Schweitzer Fachinformationen
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Am Bahnhof in Neustadt an der Aisch gab der Ankömmling seinen Koffer und den Halbzentnersack am Postschalter auf, nun hatte er die Hände und den Rücken frei. Er schnaufte tief ein und sah sich mit hungrigen Augen um. Die im Mittagslicht schimmernden Gleise hatten den Hutsberg mit seiner brandroten Tonerde aufgerissen wie ein Stück rohes Fleisch. Als er hinüberschaute zum Eichelberg, zum Schnappenstein, zu den Herrenbergen und zur Stübacher Steige, da erkannte er die Pforte zu seinem Aischgrund, der von hier aus breiter wurde, mit mehr Wald, mit leichteren Ackerböden. Die Häuser von Neustadt lagen vor ihm hingestreut in der Flußsenke wie Plätzchen in einer grasgrünen Porzellanschale. Seine Augen suchten die Stadtkirche, das Rathaus, das alte Schloß und die Stadttore. Fast kam es ihm vor, als könnte er die Rufe der Gerber und Wollweber, die Schläge der Zeugmacher und Nagelschmiede, das Geklapper der Pferdehufe und das Bellen der Hunde von drunten heraufhören in der frischen, klaren Herbstluft.
Der Horizont ganz weit unten bei Uehlfeld und Höchstadt flimmerte, als würden dort Schwärme von Dunstfischen durch die Lüfte fliegen. Alles wirkte so farbenfroh und nah, so greifbar, so verheißungsvoll. Wegmann spürte keine Müdigkeit mehr, nur ein elektrisches Pulsieren im Herzen, das ausströmte bis in Bauch und Haut. Ihm war es, als müßte er Türen aufreißen, Fenster öffnen, um einzutauchen ins Freie. Am liebsten hätte er den Wiesengrund mit ausgespannten Armen durchlaufen, hätte die in gewundenen Schleifen dahinschleichende Aisch überholen, sie antreiben und mit hineingeschleuderten Kieselsteinen weiterscheuchen mögen, daß die Karpfen, Barsche und Waller nur so auseinanderschießen würden. Von Herzen gern wäre er hinuntergerannt, hätte atemlos und mit stechenden Seiten verschnauft an einer schiefen Weide am Fluß, so sehr freute er sich mit einem Mal darauf, wieder heimzukehren in diesen so lieblich vor ihm liegenden Landstrich. Fünf Stunden Fußmarsch lagen noch zwischen ihm und seinem Kindheitsdorf. Nur noch fünf Stunden, bis er alle wiedersehen sollte, nach denen er sich jetzt so sehnte! Die Mutter, den Onkel, die Schwester. Nach den Abertausenden von Meilen in seinen Knochen und in seinem Kopf. Er setzte sich seinen hellen Hut wieder auf und machte sich auf den Weg, die staubige Landstraße den Aischgrund hinunter Richtung Dachsbach.
Durch die Bahnhofsstraße und durch das Windsheimer Tor gelangte er in die Stadt. Dort schaute er auf die gediegenen Geschäftshäuser, die gaffenden Bauern und Hausfrauen, die neugierigen Händler, Fuhrleute und Dienstboten auf der Straße, die plärrenden Mütter und Kinder vorm Diespecker Tor. Der Septembertag hatte noch einmal einen sommerblauen Himmel aufgespannt und überzog die Äcker und Wälder mit einem leuchtenden Schimmer. Die Farben von Reife und Ernte. Das satte Braun der Ackerböden, das Honiggelb und Weinrot im Laubwerk, das Feldgrau um die Krautbeete und Stauden, die fließenden Grüntöne der Wiesen und Kleefelder, der Rübenblätter und Hopfenreben. Versonnen im bunten Gewande, so hält der Weinmond seine Feier. Dieser Satz aus einem alten Hausbuch fiel Wegmann wieder ein.
