Schweitzer Fachinformationen
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"So lange hat's nie gedauert, wir müssen beten", sagt Vater.
Ich hör Mutter in der Elternkammer hinter der alten Stube stöhnen.
"Was ist mit Mama?" Ich drängle an Paula vorbei und drück die Klinke der Stubentür runter.
Paula zieht mich zurück, legt den Zeigefinger auf den Mund und flüstert: "Psst, Mama hev Koppiene. Heini, geh spielen!"
"Was soll ich denn spielen?"
Handschuhe hängen am Herd, nass vom Schneemannbauen. Immer hat Mutter Kopfweh. Heute, am Sonntagmittag, hat sie nicht mal mitgegessen. Ich renn durch den Flur zur anderen Tür der alten Stube, doch Paula stellt den Fuß von innen dagegen. "Heini, verschwinde!" Die älteste Schwester will immer das Sagen haben.
Es schellt, ich öffne. Meine Taufpatin Tante Maria hängt im Flur Mantel und Pelzhut auf. "Heini, du bist ja gewachsen." Sie packt Bonbons aus und gibt mir zuerst eins.
"Das ist aber nicht nötig", sagt Vater.
Tante Trude humpelt herbei, wischt die Hände an der fleckigen Schürze ab, schaut zu Vater. "Die ganze Arbeit mit 'n Blagen hab ich, nu noch eins, was solln wir mit so vielen?"
"Erstmal abwarten, ob's gut geht." Vater geht mit ihr und Tante Maria vom Flur gleich in die beste Stube.
Mit Mutter stimmt was nicht. Ich press ein Ohr ans Schlüsselloch. Die kleine Anna will auch. "Verschwinde", sag ich. Gleich kratzt und beißt sie, aber ich zieh an ihren Haaren, damit sie nicht vergisst, dass ich ein Jahr älter bin.
"Hein, ihr müsst mir noch eins geben, habt ihr versprochen", sagt Tante Maria zu Vater. "Opa hat dich im Krieg gerettet."
O Gott, sie will noch eins. Nur nicht mich! Sie hat schon Otto. Wenn noch eins, dann nicht Anna. Auch nicht Ulla: Mit der spiel ich und vertrag ich mich am besten. Lieber die große, dickfellige Paula oder die dünne Eva mit der Brille, obwohl sie lustig ist.
Ich geh in die große Küche, die ist im Winter warm. Ich hock gern nahe am Herd auf der langen, schön glatten Bank hinter dem Tisch. Durch die Küche muss jeder durch: Zur Waschküche und zur Räucherbude, über die Diele zum Klo, zur Tante-Trude-Kammer, zum Dachboden mit Paulas Mädchenkammer oder zur alten Stube und der Elternkammer dahinter, wo ich nicht hinkann. Durch die Küche geht es auch über den Flur nach links zur besten Stube, in die wir Kinder - auch wenn Besuch da ist - meist nicht dürfen, daneben zur Kinderkammer für uns Kleine und am Flurende zur Jungskammer der Großen: Jakob und Karl.
Aus den Schälchen mit Resten vom Vanillepudding mit Birnen fressen Fliegen. Einige der wintermüden sitzen schon an der Wand über dem Herd, wo sie sich im Sommer drängeln, dass die Wand schwarz davon ist. Sie putzen sich die Unter- und Oberseiten der Flügel und wenden jeden einzeln. In den Töpfen kocht Wasser. Dampf durchzieht die Küche und beschlägt die beiden Fenster zur Schweinewiese. Tante Trude, mit schwarzem Kopftuch über dem Haarknoten, öffnet die Herdklappe, schiebt Holz nach, humpelt zur Pumpe in die grüne Waschküche und füllt auch den Teekessel.
"Heini, zur Seite."
Wieder schellt es. Paula ist schneller im Flur, öffnet. "Herein!"
