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Trautwein hatte geglaubt, das Exil zu kennen. Das war ein Irrtum. [.] Er begriff, dass er bisher immer nur Einzelheiten gesehen hatte, ein Nacheinander, ein Nebeneinander. Jetzt sah er in Einem die Größe und Erbärmlichkeit des Exils, seine Weite und Enge. Keine Schilderung, keine Erfahrung, kein Erlebnis vermochte diese Ganzheit des Exils, seine innere Wahrheit zu offenbaren; nur die Kunst.
Lion Feuchtwanger, Exil, 19401
In meinem vorigen Buch Forbidden Music: The Jewish Composers Banned by the Nazis, 2013 bei Yale University Press erschienen, befasste ich mich hauptsächlich mit musikalischen Entwicklungen in Deutschland und Österreich, an denen jüdische Komponisten nicht nur beteiligt waren, sondern in denen sie eine entscheidende Rolle spielten. Das Nachwort von Forbidden Music war ein Plädoyer für einen Ort, an dem die musikalischen Vermächtnisse derer, die ins Exil gezwungen wurden, geborgen, restauriert und letztlich dem Publikum zurückgegeben werden konnten, dem sie genommen worden waren. Mit der Gründung des Exilarte Forschungszentrums und Archivs für Verfolgte Musik an der Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien (der von Antonio Salieri im Jahr 1817 gegründeten Akademie) konnten wir einen solchen Aufbewahrungsort für die musikalischen Nachlässe von exilierten Musikern, Sängern, Interpreten, im Musikgeschäft tätigen Personen und vor allem Komponisten schaffen. Mit jedem Neuzugang kristallisierte sich eine neue Exilgeschichte heraus, häufig waren das Geschichten, die übersehen oder von früheren Experten auch einfach nicht berücksichtigt worden waren. Da so viele der wichtigsten musikalischen Nachlässe bereits in anderen Archiven gelandet waren, beschlossen wir, jeden musikalischen Nachlass aufzunehmen, ohne Ansehen der Gattung und des Profils der einzelnen Personen. Wir hatten das Glück, noch viele wichtige Namen zu finden, von denen man angenommen hätte, dass sie bereits in nationalen Bibliotheken oder zumindest in wichtigen Universitätssammlungen untergebracht sind: Hans Ga´l, Wilhelm Grosz, Walter Susskind, Georg Tintner, ja sogar noch Objekte aus dem Nachlass von Erich Korngold. Sie alle sind als Komponisten oder Dirigenten auf Tonträgern zahlreich vertreten. Doch gerade die Nachlässe von weniger prominenten Personen offenbarten häufig die wahren Kosten von Verlust und Exil. So wie nur jene Wenigen Hitler entkommen konnten, die Glück und Beziehungen, meist auch Verwandte und materielle Mittel im Ausland hatten, so schafften es auch nur einige Auserwählte, in ihren neuen Heimatländern erfolgreich Karriere zu machen. Wir meinen, ihre Geschichten zu kennen, weil wir für all das dankbar sind, was sie zum kulturellen Leben der Länder und Gemeinschaften beitrugen, die sie aufnahmen. Was häufig nicht berücksichtigt wurde, ist die Frage, welche Veränderungen notwendig waren, damit sie beruflich überleben konnten. Ein großer Teil dieser Geschichte ist die Geschichte der Musik in der Nachkriegszeit, das vorliegende Buch kann daher als eine Art Fortsetzung von Forbidden Music angesehen werden.
>Exil< ist ein bekannter Begriff, der zumeist für Schriftsteller und bildende Künstler angewandt wird. In jüngerer Zeit wurde er auch mit Komponisten und Musikern in Verbindung gebracht. Im Deutschen deckt der Begriff >Exilmusik< sämtliche Musik und alle Musiker ab, die von den Nationalsozialisten verfolgt und mit Zensur belegt wurden. Eigentlich ist der Begriff ungenau, denn es wurden damit auch Komponisten bezeichnet, die nie im Exil waren, so etwa Franz Schreker oder gar Felix Mendelssohn; er kann auch nicht für Komponisten oder Musiker verwendet werden, die in Konzentrationslagern der Nationalsozialisten ermordet wurden, denn auch sie wurden ja nicht ins Exil geschickt, sondern deportiert und interniert. Exil ist ein Begriff, der es ermöglicht, ein breit gefächertes Genre zu klassifizieren, ohne das NS-Wort >entartet< zu benutzen. Paradoxerweise stammt der Begriff >entartet< von dem zionistischen Arzt und Philosophen Max Nordau; er publizierte im Jahr 1892 einen Text mit dem Titel Entartung. Was die Nationalsozialisten verbannten und verfolgten, entzieht sich einer strengen Klassifizierung, denn es deckte alles ab von populärer Musik, Kabarett und Operette bis hin zu Kunstmusik, zur Avantgarde, zu Konzertwerken und Opern. Indem die nationalsozialistische Terminologie vermieden und stattdessen auf den euphemistischen Begriff >Exilmusik< ausgewichen wurde, verbannte man die Musik des Exils im engeren Sinn in ein immerwährendes Niemandsland. Sie wurde als von Exilanten komponierte Musik definiert, aber nur selten als >Exilmusik< analysiert.
