die gegenwärtige Debatte auf die unmittelbaren Auswege aus der aktuellen Banken-, Währungs- und Schuldenkrise verengt und dabei die politische Dimension aus den Augen verloren (1); zum anderen versperren falsche politische Begriffe den Blick auf die zivilisierende Kraft der demokratischen Verrechtlichung – und damit auf das Versprechen, das von Anbeginn mit dem europäischen Verfassungsprojekt verbunden war (2).
(1) Die ökonomistische Blickverengung ist umso unverständlicher, als sich die Fachleute in der Diagnose der tieferen Ursache der Krise einig zu sein scheinen: Der Europäischen Union fehlen die Kompetenzen für die notwendige Harmonisierung der in ihrer Wettbewerbsfähigkeit drastisch auseinanderdriftenden nationalen Ökonomien. Gewiss, kurzfristig zieht die aktuelle Krise alle Aufmerksamkeit auf sich.[50] Darüber dürften die Akteure jedoch den zugrundeliegenden und nur auf längere Sicht zu behebenden Konstruktionsfehler einer Währungsunion ohne die erforderlichen politischen Steuerungsfähigkeiten auf europäischer Ebene nicht vergessen. Der »Pakt für Europa« wiederholt einen alten Fehler: Rechtlich unverbindliche Verabredungen im Kreise der Regierungschefs sind entweder wirkungslos oder undemokratisch und müssen daher durch eine demokratisch unbedenkliche Institutionalisierung gemeinsamer Entscheidungen ersetzt werden.[51] Die deutsche Bundesregierung ist zum Beschleuniger einer europaweiten Entsolidarisierung geworden, weil sie zu lange die Augen vor dem einzigen konstruktiven Ausweg verschlossen hat, den sogar die Frankfurter Allgemeine Zeitung inzwischen mit der lakonischen Formel »Mehr Europa« umschreibt. Allen beteiligten Regierungen fehlt bislang der Mut, sie zappeln hilflos in der Zwickmühle zwischen den Imperativen von Großbanken und Ratingagenturen auf der einen, ihrer Furcht vor dem drohenden Legitimationsverlust bei den eigenen frustrierten Bevölkerungen auf der anderen Seite. Der kopflose Inkrementalismus verrät das Fehlen einer weiter ausgreifenden Perspektive.
Seit die Tage des embedded capitalism vorbei sind und die globalisierten Märkte der Politik davoneilen, fällt es allen OECD-Staaten zunehmend schwerer, das wirtschaftliche Wachstum zu stimulieren und gleichzeitig sowohl für eine halbwegs gerechte Einkommensverteilung wie für die soziale Sicherheit der breiten Bevölkerung zu sorgen. Nach der Freigabe der Wechselkurse hatten sie dieses Problem vorübergehend durch die Inkaufnahme von Inflation entschärft; als diese Politik zu hohe soziale Kosten verursachte, haben sie als anderen Ausweg die zunehmende Kreditfinanzierung der öffentlichen Haushalte gewählt. Die statistisch gut belegten Trends der letzten beiden Jahrzehnte zeigen allerdings, dass in den meisten OECD-Ländern soziale Ungleichheit und Statusunsicherheit zugenommen haben, obwohl die Regierungen mit steil anwachsenden Staatsschulden ihren Legitimationsbedarf gedeckt haben. Die seit 2008 andauernde Finanzkrise hat nun auch noch den Mechanismus der Staatsverschuldung blockiert. Und einstweilen ist nicht abzusehen, wie die innenpolitisch ohnehin schwer durchsetzbaren austerity policies auf längere Sicht mit der Aufrechterhaltung eines erträglichen sozialstaatlichen Niveaus vereinbar gemacht werden können. Die Jugendrevolten in Spanien und Großbritannien sind ein Menetekel für die Gefährdung des sozialen Friedens.
Unter diesen Umständen ist das Ungleichgewicht zwischen den Imperativen der Märkte und der Regulationskraft der Politik als die eigentliche Herausforderung erkannt worden. In der Eurozone soll eine vage in Aussicht genommene »Wirtschaftsregierung« dem längst ausgehöhlten Stabilitätspakt neue Kraft verleihen. Jean-Claude Trichet fordert für die Eurozone ein gemeinsames Finanzministerium, ohne allerdings die dann ebenfalls fällige Parlamentarisierung der entsprechenden Finanzpolitik zu erwähnen – oder gar den Umstand zu berücksichtigen, dass die Palette der wettbewerbsrelevanten Politiken weit über die Steuerpolitik hinaus- und mitten ins Budgetrecht der nationalen Parlamente hineinreicht. Immerhin zeigt diese Diskussion, dass die List der ökonomischen (Un-)Vernunft die Frage der europäischen Zukunft zurück auf die politische Agenda gebracht hat. Wolfgang Schäuble, der letzte profilierte »Europäer« im Kabinett Merkel, weiß, dass eine Kompetenzverlagerung von der nationalen auf die europäische Ebene Fragen der demokratischen Legitimation berührt. Aber die Direktwahl eines Präsidenten der Europäischen Union, die er seit Langem ins Spiel bringt, wäre nicht mehr als ein Feigenblatt für die technokratische Selbstermächtigung eines kerneuropäischen Rates, der mit seinen informellen Beschlüssen an den Verträgen vorbeiregierte.