Doktor Löbbert im Anzug und in schwarz glänzenden Schuhen, mit Köfferchen; kalt strömt es mit ihm herein.
"Tach." Er geht mit großen Schritten über die Küchendielen zur Waschküche, wäscht sich die Hände an der Pumpe über dem Spülstein, schlägt nach den Fliegen und mustert mich. "Wie heißt du noch gleich?"
"Heini."
"Heiiini", singt er, zieht das ei von tief unten in die Höhe, schön und hell. "So feine, lange Löckchen." Er streicht mir über das Haar und verschwindet durch die alte Stube in die Elternkammer.
Was ist mit Mutter? Ich will hinterher, aber Paula versperrt mir wieder die Tür, ich stoß dagegen.
"Hau ab, du Dickkopf, sonst steck ich dich in die Kiste!"
Die Großen rennen nach heißem Wasser. Dann schreit ein Kleines, alle drängeln um Mutters Bett, ich schlängel mich durch. Igitt! Schmierig wie ein neues Ferkel. In Vaters Händen sieht das Neue aus, als wär es nicht von uns.
"Woher kommt das?"
"Vom Storch, du Nervensäge." Paula schubst mich weg. "Dat is nix för kleene Kinner."
Bin gar nicht klein, bin vier.
"Ein Brüderchen", sagt Doktor Löbbert, "ist wohl das Neunte."
"O, wie süß!", ruft Tante Maria.
Alle schnattern wie die Enten. Wie kann man sich nur über den Mickrigen freuen? Mutter liegt, blass, mit strähnigem Haar, Augen zu.
Mir ist schlecht.
Vater zieht den Doktor in die alte Stube nebenan und gießt Korn ein. "Wir danken Gott, dass es gut ging."
"Eure Mutter braucht mich gar nicht." Der Doktor schaut auf das ausgeleierte, braune Sofa, die fettfleckige Tapete, den Stammbaum und setzt sich auf einen nicht löchrigen Stuhl mit Binsengeflecht. "Sicher füttert sie gleich wieder Schweine. Hat es sie vor drei Jahren nicht beim Kartoffelsammeln überrascht, mit Anna?"
"Prost." Vater zwinkert ihm mit den grauen Augen zu. "Aber deine Rechnung ist trotzdem happig!"
"Seit dem Krieg geht es auch bei euch Bauern aufwärts. Und beim Hamstern hast du doch den Reibach gemacht!"
"Sicher, wir konnten Schinken gegen Zement tauschen, dass es noch vorm neuen Geld fürn Viehstall reichte, aber der Zement bröckelt schon." Vater zieht die Stirn in Falten. "Seit 'm neuen Geld geht's bergab. Die vierzig Mark vom Staat - für Heinis Geburt Juni 48 - hast du gleich bar auf die Hand gekriegt, obwohl Mama schon wieder melken ging. Ich seh dich hier noch an die Decke springen und tanzen." Vater zeigt auf den ausgefransten, rotbraunen Teppich.
"Bin ich mit 'm Storch vom Dach gestürzt?", frag ich Vater.
"Kinners dröwt woll allet etten, awer nich allet wetten."
Ich drängle so lange, bis er erzählt: "Du kamst an 'nem heißen Freitag beim Heuen. Mama ging früher nach Hause und du hast schon gekräht, als der Doktor kam. Wie teuer du gleich warst!"
Doktor Löbbert schüttelt den Kopf und geht. Endlich hat Vater Zeit.
"Papa, einmal Mühle rumwirbeln?", frag ich.
"Du Quälgeist, kumm up de Delle."
