Schweitzer Fachinformationen
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Im Fahrstuhl war es so hell gewesen, dass Zanders Augen einen Moment brauchten, um sich an das dämmrige Licht in dem riesigen Ballsaal zu gewöhnen, den er, seine Eltern und Zina jetzt betraten. Und gerade, als er den ersten Schritt machte, duckte er sich instinktiv, weil er spürte, dass sich etwas von oben auf ihn stürzte.
«Natascha!», rief Zina und schaute zur Decke hoch. «Hallo.»
Der weitläufige Saal war beeindruckend: deckenhohe Fenster, verzierte Säulen, die den Raum trugen wie einen griechischen Tempel, sanftes Lampenlicht und Perserteppiche auf dem Boden. Allein die Decke, die Zander staunend betrachtete, bot einen spektakulären Anblick: Sie war etwa neun Meter hoch und mit verzierten Mahagoni-Paneelen verkleidet. Die Täfelung war mit komplizierten Mustern bemalt, wie Zander sie schon oft auf dem Mahjong-Spiel seiner Mutter bewundert hatte. Aber er kam nicht dazu, all das gründlich zu betrachten, denn ein seltsamer Anblick zog ihn in seinen Bann: Quer durch den hohen Raum über ihren Köpfen streckte ein Mädchen mit schwarzen, gescheitelten Haaren und einem roten Overall ihre Fersen in die Höhe und zog sie wieder zurück; sie flog auf einer Schaukel aus festem Stoff, die mit zwei dicken Seilen an der Decke befestigt war, weit durch die Luft und holte immer wieder Schwung.
«Hallo, Mrs. Winebee!», schrie das Mädchen, das drei Meter über ihnen hin- und hersauste.
«Also, das ist neu, Mutter», sagte Zaylee und schaute dem Mädchen nach, das von einer Seite des Saals zur anderen schwang.
«Das ist Natascha Novikov», sagte Zina. «Sie ist elf. Und sie liebt das Schaukeln. Jetzt, in den Ferien, verbringt sie viel Zeit bei uns. Und unsere Gäste erfreuen sich an dem Anblick, weil sie selbst so viel Freude dabei empfindet, hin und her zu schaukeln, hin und her und hin und her. Manchmal ist sie unten im The Niner, manchmal auch in Tatiana Trotskis Teetraum, aber meistens findet man sie hier im 360 Grad.»
Zander starrte das Mädchen mit offenem Mund an. Sie trug zwei Haarspangen und eine eng anliegende lila Kette, die die Mädchen an seiner Schule «Choker» nannten. Jetzt
ließ sie mit einer Hand das Seil los und winkte ihm zu, aber er war zu verblüfft, um zurückzuwinken.
«Sie schaukelt über die Leute hinweg, während sie essen?», fragte Zander, der immer noch nach oben blickte. Er selbst würde sich nicht mal trauen, einen Meter über dem Boden zu schaukeln, geschweige denn in einer solchen Höhe wie Natascha.
«Sie ist eine absolute Schaukelexpertin», sagte Zina, «natürlich mit einer sehr stabilen Sicherheitsleine. Wir haben Glück, dass sie bei uns ist, und ich freue mich schon darauf, dass ihr euch bald kennenlernt, Zander.»
Zina hob noch einmal ihren Arm zur Begrüßung, und das Mädchen lächelte freudig zurück.
«Ihr Tisch ist bereit, Mrs. Winebee», sagte jemand, und Zander riss sich von dem Anblick des schaukelnden Mädchens los. Vor ihnen stand eine Frau in einem langen indigoblauen Kleid und kniff die Augen zusammen. Sie war nicht größer als Irina Obrastoff, doch ihr Haar war rabenschwarz, und sie hatte einen knallroten Lippenstift aufgelegt.
«Danke, Miss Suzuki.» Zina wies auf die drei Olingas. «Meine Tochter Zaylee, an die Sie sich vielleicht erinnern, ihr Mann Mason und ihr Sohn Zander. Dies ist Miss Phyllis Lee Suzuki, die uns heute bei Tisch aufwarten wird.»
Die Frau neigte grüßend den Kopf. «Ich erinnere mich an Sie alle von Ihrem letzten Besuch. Willkommen!» Sie wies mit einer Armbewegung auf einen Tisch in einiger Entfernung und ging los. «Bitte folgen Sie mir.» Nach etwa fünf Schritten blieb sie stehen und deutete auf einen Mann, der zusammen mit einer Frau in einer Nische saß. «Sie müssen Ihre Erbsen aufessen, Sir! Die sind gesund!» «Ich gebe mir alle Mühe!», sagte der Mann und hob ergeben beide Hände.
Zander lachte verblüfft, warf noch einen Blick auf die schaukelnde Natascha und folgte den anderen zu ihrem Tisch.
Der Boden des 360 Grad drehte sich tatsächlich im Kreis. Ein unsichtbarer Mechanismus unter den Bodendielen sorgte dafür, dass der weitläufige Raum im siebzehnten Stock des Kaufhauses unablässig und beinahe unmerklich rotierte. Fasziniert betrachtete Zander den Ausblick auf die Stadt unter ihm, der sich ständig langsam veränderte: den breiten Fluss, der mitten durch Novatrosk floss, die majestätischen Gebäude der Innenstadt, das Fußballstadion in der Ferne, die grünen Parks überall und den Verkehr in den Straßen - es gab so viel zu sehen, dass er sich kaum auf das Gespräch mit seinen Eltern und seiner Großmutter konzentrieren konnte. Außerdem brachte Phyllis Lee Suzuki andauernd Platten mit neuen Gerichten herbei. «Der Koch hat sich mit dem Steak große Mühe gegeben und wäre sehr traurig, wenn Sie etwas davon übrigließen, Mr. Olinga», sagte sie zu seinem Vater. Währenddessen schaukelte Natascha unentwegt über ihre Köpfe hinweg, und auf einer niedrigen Bühne in der Nähe der Küche spielte ein Trio aus Bassgitarre, Saxophon und Schlagzeug muntere Musik. All das überwältigte Zander, aber auf eine angenehme Art.