In diesen Vorstellungen eines »Exekutivföderalismus« der besonderen Art[52] spiegelt sich die Scheu der politischen Eliten, das bisher hinter verschlossenen Türen betriebene europäische Projekt auf den hemdsärmeligen Modus eines lärmend argumentierenden Meinungskampfes in der breiten Öffentlichkeit umzupolen. Angesichts des unerhörten Gewichts der Probleme wäre zu erwarten, dass die Politiker endlich – ohne Wenn und Aber – die europäischen Karten auf den Tisch legten und die Bevölkerung offensiv über das Verhältnis von kurzfristigen Kosten und wahrem Nutzen, also über die historische Bedeutung des europäischen Projektes aufklärten. Sie müssten ihre Angst vor demoskopischen Stimmungslagen überwinden und auf die Überzeugungskraft guter Argumente vertrauen. Vor diesem Schritt zucken alle beteiligten Regierungen, zucken einstweilen alle politischen Parteien zurück. Viele biedern sich stattdessen an einen Populismus an, den sie mit der Vernebelung eines komplexen und ungeliebten Themas selbst herangezüchtet haben. Die Politik scheint an der Schwelle von der ökonomischen zur politischen Einigung Europas den Atem anzuhalten und den Kopf einzuziehen. Warum diese Schreckstarre?
Aus einer dem 19. Jahrhundert verhafteten Perspektive drängt sich die bekannte »no demos«-Antwort auf: Es gebe kein europäisches Volk; daher sei eine Politische Union, die ihren Namen verdient, auf Sand gebaut.[53] Dieser Interpretation möchte ich eine bessere entgegensetzen: Die anhaltende politische Fragmentierung in der Welt und in Europa steht im Widerspruch zum systemischen Zusammenwachsen einer multikulturellen Weltgesellschaft und blockiert Fortschritte in der verfassungsrechtlichen Zivilisierung der staatlichen und gesellschaftlichen Gewaltverhältnisse.[54]
(2) Ich möchte zunächst mit einem kursorischen Rückblick auf das prekäre Verhältnis von Recht und Macht daran erinnern, worin die zivilisierende Kraft des demokratisch gesetzten Rechts besteht. Politische Herrschaft hat sich – seit den Anfängen der Staatsgewalt in den frühen Hochkulturen – in Formen des Rechts konstituiert. Die »Verkoppelung« von Recht und Politik ist so alt wie der Staat selbst. Dabei hat das Recht jahrtausendelang eine zwiespältige Rolle gespielt: Es diente einer autoritär ausgeübten Herrschaft als Organisationsmittel und war für die herrschenden Dynastien gleichzeitig eine unverzichtbare Quelle der Legitimation. Während die Rechtsordnung durch die Sanktionsmacht des Staates stabilisiert wurde, zehrte wiederum die politische Herrschaft, um als gerecht akzeptiert zu werden, von der legitimierenden Kraft eines von ihr verwalteten sakralen Rechts. Das Recht und die rechtsprechende Gewalt des Königs bezogen die Aura des Heiligen ursprünglich aus der Verbindung mit mythischen Gewalten, später aus der Berufung auf religiöses Naturrecht. Aber erst nachdem sich das Medium des Rechts im römischen Kaiserreich aus dem Ethos der Gesellschaft ausdifferenziert hatte, konnte es seinen Eigensinn zur Geltung bringen und schließlich, über die rechtliche Kanalisierung der Herrschaftsausübung, eine rationalisierende Wirkung entfalten.[55]
Freilich musste die Staatsgewalt säkularisiert und das Recht durchgängig positiviert werden, bevor die Legitimation der Herrschaft von einer rechtlich institutionalisierten Zustimmung der Herrschaftsunterworfenen abhängig werden konnte. Damit erst konnte jene demokratische Verrechtlichung der Ausübung politischer Herrschaft einsetzen, die in unserem...
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