Auf der Tenne heben die Kühe ihre Köpfe und Kälber strecken den Kopf durchs Gatter. Vater packt mich an Arm und Fuß, ich flieg höher und tiefer, im Kreis, wie auf dem Karussell, und er macht Uaauaa. Eva, Ulla und Anna schauen nur zu. Sie trauen sich das nicht. Tennentor, Pferde, Kälber, Rübenschneider, die Dachbodentreppe, Kühe und wieder das Tennentor wirbeln immer schneller rum. Vater lacht, und ich kann auch nicht aufhören zu lachen. Er spielt mit mir und erzählt Märchen. Dann hab ich ihn lieber als Mutter. Die ist immer im Schweinestall oder klagt mit Koppiene in der Elternkammer.
Am Abend kann ich nicht einschlafen. Wo soll der Neue hin? Nicht in unser Bett, das ist voll mit Eva, Ulla und mir. Eins schläft quer zu den Füßen oder über dem Kopf, manchmal auch verkehrt rum. Da passt der Neue nicht mehr rein. Auf keinen Fall. Den soll der Storch wieder mitnehmen. Anna hat es gut; die schläft noch im Gitterbett neben Mutter.
Vater sagt: "Ji frett mi de Hoare von 'n Kopp."
Nur an den Seiten wächst noch graues Gestrüpp. Und jetzt der noch, der alles wegfrisst. Mit den Zehen spür ich was Warmes. Einen Hintern? Wo lieg ich, wie rum, zum Kopf- oder Fußende, an Eva oder Ulla? Fuß im Gesicht, nur nicht bewegen. Ich kann mit dem Zeh nicht fühlen, wer es ist, auch nicht mit der Hand. Eine boxt mir in die Rippen. Ich zieh die Decke zu mir und dreh mich um.
"Aua!" Eva jault gleich, fängt eine Kissenschlacht an, und wir hüpfen auf der dreiteiligen Matratze, Stroh wirbelt raus, das Bett quietscht.
Plötzlich steht Vater in der Tür zu unserer Kinderkammer. "Ihr macht's Bett kaputt. Schluss mit dem Radau! Ungehorsame fressen die Löwen!" Er knipst Licht an, setzt sich mit der Schulbibel auf das Bett und zeigt auf ein Bild. "Wer Böses tut, wird in die Löwengrube geworfen."
Daniel sei angeblich auch böse. Die Löwen, gelb angemalt, liegen schlafend um ihn herum. Eva, mit Brille, kann schon lesen; klug wie sie will ich auch sein.
Sie liest: "Die Löwen fressen Daniel nicht. Gott verschließt ihnen die Rachen, weil Daniel unschuldig ist, und man zieht ihn wieder aus der Grube. Aber alle Männer, die ihn schlecht gemacht haben, wirft man zur Strafe mit Frauen und Kindern hinein. Die Löwen fallen über sie her und zerreißen sie."
Jetzt schlafen. Sich wie Löffelchen aneinander schmiegen und wie auf Kommando umdrehen. Zwischen Eva und Ulla wird mir warm. Mein Kopf ist heiß und . ein Löwe schleicht um die Ecke, reißt brüllend sein Maul auf. Ich will rennen, bin aber am Boden festgeklebt. Er springt auf mich zu, reißt mir den Kopf ab und beißt dran rum. Ich schrei, will ihn zurück . und erwach. Da tappst einer, ich zieh mir die Decke über die Ohren.
"Du Stinktier, wieder eingepinkelt." Jemand knipst Licht an.
Gott sei Dank kein Löwe!
Am nächsten Mittag isst Mutter wieder mit, ruhig und still. Wir suchen den Namen für den Neuen.
"Hol die Heiligenlegende, neben der Bibel", sagt Vater zu mir.
Unsere beiden Bücher stehen in der Vitrine in der besten Stube. Ich trag das schwere Buch, rot und mit Goldrand, wie eine Glasschüssel.
"Franz", sagt Tante Trude. "Der Kleine sieht mit 'm breiten Gesicht aus wie Onkel Franz." Und zeigt auf das Soldatenbild im Küchenschrank. "Wir müssen mehr Rosenkranz für die Gefallenen beten."
Vater schlägt das Buch auf. Im Bild liegt einer nackt...
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