Schweitzer Fachinformationen
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Der George and Dragon war eine vergammelte Kneipe unweit des Londoner Bahnhofs Liverpool Street. Hier lernte Schult an seinem sechzigsten Geburtstag Ely kennen. Zuerst dachte er, der Junge sei einer der vielen im George verkehrenden Stricher, die unter dem meist älteren Publikum nach Kunden suchten. Gracy Bennett, Pub-Landlady und Gelegenheitspianistin, duldete die Prostituierten, because they're part of the fabric, darling, aber auch, weil die Jungs ihr ein reges Thekengeschäft bescherten, da sie die Gäste bezirzten und zum Dableiben anhielten. Auch Schult kannte eine ganze Reihe der Stricher, ja kannte sie schon in der zweiten und dritten Generation, da ihre professionelle Laufzeit doch relativ beschränkt war, kannte sie als Geoffrey from Cambridge. Geoffrey, Geoff, war heiter und großzügig, und viele der Jungs begleiteten ihn, nachdem Gracy kurz vor elf die Glocke zur Sperrstunde geläutet hatte, zurück in seine kleine, in der gänzlich heruntergekommenen, aber von Schult geliebten Gegend am Arnold Circus gelegenen und mehr oder weniger nur aus einem Zimmer mit angelegenem Bad bestehenden Wohnung. Schult hatte diese Unterkunft Mitte der Achtziger von einem Zyprioten gemietet, als Fluchtpunkt aus dem ihm mehr und mehr wie ein Gefängnis erscheinenden Cambridge. Manchmal, wenn er nun nachts in Begleitung nach Hause kam, begegneten ihm auf der Treppe seine Nachbarn aus Bangladesch und grüßten, verwirrt über dieses Ein- und Ausgehen, flüchtig. Nur Mrs. Thakurani vom dritten Stock nickte wohl wissend.
Über die Jahre stiegen die Preise für die sexuellen Tête-à-Têtes von zehn auf mehr als hundert Pfund, aber Schult, der in der gleichen Zeitspanne mehrere Male am Downing College bei der Beförderung zugunsten jüngerer und neuerer Kollegen übergangen worden war, bezahlte trotz seines stagnierenden Gehalts gern die höheren Tarife. Er hätte auch andere Männer, ohne zu zahlen, mit nach Hause nehmen können, doch bevorzugte Schult die transaktionale Liebe, bei der klare Verhältnisse und Grenzen herrschten, zumal bei diesen Begegnungen die Stunden von vornherein genau vereinbart und abgezählt wurden, wodurch immer auch das Ende der gemeinsam zu verbringenden Zeit in Sicht blieb. Diese Unmissverständlichkeit kam Schult entgegen, der nach dem vollzogenen Akt, wenn jedes Verlangen abgefallen war von ihm, keine weitere Minute verbringen wollte mit den Jungen, die ihrerseits ebenso eilig Jeans und T-Shirts vom Boden aufsammelten, das bereitgelegte Geld einstrichen und sowohl die Wohnung als auch Schults Leben auf immer verließen. Niemand stellte Ansprüche, niemand quälte ihn mit Forderungen nach Zuneigung, niemand verlangte Liebeserklärungen. Auch tat keiner beim nächsten Treffen im George, als kenne man sich, es sei denn, Schult gab ein diesbezüglich eindeutiges Zeichen. Und vor allem: Niemand kam nach Cambridge. Diese Trennung von Liebe und Leben war für Schult von allergrößter Bedeutung. Nicht einmal Liz und Tom erzählte er, was er wirklich in London trieb, und wie in einer stillen Abmachung taten alle so, als fahre Schult aus Studienzwecken in die Hauptstadt.
Von Natur aus fiel es Schult nicht schwer, gewisse Themen völlig aus seiner Unterhaltung auszuklammern, vielmehr war er ein derartiges selektives Schweigen von klein auf gewohnt gewesen. Früher, in Hamburg, war kein Wort gefallen über den Krieg und das Feuer. Nun, in England, sagte Schult nichts über die Stricher oder im Großen und Ganzen über seine Homosexualität. Aus Diskretion, wie er sich einredete. Ständig war er auf der Hut, korrigierte seine Gesten, seine Stimmlage, brachte den Gastgeberinnen der Stehpartys geschmackvolle, aber nicht zu aparte Blumensträuße mit, vermied bei diesen Angelegenheiten Gespräche über Kunst und Literatur, um etwa Kommentaren über Sargent oder Burne-Jones aus dem Weg zu gehen, die Boopys Chemiker- und Juristenfreunde als sissy painters abtaten. Schult vermied also alles, was Anlass hätte geben können zu Klatsch und Spekulation, weshalb ihm denn auch seine stagnierende Karriere unerklärlich blieb. Nachdem er es Mitte der Siebziger bis zum Senior Lecturer geschafft hatte, schien es mit einem Mal egal, welche Artikel er in welchen Fachzeitschriften veröffentlichte, was anderen Kollegen den Weg ebnete zu einer Professorenstelle. Schults Forschung dagegen schien niemand mehr zur Kenntnis nehmen zu wollen. Bei Neuberufungen war er wie aus Luft. So flagrant übergangen wurde er zum ersten Mal, als Boopy schließlich in Pension ging, sich zurückzog in sein heimisches Bath und hier nach einer kurzen, aber unbesiegbaren Darmkrebskrankheit viel zu früh verstarb. Ein völlig neuer, grundlos scharfzüngiger Mann namens Ermin van Gelder von der St.