An der gegenüberliegenden Seite des 360 Grad geriet allmählich ein großes Wandgemälde ins Blickfeld, und Zander spürte, wie ihn ein Zittern durchlief, als er es genauer betrachtete. Die Szene, die er vor sich sah, zeigte das Kaufhaus, wie es vor etlichen Jahrzehnten gewesen war, und mitten in der Menge der Kunden entdeckte er einen Mann mit einem lila Edelstein an seinem Hut.
Entgeistert deutete Zander auf das Wandbild.
«Seht mal!», sagte er, und die anderen drei folgten seinem Blick.
«Wunderschön, nicht wahr?», sagte Zina. «Lasst mich mal überlegen: Das Wandbild wurde 1972 gemalt, es ist jetzt also vierzig Jahre alt.» Sie schaute Zaylee an. «Erinnerst du dich an Diego Ruiz, den Maler? Das ist schon so lange her.»
«Natürlich erinnere ich mich», sagte Zanders Mutter und zuckte mit den Schultern. «Ich bin im World Famous Nine aufgewachsen.»
Zander schaute seine Mutter an. Er hatte sie diesen Satz schon oft sagen hören, und er wusste viel von ihrer Kindheit im Kaufhaus; sie hatte ihm oft von ihren Erinnerungen erzählt - und davon, wie sie mit siebzehn dann nach Ohio auf die Universität gegangen war. Ein anderes Land, ein anderes Leben, eine andere Zukunft. Und dort hatte sie seinen Vater kennengelernt, der zum Studieren aus Kamerun in die Vereinigten Staaten von Amerika gekommen war. Zander wusste auch - obwohl sie es nie ausgesprochen hatte -, dass seine Mutter nie vorgehabt hatte, die Leitung des Kaufhauses zu übernehmen.
Zina schaute zu dem Wandbild. «Gefällt dir das Gemälde, Zander?»
Er deutete noch einmal darauf. «Der Mann mit dem lila Edelstein am Hut», sagte er. Und dann wusste er nicht, was er noch sagen sollte. Es kam ihm komisch vor, dass ihm dieses Detail auffiel, und noch dazu ein zweites Mal an diesem Tag. Denn es war noch keine Stunde her, dass er im World Famous Nine einen Mann mit genau demselben Hut gesehen hatte. Und der Anblick hatte ihn aus irgendeinem Grund beunruhigt.
Seine Großmutter beugte sich vor. Mit leicht verengten Augen und verwundertem Blick schaute sie ihn an. «Das hast du bemerkt?», fragte sie, aber es war keine wirkliche Frage. Sie sagte es, als würde sie ihn einschätzen, als hätte sie etwas Faszinierendes an ihm entdeckt.
«Zander hat ein Auge für Details», sagte sein Vater. «Das ist der Blick eines Künstlers.»
Zina schaute Zander weiterhin so an, als hätte er erst den kleinen Teil eines Geheimnisses verraten, das er ihnen mitteilen wollte. «Ein wunderbares Gemälde, nicht wahr?», sagte sie in einem rätselhaften Ton.
«Apropos wunderbar», sagte Zanders Vater. «Das World Famous Nine scheint voller zu sein als bei unserem letzten Besuch. Es gibt so viele Kunden - ich meine natürlich Gäste.»
Und mit diesen Worten waren sie bei einem anderen Thema angelangt, doch Zander warf immer wieder einen Blick auf das Wandbild, bis der Boden sich so weit gedreht hatte, dass er es nicht mehr sehen konnte. In dem Moment bemerkte Zander, dass das Mädchen auf der Schaukel - Natascha Novikov - an einem hölzernen Vorsprung unterhalb der gewölbten Decke, direkt über dem Küchenbereich, angehalten hatte. Sie löste sich von ihrer Sicherungsleine, trat auf den Vorsprung und verschwand durch eine kleine Tür in der Wand.
«Bitte entschuldigt mich», sagte Zander zu seinen Eltern und zu seiner Großmutter. «Ich muss mal auf die Toilette.» Zina deutete in Richtung Küche. «Dort entlang», sagte sie, und Zander lief los. Als er den Gang erreichte, wo ein Schild zu den Toiletten wies, blieb er stehen und schaute sich um, in der Hoffnung, das Mädchen zu sehen, das eben noch auf der Schaukel gesessen hatte. Er blickte nach rechts und nach links - nichts. Er ging ein paar Schritte zurück, sodass er in die Küche sehen konnte - und dort entdeckte er sie.
Eingehüllt in eine Dampfwolke, die von einem langen Herd mit unzähligen Töpfen und Kesseln aufstieg, lief Natascha Novikov über den Fliesenboden. Sie hatte den roten Overall ausgezogen und trug jetzt Jeans, fluoreszierende grüne Sneaker und - zu Zanders Überraschung - ein schwarz-gelbes T-Shirt mit dem P-Logo der Pittsburgh Pirates. Ebenso...
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