Fasziniert
Einen Menschen kennenlernen, ist nicht immer ein Glück.
(Christian Morgenstern)
April 2008
Ich kann es immer noch nicht fassen, dass Sven mich zu einem Date eingeladen hat. Ich bin furchtbar aufgeregt. Nach etlichen Versuchen, das passende Outfit zu finden, habe ich mich letztendlich für eine schlichte Jeans, Bluse und Blazer entschieden. Sportlich-elegant. Damit fühle ich mich am wohlsten. Ein wenig geschminkt bin ich auch. Ich parke mein Auto auf dem Vorplatz des Weingutes neben der herrschaftlichen Villa hoch über der Stadt und bitte die gerade hereingehenden Mitarbeiter, Herrn von Roth auszurichten, dass Frau Gysmann da sei. Ich fühle mich plötzlich irgendwie wichtig.
Keine fünf Minuten später ist er da. Frisch geduscht, gestylt von Kopf bis Fuß, betörendes Parfum. Oh, mein Gott, sieht dieser Mann gut aus. Ich betrachte ihn plötzlich mit ganz anderen Augen. Er ist chic gekleidet. Männlich, elegant. Und teuer, das sehe ich an den aufgestickten Marken und seinen polierten Schuhen. Er begrüßt mich herzlich mit einem »Hallo Judith, so schön, dich zu sehen«. Seine leuchtend graublauen Augen funkeln freundlich, als er mich gewinnend anlächelt. Seine Zähne sind makellos. Sven schlägt vor, in die Stadt zu fahren und uns dort ein nettes Plätzchen zu suchen. Formvollendet hält er mir die Tür zu seinem BMW X5 auf. Niemand in meiner Familie oder in meinem Freundeskreis fährt ein so teures Auto. Und schon gar nicht wurde mir von einem Mann jemals eine Autotür geöffnet, damit ich einsteigen kann. Ich bin von der ersten Minute an beeindruckt. Er zeigt, ohne lange zu reden, einen gewissen Status, und das macht ihn für mich neu und interessant.
Wir schlendern durch seinen Heimatort, eine hübsche Stadt, die ich nur flüchtig kenne. Sven zeigt mir die schönsten Winkel.
Am Brockenplatz direkt am Fluss finden wir ein gemütliches Plätzchen in einer kleinen Vinothek. Obwohl es erst April ist, ist der Abend so lau, dass wir draußen sitzen können. Ich genieße das herrliche Ambiente, schaue dem rauschenden Wasser des Flusses zu, beobachte das Hin und Her der Menschen auf der alten Natursteinbrücke und das lebhafte Treiben vor und in den Restaurants. Ich fühle mich richtig gut, ja glückselig. Meine amerikanische Gruppe war ein großer Erfolg, die Agentur hochzufrieden, morgen früh muss ich nur noch die Abfahrten der vielen Busse zum Flughafen koordinieren. Dann ist alles erledigt.
Als könnte Sven meine Gedanken lesen, fragt er mich nach meinem Programm und wie es gelaufen sei. Ich erzähle begeistert, denn ich bin sehr stolz auf meine verantwortungsvolle Arbeit. Ein schöner Abend liegt vor uns. Sven bestellt gemischte Vorspeisen. »Lass uns alles mal durchkosten. Dazu einen feinen Wein? Hast du Lust? Roten?« Mir gefällt seine bestimmende, aber doch sehr höfliche Art. Als Sven seine Jacke auszieht, sehe ich seine durchtrainierten Arme. Seinem Bizeps nach zu urteilen, muss er Kraftsport machen. Das ist mir vorher nie aufgefallen. Überhaupt hat er eine tadellose Figur und wirkt auf mich plötzlich ungemein sexy. Während wir auf den Wein und das Essen warten, erzählen wir von unserem Leben. Wie wortgewandt er reden kann. Und was er schon alles erlebt hat. »Mit sechzehn bin ich von zu Hause ausgezogen, ich bin nach Genf gegangen, um Französisch zu lernen.«
»Ach, das gibt es ja gar nicht. Ich bin auch schon mit dreizehn von zu Hause weggegangen, an die Sportschule, ich wollte mal Weltmeisterin im 100-Meter-Sprint werden.« Unsere zweite Parallele, nebst Trennungen. Wir diskutieren über die Sprache Französisch, die ihm leicht- und mir schwerfällt, obwohl ich auch zwei Jahre in Genf gelebt habe. Auch Spanisch spricht Sven perfekt, denn er hat einige Jahre in Spanien gelebt. Und ich würde die Sprache so gerne beherrschen. Und Englisch ist ja überhaupt kein Problem, für uns beide nicht. Ich bin von Minute zu Minute faszinierter. Der Mann, der vor mir sitzt, ist nicht nur attraktiv und gutaussehend, sondern auch intelligent, gebildet - und ungemein charismatisch. Warum ist mir das vorher nie aufgefallen? Als der Wein gebracht wird, stoßen wir auf uns an. »Auf dich, Judith! Ich finde es wunderbar, dass du heute Abend gekommen bist. Trotz deines Stresses.« Ich fühle mich geschmeichelt, dass er mir gegenüber so aufmerksam ist.