Das Licht der späten Sonne spiegelte sich in den Scherben, die von einer Vogelscheuche herabhingen. Sonnenblumen streckten ihre strahlenden Gesichter zum Himmel. Als wären sie mit Schmalz eingerieben, so speckig glänzten die Erdschollen in den frisch gepflügten Feldern, wie Wellen im Ackermeer. Seine Sinne wollten alles sehen und aufsaugen, alles wahrnehmen und wertschätzen. So lange hatte sich Wegmann die Heimat im Geiste vorgestellt und ausgemalt - und nun sprang sie ihm beim Laufen und Schauen in Hülle und Fülle in die Augen, daß sie naß wurden und brannten.
In einem Wirtshaus in Diespeck hielt der Wanderer kurze Einkehr zum Vespern und Durstlöschen. Eine Brotzeit konnte man ihm servieren, Schwarzbrot und Preßsack, dazu eine geräucherte Bratwurst mit Gurken und Kren. Die drei Tage ohne richtigen Schlaf spürte er nun im Kreuz und in den Knochen, eine steinschwere Müdigkeit machte sich in ihm breit. Der Schankknecht musterte ihn mit unverhohlenem Argwohn. Ihm schien dieser Fremde im schlichten Werktagsanzug ein komischer Vogel zu sein, vielleicht ein Handeltreiber oder ein Stadtkrämer, aber solche redeten viel mehr. Der hier jedoch schaute nur als Kiebitz den vier kartelnden Zechkumpanen beim Schafkopfen zu, genoß schmunzelnd die derben Sprüche der Fuhrleute und blieb zugeknöpft und kurz angebunden über seinem Krug Bier.
»Trumpf! Hosen runter und raus mit deinem schlamperten Wenz!«
»An Trumpf kriegst, aber ohne die Schmier verreckst!«
»Raus mit der Hur aus'm Pfarrhof!«
»Wenns saudumm läfft, dann bricht dir die blanke Sau das Kreuz!«
»Ein Scheißblatt, von jedem Kaff ein krummer Hund.«
»Hauptsach am End ein Aug mehr, dann paßt der Arsch auf'n Eimer!«
Wie lange hatte er solche Brocken nicht mehr vernommen! Der Heimkehrer mußte an seinen Vater denken, der auch so herzhaft daherreden konnte in der Mundart dieses Landstrichs, in der jedes Gewächs seinen ganz besonderen Namen besaß, wo sich hinter dem wüstesten Spruch eine Lebensweisheit verbergen konnte und wo jedes Wetterzeichen Anlaß bot für ein bedeutungsvolles Sprichwort. Er spürte wieder den alten Schrecken im Leibe, als der Vater damals in aller Früh wachsgelb, kalt und starr im Bett gelegen war und ihn zurückgelassen hatte, mutterseelenallein, angewurzelt und herausgerissen zugleich, als neunjährigen Bub! So alt wie die Kinder dort drüben, die Mädchen mit den flachsblonden Zöpfen, die um den Hohlkreisel im Kreidefeld hüpften, die Jungen, die mit Steinschleudern auf Stare und Spatzen im strotzvoll hängenden Birnbaum schossen. Ach, diese Jahre als Lauser und Streuner! Wie oft hatte er sich nach der Hand des Vaters gesehnt, die einen halten konnte, anspornen, aufmuntern, mitreißen! Den Schmerz darüber, daß ihm dieser Vater über Nacht geraubt worden war, spürte er immer noch als Stachel in seinem Innern.
