Kapitel 1
DAS LEBEN AN SICH
Gibt es etwas, das schwerer zu ertragen ist als die Direktheit innerhalb einer Freundschaft? Wahrscheinlich nicht. Gut, wenn diese Freundschaft dann so stark ist, dass beide Seiten damit umgehen können.
»Du siehst grausam aus.« Mit dieser Feststellung über die äußerlich zur Schau getragene Befindlichkeit meiner besten Freundin Tilda trat die Endstufe des Studiums am Objekt »Mann . und die daraus folgenden Probleme« auf die womöglich banalste Art und Weise ein, die ein solches Projekt wohl überhaupt finden konnte. Es fiel einfach unter den Tisch.
In einer düsteren Ecke eines Cafés, in welchem für gewöhnlich nur der ältere Teil der weiblichen Bevölkerung sein Unwesen dahingehend trieb, sich einen wohlsituierten Witwer zu schnappen, um bei den Freundinnen - gleichen Alters - damit prahlen zu können, dass sie den Kuchen nicht selbst bezahlen mussten und bei diversen Sonntagnachmittag-Tanztees nicht zur Damenwahl aus dem Restesortiment der anwesenden Herren auswählen mussten, war dieses Resümee - nämlich unser Scheitern - noch einmal so grausam. Frauen konnten grausam sein. Niemand wusste das besser als ich.
Mit einem Blick durch den Raum und einer kurzen Einschätzung der Anwesenden musste ich feststellen: Das wird dein Ende sein. Genauso wirst du deine Nachmittage auch verbringen. Du wirst dafür leben, die Uhr zu beobachten, um dich dann in Schale zu schmeißen und auf die Pirsch zu gehen. Du wirst irgendwann auf der Jagd nach dem kuchenspendenden männlichen Objekt sein und mit der letzten Kraft deines alten Körpers darauf aus, ihn vor deiner Konkurrenz zu schützen.
Nicht, dass ich nicht attraktiv genug war, mir einen Mann zu angeln, der mich bis an mein Lebensende durchfüttern würde. Nein: So was hatte ich schon mal. Ein Prachtexemplar. Jedenfalls nach Meinung meiner Umgebung. In gewisser Weise war er das auch. Nur nicht in unserer Beziehung, und so gab ich diesem bedauernswerten Geschöpf - er war schließlich mit mir verheiratet, und darum bedauerte ihn seine Umgebung - die Freiheit wieder. Er dankte es mir nicht. Er wollte unbedingt an dem festhalten, was er hatte. Konnte sein Unglück nicht sehen. Wollte es nicht sehen. Aber das nur ganz nebenbei.
Ich gab ihm sein Leben zurück, nicht weil ich eine Affäre hatte oder ihn gar hasste. So egoistisch war ich gar nicht. Ich musste es einfach tun. Um zu überleben. Es ging einfach nicht mehr. Weil ich nicht mehr atmen konnte, weil ich nicht mehr aufrecht gehen konnte und weil es mir unmöglich schien, dieses Bild aufrechtzuerhalten, das andere von mir sehen wollten. Inklusive ihm.
Dass er diese Rückgabe seiner Rechte zum Single zunächst nicht zu schätzen wusste, stand dabei auf einem anderen Blatt. Er würdigte meine Entscheidung nicht. Konnte er nicht, denn ihm ging es gut. Aber ich, ich hatte den Papp - wie man so schön sagt - endgültig auf. Oberkante Unterlippe. Burn-out, Midlife-Crisis, Nervenzusammenbruch. Wie man das auch immer nennen wollte: Es war da. Unbegreiflich, unfassbar und unzerstörbar.
Ich wollte und ich schaffte es nicht mehr, Mutter, Ehefrau, Geliebte und Karrierefrau zu sein. Das, was in den Medien in den letzten Jahren immer mehr als erstrebenswertes Lebensbild für die Frau von heute propagiert wurde: Ich hatte es, und es kotzte mich an, weil es mich umbringen wollte.
Nach Jahren der Depression, in denen ich inmitten von leeren Rotweinflaschen - das volle Stück zu 1,99? - und ausgedrückten Schmerzmittelpackungen zwischen meinem Dasein als gütiges Muttertier, befriedigende Gattin und Angestellte im 9-bis-5-Job plus x Überstunden hin und her schwankte, packte mich mein Selbsterhaltungstrieb. Ich reichte die Scheidung ein, um mich wenigstens von dem Ballast zu befreien, der mir in meiner Freizeit den allerletzten Nerv zu rauben drohte. In einem akuten Anfall von Erstickung suchte ich mir den erstbesten Anwalt, gab ihm den Auftrag, mich so schnell wie möglich von meinem Leben zu befreien, sonst würde ich es tun. An der örtlichen Talsperre. Landschaftlich wunderschön romantisch gelegen und somit für Vorhaben solcher Art äußerst prädestiniert. Diese Talsperre war in unserem Landstrich ein äußerst beliebter Ort für Ehefrauen, um ihrem traurigen Dasein ein Ende zu bereiten. Hoch genug, um garantiert lebensgefährliche Verletzungen davonzutragen. Steil genug, um etwaige Rettungsversuche von vornherein ad absurdum zu führen. Das gute Stück, das im Zweiten Weltkrieg Angriffen der Briten schutzlos ausgeliefert war und durch diverse Bombeneinschläge bereits viele Tote auf seinem Konto zu verzeichnen hatte, konnte beinahe jährlich eine weitere Kerbe in seine Mauer schlagen lassen.
