2Zur Lernwirksamkeit des praktischen Arbeitens im Naturwissenschaftsunterricht
Christoph Gut, Josiane Tardent, Markus Wilhelm
Im naturwissenschaftlichen Unterricht wird zuweilen sehr viel Aufwand für das praktische Arbeiten betrieben. In Deutschland und der Schweiz steht das Unterrichtsgeschehen während rund zwei Drittel beziehungsweise der Hälfte der Unterrichtszeit in einem Zusammenhang zu praktischen Aktivitäten (Tesch & Duit, 2004; Börlin & Labudde, 2014). Es stellt sich daher die grundsätzliche Frage, inwieweit sich dieser Aufwand lohnt, beziehungsweise inwieweit das praktische Arbeiten für die Erreichung von Lernzielen tatsächlich effektiv ist. Auf diese Fragen sollen in diesem Kapitel forschungsbasierte Antworten gegeben werden. Dazu wird im ersten Abschnitt auf die verschiedenen Zwecke und Rollen des praktischen Arbeitens im Naturwissenschaftsunterricht eingegangen und der Wissensstand in Bezug auf die Rolle des praktischen Arbeitens in der Unterrichtspraxis wiedergegeben. Im zweiten Abschnitt wird spezifisch das praktische Arbeiten als Unterrichtsmethode beleuchtet und Ergebnisse aus der fachdidaktischen Wirksamkeitsforschung werden anhand eines Rahmenmodells analysiert und zusammengefasst. Im dritten und letzten Abschnitt werden die Ursachen mangelhafter Lernwirksamkeit des praktischen Arbeitens als Unterrichtsmethode erläutert und Desiderata für die Unterrichtspraxis formuliert.
Die hier zusammengetragenen Antworten stützen sich auf Studien zum praktischen Arbeiten als Unterrichtsmethode in den Sekundarstufen I und II mit Fokus auf Ergebnisse aus dem englischsprachigen und deutschsprachigen Raum. Unter Berücksichtigung wichtiger Erkenntnisse aus der allgemeinen internationalen Naturwissenschaftsdidaktik seit den 1990er-Jahren sollen vor allem auch Ergebnisse neuerer Zeit repliziert werden, wobei auf eine explizite Differenzierung der naturwissenschaftlichen Disziplinen (Biologie, Chemie, Physik) verzichtet wird. Ebenso wird nicht darauf eingegangen, auf welche Art des praktischen Arbeitens im Sinne der Problemtypen (siehe Abschnitt 1.5) sich die jeweiligen Forschungsergebnisse beziehen. Die Bezüge in der Literatur sind zuweilen unklar und hängen auch von der jeweiligen Fachcommunity ab. In der englischsprachigen Tradition bezieht sich die fachdidaktische Literatur auf Practical Work oder Inquiry-based Learning. Beides sind Sammelbegriffe, unter die unterschiedliche praktische Aktivitäten der Schülerinnen und Schüler im Naturwissenschaftsunterricht subsumiert werden. Die deutschsprachige Fachdidaktik hingegen fokussiert stark auf den Begriff des Experimentierens, der sowohl als Oberbegriff im Sinn des praktischen Arbeitens als Unterrichtsmethode (Kircher, 2007, Kap. 5.5) als auch als praktische Umsetzung einer eng definierten Erkenntnisgewinnungsmethode im Sinne des explorativen oder konfirmativen Untersuchens kausaler Zusammenhänge (Schulz, Wirtz & Starauschek, 2012; siehe die Problemtypen «zusammenhangsgeleitetes Untersuchen» und «zusammenhangsgeleitetes Überprüfen», Abschnitte 1.5.4 und 1.5.6) verstanden wird.
2.1 Das praktische Arbeiten im Naturwissenschaftsunterricht
Das Experiment - im Sinne von Friedrich Schelling (1799, 33) als «Frage an die Natur, auf welche sie gezwungen ist zu antworten» verstanden - ist ein konstitutives Element der neuzeitlichen Naturwissenschaften. Es ist daher selbstverständlich, dass das Experiment als inhärentes Thema zu einem modernen naturwissenschaftlichen Unterricht gehört (Fischer, Klemm, Leutner et al., 2003) und Wissen über das Experiment als Erkenntnisgewinnungsmethode zur naturwissenschaftlichen Bildung gezählt wird (Bybee, 2002; Emden, 2021). Das Gleiche gilt auch für andere praktische Arbeitsweisen der Erkenntnisgewinnung wie beispielsweise das Beobachten, Vergleichen und Klassifizieren, das Konstruieren, Optimieren und Testen oder das Messen und Identifizieren, die in Kapitel 1 als Problemtypen beschrieben wurden. Mit derselben Selbstverständlichkeit wird daher im Schulfeld angenommen, dass sich das praktische Arbeiten auch als universelle Lehr-Lern-Methode zur Erreichung vielfältiger naturwissenschaftlicher Lern- und Bildungsziele eignet, die - um die Trias von Derek Hodson (1988; 1993; 2014) zu verwenden - von Learning Science und Learning about Science bis (Learning) Doing Science reichen. Daneben sollen mit dem praktischen Arbeiten auch den Lernprozess moderierende Faktoren wie die Motivation und soziale Belange positiv beeinflusst werden. Gerade im deutschsprachigen Bildungsraum kommt dem praktischen Arbeiten im Naturwissenschaftsunterricht ein gewichtiger Anteil der Unterrichtszeit zu (Tesch & Duit, 2004; Börlin & Labudde, 2014). Das praktische Arbeiten wird geradezu als charakterisierendes Repertoire des naturwissenschaftlichen Unterrichts mit viel Aufwand gepflegt, das den Naturwissenschaftsunterricht vom Unterricht in anderen Schulfächern abhebt und unterscheidet.
