Schweitzer Fachinformationen
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Meine Mutter schlief den ganzen Tag und die ganze Nacht, jeden Tag, jede Nacht. Sie war unbeweglich. Wann immer möglich versuchte ich, sie zu überreden, etwas zu essen. Ich war dazu übergegangen, Koko zu machen, das Lieblingsgericht meiner Kindheit. Ich musste in drei Läden gehen, um die richtige Hirse zu finden, die richtigen Maiskolben, die richtigen Erdnüsse zum Drüberstreuen. Ich hoffte, dass sie den Brei ohne nachzudenken schlucken würde. Ich stellte morgens, bevor ich zur Arbeit ging, eine Schale neben das Bett, und wenn ich zurückkehrte, war er oben von einem Film überzogen und darunter so hart, dass ich ihn nur mit Mühe ins Spülbecken kratzen konnte.
Meine Mutter kehrte mir immer den Rücken zu. Es war, als hätte sie einen inneren Sensor dafür, wann ich ins Schlafzimmer kam und den Brei brachte. Ich konnte mir die Filmmontage vorstellen: die Tage unten auf dem Bildschirm gezählt, ich in wechselnder Kleidung, die Handlung war immer die gleiche.
Nach ungefähr fünf solcher Tage betrat ich das Zimmer, und meine Mutter war wach und sah mich an.
»Gifty«, sagte sie, als ich die Schüssel mit Brei hinstellte. »Betest du noch?«
Es wäre netter gewesen zu lügen, aber ich war nicht mehr nett. Vielleicht war ich es nie gewesen. Ich erinnerte mich vage an Nettigkeit in meiner Kindheit, aber vielleicht brachte ich Unschuld und Nettigkeit durcheinander. Ich empfand kaum Kontinuität zwischen der Person, die ich als kleines Kind gewesen war, und der, die ich jetzt war, sodass es mir völlig sinnlos erschien, meiner Mutter so etwas wie Erbarmen entgegenzubringen. Wäre ich als Kind barmherziger gewesen?
»Nein«, antwortete ich.
Als Kind betete ich. Ich las die Bibel und führte ein Tagebuch mit Briefen an Gott. Was das Tagebuch betraf, war ich paranoid und erfand Codenamen für alle Personen in meinem Leben, die Gott bestrafen sollte.
Das Tagebuch lässt keinen Zweifel daran, dass ich eine wahre »Sünder in den Händen eines zornigen Gottes«-Christin war und an die erlösende Kraft von Strafe glaubte. Denn es heißt, dass ihr Fuß straucheln wird, wenn ihre Zeit oder die festgesetzte Zeit kommt. Dann werden sie fallen, so wie es ihr Gewicht vorsieht.
Meiner Mutter gab ich den Codenamen »Die Schwarze Mamba«, weil wir in der Schule gerade Schlangen durchgenommen hatten. In dem Film, den uns die Lehrerin damals zeigte, kam eine zwei Meter lange Schlange vor, die aussah wie eine schlanke Frau in einem hautengen Lederkostüm und durch die Sahara glitt und ein Buschhörnchen verfolgte.
An dem Tag, an dem wir die Schlangen durchnahmen, schrieb ich in mein Tagebuch:
Lieber Gott,
Die Schwarze Mamba war in letzter Zeit echt gemein zu mir. Gestern hat sie gesagt, wenn ich mein Zimmer nicht aufräume, wird mich niemand heiraten wollen.
Mein Bruder Nana hatte den Codenamen Buzz. Ich weiß nicht mehr, warum. In den ersten Jahren, in denen ich Tagebuch führte, war Buzz mein Held:
Buzz ist heute dem Eiswagen hinterhergelaufen. Er hat ein Feuerwerk-Eis für sich und ein Familie-Feuerstein-Eis für mich gekauft.
Oder:
auf dem Sportplatz wollte heute kein Kind mein Partner beim Dreibeinlauf sein, weil ich ihnen zu klein war, aber dann ist Buzz gekommen und hat gesagt, dass er mit mir läuft! Und stell dir vor, wir haben gewonnen, und ich habe einen Pokal gekriegt.
Manchmal ärgerte ich mich auch über ihn, aber damals waren seine Vergehen harmlos, trivial.
Buzz kommt immer in mein Zimmer, ohne anzuklopfen! Ich kann ihn nicht leiden!
Doch nach ein paar Jahren veränderten sich meine Bitten um Gottes Eingreifen grundlegend.
als Buzz gestern Abend nach Haus kam, hat er DSM angeschrien, und ich habe gehört, dass sie geweint hat, und ich bin nach unten gegangen, um nachzusehen, obwohl ich eigentlich im Bett liegen sollte. (Es tut mir leid.) Sie hat zu ihm gesagt, dass er leise sein soll, sonst würde er mich wecken, aber dann hat er den Fernseher genommen und ihn auf den Boden geschmettert und ein Loch in die Wand geschlagen, und seine Hand hat geblutet, und DSM hat geweint, und dann hat sie mich gesehen, und ich bin in mein Zimmer zurückgelaufen, und Buzz hat geschrien: »Verschwinde, du blöde neugierige Fotze.« (Was ist eine Fotze?)
Ich war zehn, als ich diesen Eintrag schrieb. Ich war schlau genug, die Codenamen zu benutzen und neue Wörter zu notieren, aber nicht schlau genug, um zu erkennen, dass jeder meinen Code sofort entschlüsseln konnte. Ich versteckte das Tagebuch unter meiner Matratze, aber da meine Mutter jemand ist, der unter Matratzen sauber macht, muss sie es irgendwann gefunden haben. Wenn ja, hat sie es nie erwähnt. Nach dem Vorfall mit dem Fernseher war meine Mutter hinauf in mein Zimmer gelaufen und hatte die Tür abgeschlossen, während Nana unten weiter tobte. Sie zog mich an sich, und wir knieten uns beide vors Bett, und sie betete auf Twi.