Er leerte seinen Bierkrug, spritzte sich am Brunnentrog Wasser über Gesicht und Hände und machte sich wieder auf den Weg. Vor dem Dorf besah er sich den schweren, rotbraunen Boden der Rübenäcker, die hellkrustigen Flurstücke oben am Buckel, die Felder mit Tabakstöcken und Krautköpfen, mit Pfefferminz und Meerrettich. Bauern in den Hopfengärten waren dabei, mit Messern und Haken an den armstarken Fichtenstangen die würzgrünen Reben und Ranken abzuschneiden, daß sie rauschend zur Erde sanken. Auf der linken Seite war eine schnatternde Menschenherde beim Rausgraben und Einsammeln von Kartoffeln zugange, die bodenfeuchten Früchte glänzten in der Sonne. Die Bäuerin klaubte die schönsten Klößerdäpfel flott vorne weg, und hinter ihr dann, Jahr auf Jahr abgestuft wie die Orgelpfeifen, hantierte ein halbes Dutzend barfüßige Kinder, die die mittleren und kleinen Erdäpfel in Flechtkörben zusammensuchten für die Keller und Futtertröge. Die rupfengroben Säcke, die Haufen mit Kartoffelkraut, der aufgerissene Ackerboden mit dem staubigen Geruch und den hellen Früchten, die sich erst so kühl anfühlten in der Hand und dann doch die Wärme annahmen, so klobig und rund, so fest und weich zugleich: Erinnerungen an die Kartoffeltage der Kindheit kamen Wegmann in den Sinn, das Gebuckel und Gekrieche, die zerfurchten Hände am Abend, wie rissig und aufgesprungen sie sich anfühlten, so trocken und spröde wie Werg waren sie. Der würzige Rauchgeschmack der heiß dampfenden Erdäpfel aus dem knackenden Krautfeuer, die sie mit Gabeln oder Stecken herausholten, stieg ihm wieder in die Nase. Wie schön das war, gemeinsam zu arbeiten und miteinander Ernte, Ende und Ertrag zu feiern!
Der Altweibersommer schien den Heimkehrer warmherzig zu begrüßen. Die Obstbäume am Rand der Landstraße waren behangen mit rauhschaligen Eierbirnen, weichen Zwetschgen und gefleckten Mostäpfeln, deren hartes, säuerliches Fleisch einem beim Reinbeißen eine Gänsehaut über den Leib jagte. Von ferne heulte eine Holzschneidesäge an Wegmanns Ohr. Auf einem Stupfelacker dampften etliche Haufen mit noch warmem Stallmist, der dort von zwei hemdsärmeligen Männern mühevoll abgeladen und mit Gabeln ausgebreitet wurde. Kreischend hüpften und flatterten Vögel um die braunen Batzen. Die Leichtigkeit ihrer Bewegungen ließ den Heimkehrer anhalten und kurz verschnaufen, damit die Müdigkeit in ihm etwas verfliegen konnte.
Oben am Ziegenhöfer Berg schaute er einem Bauern beim Ackern zu, blickte beim Einwenden in das mißtrauische Gesicht des Landmanns, sah seine furchige, schweißglänzende Haut, die gebeugte Gestalt hinter dem Wendepflug und hinter den Ochsen, die sich schnaubend abplagten unter dem drückenden Stirnblatt. Wegmann sah alte Leute auf den Feldern beim Steinklauben und junge Frauen und Mädchen, die mit grobleinigen Grastüchern auf dem Rücken Quecken, Disteln und Schmellen aus dem Boden rupften. Ein Mann mit einer Schürze aus blauem Tuch säte Korn, ein brav trottender Gaul zog eine Saategge hinter sich her über einen Acker. Kinder hüteten Gänse, trieben mit Ruten Kühe aus Krautbeeten hinaus und riefen den Spielkameraden Spottverse und Schimpfworte zu beim Verstecken und Fangen. Diese engen, kleinen Verhältnisse hier! Kein Vergleich zur Weite und Größe in Amerika. Warum nur hing sein Herz mit solcher Heftigkeit an diesem Erdflecken?
Wegmanns Augen folgten den Krümmungen der Aisch, die sich gemächlich hinunterschlängelte in den von Heuböcken bestückten, von Kopfweiden, Hopfengärten und Waldsäumen eingefaßten Wiesengrund. Am Dorfrand von Gerhardshofen leuchtete ihm Streuobst entgegen, ockergelbe Birnen und...
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