-Andrews-Universität in Schottland wurde nur zwei Wochen nach Boopys Abtritt und ohne Schults Wissen auf den Posten berufen. Das zweite Mal, als van Gelder zehn Monate später bei einem Autounfall ums Leben kam und man schnellstens, denn die Abschlussexamen standen bevor, einen Ersatz finden musste. Schult schien es angesichts der Notlage logisch, dass er die Leitung der Fakultät übernehmen würde, oder ansonsten Tom Accordeon, doch stattdessen setzte man den ihnen beiden an Jahren und Seniorität unterlegenen Jonas Wilks auf den Posten, einen, wie Boopy sich zu Lebzeiten ausgedrückt hatte, plagiatorischen Napoleon. Noch monatelang hinterher grüßte Wilks, wenn er Schult auf dem Korridor begegnete, diesen mit einem unerträglichen Lächeln, in dem sich Triumph und ein paternalistisches Verständnis für Schults Scheitern mischten. Und weil ihm keine bessere Erklärung einfiel, machte Schult seine Arbeit, seine unzureichende Forschung verantwortlich für den maroden Zustand seiner Karriere. In all den Jahren seit seinem Eintritt ins Downing College hatte er sich ausschließlich sogenannten sicheren Themen gewidmet wie den Genfer Konventionen oder der Weltwirtschaftskrise. Nach Wilks' hanebüchener Berufung aber kam ihm seine alte Studentin Ursula Billstock, mittlerweile selbst Professorin am University College London, wieder in den Sinn mit ihrer Frage: what about the rats? Schult hatte sich nach seinem ersten Versuch mit den Bomben nie wieder an die Ratten, nie wieder an Hamburg und ans Feuer gewagt, obwohl er wusste, dass dies von Anfang an sein Thema hätte sein sollen, ein Thema, vor dem er aber immer wieder und nicht nur Professor Blows wegen, sondern auch aus einem anderen, ihm selbst nicht ganz ersichtlichen Grund zurückgeschreckt war.
Vielleicht ist es jetzt Zeit, mein Buch zu schreiben, sagte er zu Liz in der Wunderkammer unterm Dach.
Dein Buch?
Mein Buch über Hamburg.
Ah, das Buch meinst du.
Du weißt von meinem Buch?
Ich habe zwanzig Jahre lang darauf gewartet.
Aber ich habe bis heute selbst nichts davon gewusst.
Natürlich nicht, aber Tom und ich wussten von Anfang an, dass du ein solches Buch schreiben musst.
Vielleicht, dachte Schult hinterher oft und auch jetzt wieder im Krankenhaus von Whitechapel, war es damals gewesen, dass er mit Cambridge gebrochen und sich stattdessen endgültig London zugewandt hatte. Vielleicht war es Wilks' ungerechte Berufung und die Wiederkehr der Ratten gewesen, die ihn veranlasst hatten, die Wohnung am Arnold Circus zu mieten, komplett mit Spiralheizsonde im umfunktionierten Kamin, zurückgelassenen Möbeln, braunem Teppich und Wasserschaden auf den Tapeten. Von Anfang an, also seit seinem ersten Besuch in London 1964, hatte irgend etwas Schult in diese Gegend gezogen, nahe der Brick Lane und der Commercial Road. Die gedrungenen Gassen des East End, die mit einem Mal in einer Backsteinmauer enden konnten, die heruntergekommenen High Streets, die sich von hier aus nach Osten streckten, weit über die Bezirke von Hackney, Poplar und Dartford hinaus, bis zur Themsemündung bei Southend-on-Sea. Schult, das Kriegskind, fühlte sich in dieser Schäbigkeit sogleich zu Hause. Zuerst hatte er sich verlaufen in den Ost-Straßen, war verlorengegangen zwischen den Ständen der Gemüse- und Fischhändler und den blutigen der Schlachter, zwischen überfüllten Pubs, aus denen versoffenes Geschrei dröhnte, zwischen den aufgetakelten Mädchen, die Schult daaaarling riefen, und ihren jungen Bewunderern, mit den ewig glühenden Zigaretten im Mundwinkel und dem warmen Gruß alright, mate?, die schon am frühen Nachmittag, umgeben von einer trunkenen Traurigkeit, aus den Kneipen und in Schult hineintorkelten, zu ihm aufsahen, leise ihr wohlerzogenes sorry murmelten, wieder ihres Weges gingen, nach ein paar Schritten sich aber vielleicht noch einmal umdrehten nach ihm, mit gläsernem Lächeln, und nun kurz in Richtung einer der stillen Gassen nickend, wohin Schult ihnen folgte, bis zum Ende, dort, wo im Schatten der Gemäuer die Mülltonnen standen. Hinterher blieb der Geschmack von Bier und Zigaretten an ihm haften, oder er vergaß, das von einer goldberingten Hand aus seiner Hose gerissene Hemd wieder einzustecken. In sicherem Abstand folgte Schult den Jungen zurück ans Licht, und in diesen Augenblicken fühlte er sich, als habe er nie zuvor ein solches Glück erlebt, niemals eine solche Eroberung feiern dürfen. Im East End fühlte Schult sich sorglos und kühn. Die Gegend erinnerte ihn an seine Zeit mit der Trümmerbande. Es war auch das erste Mal, dass er die seit dem Feuer fortwährend in ihm kreisende Angst und Einsamkeit durchbrechen konnte, wenn auch...
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