Awurade, b me ba barima ho ban. Awurade, b me ba barima ho ban. Herr, beschütze meinen Sohn. Herr, beschütze meinen Sohn.
»Du solltest beten«, sagte meine Mutter und griff nach dem Brei. Ich sah zu, wie sie zwei Löffelvoll davon aß, bevor sie die Schale wieder wegstellte.
»Ist es okay?«, fragte ich.
Sie zuckte die Achseln und wandte mir wieder den Rücken zu.
Ich ging ins Labor. Han war nicht da, im Raum herrschte also eine annehmbare Temperatur. Ich hängte meine Jacke über eine Stuhllehne, machte mich fertig, nahm zwei Mäuse und bereitete sie für den Eingriff vor. Ich rasierte das Fell auf ihren Köpfen, bis ich die Kopfhaut sah. Ich bohrte vorsichtig hinein, wischte das Blut weg, bis ich auf ihr hellrotes Gehirn traf, während die betäubten Nagetiere mechanisch atmeten und sich ihre Bäuche hoben und senkten.
Obwohl ich es schon unzählige Male getan hatte, flößte mir der Anblick eines Gehirns immer noch Ehrfurcht ein. Wenn ich dieses kleine Organ in dieser winzigen Maus verstehen könnte, würde dieses Verständnis nicht ausreichen, die volle Komplexität des vergleichbaren Organs in meinem Kopf zu erklären. Und doch musste ich versuchen zu verstehen, dieses begrenzte Verständnis extrapolieren und es auf die Gattung Homo sapiens anwenden, das komplizierteste Tier, das einzige Tier, das glaubt, sein Reich zu transzendieren, wie es eine Biologielehrerin in meiner High School ausgedrückt hat. Diese Überzeugung, diese Transzendenz, befand sich in diesem Organ. Unendlich, unverständlich, seelenvoll, erhaben, vielleicht sogar magisch. Ich hatte die Pfingstbewegung meiner Kindheit gegen diese neue Religion ausgetauscht, diese neue Suche, wohlwissend, dass ich nie alles wissen würde.
Ich war Doktorandin im sechsten Jahr in Neurowissenschaft an der medizinischen Fakultät der Stanford University. Ich erforschte die neuronalen Schaltkreise von nach Belohnung strebendem Verhalten. Bei einem Date in meinem ersten Promotionsjahr hatte ich einen Typen zu Tode gelangweilt, als ich ihm versuchte zu erklären, was ich den ganzen Tag tat. Er hatte mich ins Tofu House in Palo Alto eingeladen, und während ich zusah, wie er mit seinen Stäbchen kämpfte und mehrere Stückchen Bulgogi auf die Serviette in seinem Schoß fielen, erzählte ich ihm alles über den medialen präfrontalen Cortex, den Nucleus accumbens und die 2-Photonen-Kalzium-Bildgebung.
»Wir wissen, dass der mediale präfrontale Cortex eine kritische Rolle bei der Unterdrückung nach Belohnung strebenden Verhaltens spielt, allerdings verstehen wir die neuronalen Schaltkreise kaum, die es ihm ermöglichen.«
Ich hatte ihn auf OkCupid kennengelernt. Er hatte strohblondes Haar und eine Hautfarbe, als würde gerade ein Sonnenbrand abklingen. Er sah aus wie ein SoCal-Surfer. Die ganze Zeit, in der wir uns Nachrichten schickten, hatte ich mich gefragt, ob ich das erste schwarze Mädchen war, mit dem er ausging, oder ob er ein Kästchen auf einer Liste mit neuen und exotischen Dingen abhakte, die er ausprobieren wollte, wie das koreanische Essen vor uns, das er bereits aufgegeben hatte.
»Hm«, sagte er. »Klingt interessant.«
Vielleicht hatte er etwas anderes erwartet. In meinem Labor arbeiteten achtundzwanzig Personen, davon waren nur fünf Frauen, und ich war eine von drei schwarzen Doktorandinnen in der ganzen medizinischen Fakultät. Ich hatte SoCal-Surfer erzählt, dass ich promovierte, aber nicht, worin, denn ich wollte ihn nicht abschrecken. Neurowissenschaften schrien vielleicht »schlau«, aber sie schrien nicht unbedingt »sexy«. Dazu kam mein Schwarzsein, vielleicht war ich eine zu große Anomalie für ihn. Er rief nie wieder an.
Von da an erzählte ich meinen Dates, dass ich beruflich Mäuse kokainsüchtig machte und ihnen das Kokain dann wegnahm.
Zwei von drei stellten die gleiche Frage: »Also, hast du dann jede Menge Kokain?« Ich gab niemals zu, dass wir von Kokain zu Ensure gewechselt hatten. Es war leichter zu bekommen und ausreichend suchterzeugend für die Mäuse. Ich genoss den Nervenkitzel, diesen Männern, die ich nie wiedersah, nachdem ich meistens einmal mit ihnen geschlafen hatte, etwas Interessantes und Illegales erzählen zu können. Es gab mir ein Gefühl der Macht, wenn ihre Namen auf dem Bildschirm meines Handys aufleuchteten, Tage, Wochen, nachdem sie mich nackt gesehen und ihre Fingernägel manchmal bis aufs Blut in meinen Rücken gegraben hatten. Wenn ich ihre Nachrichten las, tastete ich gern die Spuren ab, die sie hinterlassen hatten. Ich hatte das Gefühl, als könnte ich sie dort...
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