Das war aber nicht das, was ich wollte. Ich wollte leben. Also verfrachtete ich Kinder, Hunde und Haus in die Scheidungsmasse und war bereit, meinen Beitrag zur Düsseldorfer Tabelle beizutragen. Kostspielig, aber ich wäre frei, und das so schnell wie möglich. Diese Variante - nämlich leben zu wollen - nahm mir obendrein die Möglichkeit, meinen Kindern das Leben zur Hölle zu machen. Denn ich war jetzt nicht mehr nur Mutter. Nein.
Jetzt war nicht mehr ich es, die ständig und überall auf alles und jeden Rücksicht nehmen musste, nur damit der familiäre Frieden in einigermaßen gelenkten Bahnen lief. Nein, nun saß ich auf der stillen Treppe und konnte die genauso stillen Augenblicke der ausgleichenden Gerechtigkeit genießen, während mein zukünftiger Ex-Gatte nun der Bösewicht schlechthin war, weil er sich mit der Erziehung unserer »Pubertiere« rumschlagen musste und diese- wie jene Art es so gerne tat - gegen die Erziehung aufbegehrten.
Ich starb zwischendurch seelisch in meiner Einsamkeit. Ich litt wie ein Hund unter meiner Entscheidung, einen Schlussstrich gezogen zu haben. Aber ich atmete wieder. Frei und ungezwungen. Ich benötigte keine Schmerzmittel mehr, weil mir der Schädel zu platzen drohte. Meine Affinität zum Rotwein behielt ich bei, jedoch entwickelte sich diese zum absoluten Genuss. Ich war wieder ich. Ich war da.
Um es vorwegzusagen: Ich war nie dieses Muttertier, das vor Güte, Stolz und Hingabe zerfloss, wenn eines seiner Sprösslinge quer über den Tisch spie. Ich war nie das liebende Mutterherz, das sich wie eine Löwin zwischen die Kindergärtnerin und eine andere Mutter warf, nur damit der Sohn die Hauptrolle als Oberzwerg bekam und eben nicht den undankbaren Part als lebende Pflanze - Stellplatz Vierter von links -, den er sich auch noch undankenswerterweise mit seiner größeren Schwester teilen musste, die dann im Übereifer der schauspielerischen Darstellung Regieanweisungen in die Richtung des jüngeren Bruders schickte, die einen Rainer Maria Fassbinder in ihrer Effektivität vor Neid hätten erblassen lassen. Dass dieses Kind seine Regieanweisungen auch im realen Leben lautstark durchzusetzen wusste, war für die Umwelt zu diesem Zeitpunkt extrem niedlich. Aber auch nur für diese.
Dass die Mutter dieser Ausgeburt an Theatralik diesen einen speziellen genetischen Fehler nicht auf sich nahm und bei Rückfragen, woher das Kind diese Charaktereigenschaft wohl haben möge, diese stets mit einem Schielen in Richtung des männlichen Teils der Erziehungsgewalt beantwortete, wurde für gewöhnlich auf der charakterlichen Soll-Seite des Muttertiers vermerkt.
Jedoch ist und war - wie ich auf das stärkste betonen möchte - der männliche Teil der Erziehung der lebende Beweis für den real existierenden Pazifismus. Also musste diese Fehlbildung eine Generation übersprungen haben. Die Genetik ist und bleibt den Menschen auf ewig ein Rätsel. Dass ich dabei mal wieder nicht gut wegkam, war mir bewusst, und ich konnte damit umgehen. Denn als Mutter hat man solche Negativpunkte im Genmaterial seiner Sprösslinge gefälligst auf sich zu nehmen. Etwas, das mir meistens widerstrebte. Somit war dieser Sachverhalt auch nicht unbedingt geeignet, mich als gute Mutter hinzustellen. Im Sammeln von Negativpunkten war ich schon immer spitze. Im Allgemeinen und ganz Speziellen musste ich mich mit dem Ruf einer Rabenmutter herumschlagen. Eine widerliche Ausgeburt an verfehlter Fortpflanzung. Ein Hass-Objekt für jede Profimutter, die ihren Lebenssinn darin sah, ihre Brut mit homöopathischen Kügelchen beim Zahnen zu quälen, während ich zum schnell helfenden Zäpfchen griff. Für all diese Kampfmütter, deren einzige Chance, soziale Kontakte zu knüpfen, die Krabbelgruppe war und die es verstanden, mir - die ich nicht stolz auf ihr Kind war, wenn es Möhrenscheiße durch den Strampler schickte - ein schlechtes Gewissen einzureden. Für alle hormongesteuerten Mama-Partisanen, die nicht von Akne gepeinigt waren, wenn sie das Kinderschwimmbecken verließen - das eigentlich für inkontinente Bewohner eines Seniorenheims vorgesehen war - oder mit feuerroten Augen, Juckreiz und einem - aufgrund eines gnadenlosen Einsatzes von Chlor - keuchenden und asthmatischen Kleinkind, war ich ein rotes Tuch.
Ich gehörte nicht zu denen, denen man die Mutterschaft nach einer Zwangsbeendigung ihrer beruflichen Karriere auf hundert Meter Entfernung ansah. Meine Kleidung war zwar praktisch, von angesäuerter Milch durchaus befreibar, aber auch chic und modern. Und vor allem war meine Kleidung frei von infantilen Applikationen, die mich als Muttertier dazu verdonnerten, im Partnerlook mit meinen Kindern zu gehen. In keiner Phase meines Lebens habe ich jemals wieder so viele Teddybären und Blümchenapplikationen auf Sweatshirts und Jeanshosen gesehen wie in der Zeit, in der meine Kinder klein waren. Auch trug ich niemals die Insignien einer Mittdreißigerin, die sie bei jedem Arztbesuch als depressives, ehemalig beruflich erfolgreiches, halb-gebildetes Weibchen der Mittelklasse auswies....