Wenn es um Musik und Exil geht, dann kommt einem zumeist das 19. Jahrhundert in den Sinn; man denke nur an Chopin und Wagner. Ihr Identitätsgefühl war an eine bestimmte Vorstellung nationaler Selbstbestimmung gebunden. Die Idee, durch Musik in die Heimat zurückzukehren, war auch damals nicht neu. Im 19. Jahrhundert wurde jedoch die Vorstellung von >Heimat< häufig durch >Heimatland< ersetzt. Dieser Unterschied wird bei jeder Aufführung einer Polonaise oder Mazurka von Chopin ohrenfällig. Das ist Musik, die eher den Willen zum Widerstand als einen Verlust zum Ausdruck bringt. Doch der Wunsch nach nationaler Selbstbestimmung im 19. Jahrhundert, definiert durch homogene Gemeinschaften, die in Nationalstaaten zusammengefasst waren, ist etwas anderes als die Erfahrungen der Komponisten und Musiker, die gezwungen wurden, aus dem Europa der Nationalsozialisten zu fliehen. Die subversiven Nationalisten des 19. Jahrhunderts, die im Ausland lebten und sich gegen supranationale ausländische Herrscher zur Wehr setzten, waren mit den Musikern und Komponisten in der Mitte des 20. Jahrhunderts nicht vergleichbar, die unterdrückt wurden durch das, was sich für die Opfer als religiöse Verfolgung darstellte, was jedoch die Unterdrücker als »rassische Säuberung« verstanden.
Ein politischer Flüchtling hat ein Bewusstsein von seiner Identität und seinem Heimatland, das sich von demjenigen eines jüdischen Komponisten oder Musikers unterscheidet, dem vermittelt wird, dass er nicht mehr zum nationalen Narrativ gehört - ja, dass er überhaupt nie dazugehört hat. Dieser verlogenen Vorstellung zu widersprechen und sich hartnäckig zu weigern, die eigene Heimat zu verlassen, käme einem Selbstmord gleich. Hieran erkennt man einen entscheidenden Unterschied: Der politische Exilant geht aus Gewissensgründen; der verfolgte Jude flieht vor dem Völkermord der »ethnischen Säuberung«. Der Schmerz und die Empörung darüber, dass man nicht zu den Gemeinschaften gehört, in denen man seit Generationen gelebt hat, ja dass man nie zu ihnen gehört hat, übersetzen sich häufig in ein umso stärker ausgeprägtes Bewusstsein der eigenen Rechte. Der Zorn über und die Aufarbeitung von Ungerechtigkeit fanden häufig ihren Niederschlag in Werken, die irgendwo weit weg im Ausland in der Schublade landeten. Diese Musik entspringt einem tiefen Bedürfnis, das eigene Geburtsrecht zum Ausdruck zu bringen, verbunden mit der Notwendigkeit, sich in neuen, komplexen Situationen zurechtzufinden, sowie der Verunsicherung durch die Konfrontation mit seltsamen neuen Sprachen. Es geht hier nicht nur um Musik, die von Exilanten komponiert wurde, sondern tatsächlich um Musik des Exils.
Als ich im kalifornischen San Diego den in Wien geborenen Komponisten Robert Fürstenthal2 traf, stieß ich zum ersten Mal auf eine bislang unaufgelöste Diskrepanz zwischen der Musik, die von erfolgreichen Komponisten in ihren ehemaligen Heimatländern geschrieben wurde, und den ästhetischen und stilistischen Veränderungen, die in den Ländern erforderlich wurden, in denen sie Zuflucht fanden. Fürstenthal war vor seiner Ankunft in den USA im Jahr 1939 kein Komponist gewesen. Eine beiläufige Bemerkung, die er im Hinblick auf sein Bedürfnis machte, sich in dieser Situation einer drohenden Vertreibung eine kulturelle Identität zu bewahren, war aufschlussreich. Zum ersten Mal wurde ich während meiner Tätigkeit als Musikkurator am Jüdischen Museum in Wien auf ihn aufmerksam, als ich Manuskriptkopien von der Hugo-Wolf-Gesellschaft in Empfang nahm. Deren Vertreter berichtete mir von einem amerikanischen Komponisten, der ursprünglich aus Wien stammte und ein so großer Bewunderer von Hugo Wolf war, dass seine Kompositionen - unter anderem Streichquartette, Kammermusik und Lieder - geradezu wie eine Erweiterung der Musik von Hugo Wolf selbst wirkten. Ich nahm an, es müsse sich um einen Komponisten handeln, der um 1870 oder vielleicht noch um 1880 geboren wurde, und war überrascht, als sich herausstellte, dass von Robert Fürstenthal die Rede war, einem 1920 in Wien geborenen, in San Diego lebenden Buchprüfer. Mehrere Jahre später, nachdem ich das Museum verlassen und mit dem Professor für Musiktheorie Gerold Gruber das Exilarte-Zentrum gegründet hatte, bot sich mir die Gelegenheit, Robert Fürstenthal und seine aus Wien stammende Ehefrau in San Diego zu treffen. Dort sagte er etwas, das meine Perspektive ganz unerwartet erhellte und möglicherweise für die Entstehung dieses Buches verantwortlich ist. Als er gefragt wurde, warum er in den zurückliegenden Jahrzehnten weiterhin in der Weise von Hugo Wolf, Gustav Mahler, Richard Strauss und Joseph Marx komponiert hatte, antwortete er: »Wenn ich komponiere, bin ich wieder in Wien.« Diese Vorstellung einer >Rückkehr< aus neuen Heimatländern durch die Tätigkeit des Komponierens war der Funke, der im Lauf der Zeit eine ganze Reihe...
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