2.1.1 Die Zwecke des praktischen Arbeitens im Naturwissenschaftsunterricht
Die zentrale Stellung des praktischen Arbeitens im Naturwissenschaftsunterricht zeigt sich auch darin, dass dem praktischen Arbeiten verschiedene Zwecke zugewiesen werden: Das praktische Arbeiten wird im Naturwissenschaftsunterricht einerseits als Medium der Wissens- und Kompetenzvermittlung - sprich als Unterrichtsmethode mit Einsatz von Arbeits- und Labormaterial - genutzt. Andererseits stellt die praktische Arbeit selbst einen Lerninhalt dar, wenn Schülerinnen und Schüler befähigt werden sollen, im Labor Arbeiten durchzuführen. Hier redet man gerne auch von praktischen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Letztlich wird das praktische Arbeiten als Werkzeug der Erkenntnisgewinnung genutzt. In diesem Sinne ist das praktische Arbeiten Ausdruck der Ausübung der Kompetenzen des Naturwissenschaftlich-Technischen Handelns. Als solches ist es dann auch Lerninhalt. In diesem Kapitel beschäftigen wir uns im Weiteren mit dem praktischen Arbeiten als Medium der Wissens- und Kompetenzvermittlung.
2.1.2 Praktisches Arbeiten als Medium: Rahmenmodell zur Analyse fachdidaktischer Forschungsergebnisse
Der in den vergangenen Jahren entstandene umfangreiche Korpus an empirischen Forschungsergebnissen zur Lernwirksamkeit des praktischen Arbeitens als Medium der Wissens- und Kompetenzvermittlung zeigt, dass das praktische Arbeiten in der Unterrichtspraxis wesentliche Erwartungen nicht einlöst (vgl. z. B. Hodson, 1993; Lunetta,1998; Watson, 2000; Hofstein & Lunetta, 2003; Lunetta, Hofstein & Clough, 2007; Millar, 2010). Die Frage nach der Wirksamkeit muss dabei differenziert nach den Lernzielen beantwortet werden. Geht es darum, Schülerinnen und Schüler für eine Aktivität oder ein Thema zu motivieren, erfüllt das praktische Arbeiten die Erwartungen. Soll durch praktisches Arbeit Wissen zu Fachinhalten oder Kompetenzen im Sinne des Naturwissenschaftlich-Technischen Handelns gelernt werden, steht es um die Lernwirksamkeit schlecht. Insofern das Erreichen der Ziele einen kognitiven Lernprozess bedingt, hat sich die Lehrmeinung etabliert, dass das praktische Arbeiten im Unterricht stets nur einen Schritt in einem längeren Lernprozess darstellt (Euler, 2001). Entscheidend für kognitiven Lernerfolg ist die bei der Lehrperson und den Lernenden bewusste Einbettung des praktischen Arbeitens in einen größeren Unterrichtszusammenhang (Harlen, 1999), wobei dem praktischen Arbeiten bezüglich des kognitiven Lernprozesses meist nur die Funktion eines bestimmten Lernschritts zukommt (Tesch & Duit, 2004; Kircher, 2007), zum Beispiel im Sinne des Aufbauens oder des Verankerns eines Zielkonzepts (Wilhelm & Kunz, 2016). Die Art der Einbettung des praktischen Arbeitens im Unterricht, die ihm zugewiesene Funktion im Lernprozess sowie die Rollen, die dabei den Lernenden und der Lehrperson zugewiesen werden, sind Ausdruck des Lernverständnisses der Lehrperson, das heißt der subjektiven Auffassung, wie Naturwissenschaften gelernt werden (Millar, 2010). Inwiefern eine praktische Unterrichtssequenz die von ihr erwartete Funktion im Lernprozess schließlich erfüllt, hängt einerseits ab vom Inhalt und von der Strukturierung der praktischen Aktivitäten im Sinne der von Manfred Euler (2001, S. 32) betonten «subtilen Balance zwischen Instruktion (dem angeleiteten Lernen) und Konstruktion (der eigenständigen Exploration, Diskussion, Planung, Durchführung und Auswertung der Experimente und der Darstellung der Ergebnisse)». Andererseits wird angenommen, dass der intendierte kognitive Lernprozess von der Lehrperson bewusst mitstrukturiert werden muss, indem sie zum Beispiel für Zielklarheit (Hodson, 1993, 2001; Hofstein & Lunetta, 2003) und kognitive Aktivierung in Bezug auf die Zielkonzepte (vgl. z. B. Börlin, 2012) sorgt. Die Wirksamkeit praktischer Lerngelegenheiten wird nun nicht nur durch die Ausprägungen der drei beschriebenen Faktoren «Ziel des Lernprozesses», «Inhalt und Strukturierung des praktischen Aktivitäten» sowie «Strukturierung des kognitiven Lernprozesses» beeinflusst (siehe Abbildung 2.1), sondern sie hängt vor allem von der Passung der Faktoren untereinander im Hinblick auf eine funktionale Einbettung der praktischen Aktivitäten in den intendierten kognitiven Lernprozess (vgl. Lunetta, 1998, Abrahams & Millar, 2008; Hoesli Füeg, 2020) ab. Denn je nach Lernziel wird eine andere Gestaltung der praktischen Aktivitäten und Strukturierung des Lernprozesses erfordert (Hodson, 2014).
Abbildung 2.1
Modell lernwirksamkeitsrelevanter Faktoren des praktischen Arbeitens im Unterricht
Das in Abbildung 2.1 dargestellte Rahmenmodell zur Analyse der...