Als wir genüsslich unsere Vorspeisenplatte leeren, erzählen wir uns gegenseitig von unseren Reisen. Unsere dritte Parallele. Ich kann in dieser Beziehung gut mithalten, denn schließlich bin ich mit dem Rucksack ein Jahr um die Welt gereist. Und Sven versteckt seine Bewunderung dafür nicht. Auch er ist viel gereist, Amerika fand er am beeindruckendsten. Und so plaudern wir ungezwungen und angeregt in die Abenddämmerung hinein. Unsere vierte Parallele finde ich im beruflichen Werdegang und in unseren Ausbildungen. Er als Winzer und Gastronomiespezialist, ich als Tourismusexpertin. Die Bereiche liegen eng zusammen. Im Gegensatz zu mir war Sven jedoch von Beginn an als Manager tätig - und ich bin bis heute nur eine normale Angestellte. Ich bewundere ihn für seine steile Karriere, die er nun als Pächter des großartigen Weingutes mit Villa und Weinkeller krönt. Ich möchte auch so gerne beruflich Großes erreichen und erzähle Sven stolz, dass ich gerade mit meiner Freundin Greta eine GmbH gründe, um meinem Traum ein Stück näher zu kommen. »Wir wollen Swiss-Made-Produkte online anbieten, der Markt dafür ist riesig. Als zweites Standbein wollen wir individuelle Angebote für Schweizer Schlösser und Villen kreieren.« Sven hört interessiert zu und ermutigt mich, diesen Weg zu gehen. Er muss es wissen, denn er ist kompetent und kennt sich aus.
»Magst du Kinder?«, fragt Sven mich plötzlich.
»Nichts lieber als das. Ich bin leider niemals schwanger geworden und bedauere das zutiefst.« Der viele Rotwein macht mich redselig, und ich habe das Gefühl, dass ich Sven alles anvertrauen kann. Er wirkt so ehrlich, so sympathisch. Seine Frage stimmt mich plötzlich sentimental. Das Thema Familie und Kinder, die ich mit nun fast vierunddreißig immer noch nicht habe, besorgt mich immer mehr. »Ich leide darunter«, gestehe ich ihm.
Sven zeigt größtes Verständnis und Mitgefühl. Überhaupt habe ich den Eindruck, dass sich dieser Mann wahrhaftig für mein Seelenleben interessiert. Nichts ist in unseren Gesprächen oberflächlich.
»Wie geht es denn deinen beiden Jungs? Die Situation eurer Trennung ist ja bestimmt auch für sie nicht leicht?«, frage ich ganz offen. Sven lehnt sich zurück, legt seine Serviette beiseite und schaut mich ernst an.
»Nicole hat bei Gericht eine Klage eingereicht. Sie möchte die alleinige Obhut (Betreuungszeit) der Kinder.«
»Was?« Ich bin fassungslos.
»Weißt du, ich würde das irgendwie verstehen, wenn sie sich je um die Jungs gekümmert hätte. Sie hat immer nur gearbeitet und die Kinderbetreuung lag hauptsächlich bei mir. Ich habe die Windeln gewechselt, ich habe die Fläschchen zubereitet. Für Nicole gab es nur die Arbeit, sonst nichts. Sie ist nicht für die Mutterrolle geboren.«
Ich kann mir das kaum vorstellen. Für mich gäbe es nichts Schöneres, als ein eigenes Kind zu haben und für dieses Kind da sein zu können. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Sven erzählt mir traurig, in welchem Albtraum er gerade steckt, weil er seit Beginn der Trennung vor über einem Jahr Angst hat, seine Kinder zu verlieren.
»Weißt du, Nicole ist so unberechenbar.«
»Wie meinst du das?«
»Als sie während der Trennung noch in der Villa lebte, ist sie oft ausgerastet. Sie hat mit Geschirr nach mir geworfen. Vor den Kindern, das muss man sich mal vorstellen.«
»Oh mein Gott, das ist ja furchtbar.«
»Wir haben viele Wochen gebraucht, eine Trennungsvereinbarung auszuarbeiten, alles ist darin geregelt. Und nun das. Ich habe große Angst, meine Jungs zu verlieren.« Sein Anwalt, so erklärt mir Sven, gebe ihm nur wenige Chancen, zu stark seien die Rechte einer Mutter. Sven tut mir unsagbar leid und ich fühle mich ihm ganz nah. Am liebsten würde ich ihn in die Arme nehmen. Unvorstellbar, dass dieser hingebungsvolle Vater seine geliebten Jungs nicht mehr bei sich haben soll. »Was ist das denn für eine gemeine Frau?«, denke ich. Und etwas regt sich auch in mir: mein Gerechtigkeitssinn.
Es wird immer später und die Dunkelheit hat sich bereits über die Dächer und Straßen des Städtchens gelegt. Sven zahlt und wir spazieren einen kleinen Umweg zurück zum Auto. Als wir am Fluss entlang schlendern, kommt eine Gruppe betrunkener Männer auf uns zu. Sven nimmt sofort meine Hand.
»Nicht, dass du denkst, ich bin romantisch, ich will dich nur beschützen«, wiegelt er gleich ab. Romantik wäre mir lieber gewesen.
Ich frage mich, ob Sven Gefallen an mir findet. Ich wünsche es mir. Als er meine Hand nicht loslässt, obwohl die lauten Betrunkenen längst vorbei sind, muss ich schmunzeln. Aha, »beschützen« also. Ich lasse es...