Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Erleuchtet sind die Straßenzüge der einsamen Stadt, gewaltsam errichtet auf tropischem Sumpf. Wo alles lastet und wankt auf Millionen von Baupfählen aus Stahlbeton und Holz, vor Jahren und Jahrzehnten von anonymen Arbeitern in Schwemmsand und Lehm gerammt. Unter den Häusern und Garagen, unter den touristisch erschlossenen Mangroven-Reservaten, unter den Firmengeländen und Industrieanlagen, unter den Hotels, den Rentnerinnensiedlungen und den Batterien dreißigstöckiger Condominium-Bauten, unter den weiß gepflasterten Pfaden, den Bushaltestellen, Supermärkten und den von der salzigen Luft verwitterten Art-déco-Einkaufspassagen, selbst unter den geschlossenen Geschäften für Badespaßutensilien, den meeresbiologischen Forschungszentren, dem gespenstischen Kreuzfahrtschiffshafen und den militärisch organisierten Polizeistationen, unter den Nachtclubs und den kundenlosen Autohändlern, unter dem gewaltigen Rowdy Yates Komplex im Nordosten und den langsam im Boden versinkenden Wolkenkratzern in der Innenstadt und unter den schwarzschimmligen Schulkellern, den Heizungsräumen, der Kanalisation, den Strom- und Glasfaserleitungen, den Friedhöfen und den Laboren nicht rechenschaftspflichtiger Konzerne ruhen Baupfähle, aufrecht aufgereiht, in gutem Glauben in der Erde verankert. Ihr Stöhnen unter der Last der Stadt und der Geruch von Fäulnis drängen wie die Geister einer ausgetilgten Vergangenheit aus Fugen, Rissen und Kanaldeckeln an die Oberfläche, entweichen und verschwinden in die alles verschlingende Nacht.
Leise und deutlich unterfordert rauschen Robins CPU-Kühler und die beiden Grafikkarten vor sich hin, zusammengehalten auf einem alten Motherboard in einem billig-lieblosen Aluminiumgehäuse, das sich wie ein treuer Hund nach einem langen Tag an ihre nackte linke Wade schmiegt. Die Luft im Zimmer ist angenehm schwül, so wie sie es mag. Robin nimmt einen Schluck Eistee. Durch das offenstehende und mit einem Fliegengitter versiegelte Fenster kann sie die letzten Moskitos des Jahres vor sich hin sterben hören. Sie rotten sich noch einmal zusammen zu formwandelnden, pulsierenden Schwärmen, als würde das etwas in der Welt verändern. Ansonsten schweigt die Nachbarschaft in der vierundzwanzigsten Terrace Street in Coral Way, einem südlichen Stadtteil Miamis. Nur gelegentlich hört Robin ein paar Tiere durch das dichte Gebüsch im Garten hinterm Haus streifen und gegen die tonnenschwere Eingravierungsmaschine ihres Bruders schlagen - ein Überbleibsel seiner gescheiterten beruflichen Unternehmungen. Hideo hat sich wie jede Nacht in der ausgefahrenen Kommodenschublade rechts von Robins Schreibtisch eingerichtet. Er kann sie über eine kleine Rampe aus Pressspan erreichen, die sie für ihn angebracht hat. Die Schublade hat er sich selbst mit ölverschmierten Handtüchern ausgepolstert, was nicht wirklich Sinn macht. Vermutlich hat er sich etwas Ähnliches in einer Sitcom abgeschaut und dachte, das wäre doch schön, das wäre richtig so. Er sitzt in seiner Schublade, entstaubt seine Gelenkstellen, leert seinen Cache, lädt.
»Willst du über deinen Streit mit Horacio, das Spiel und deine Sorgen sprechen?«
»Danke, nein.«
»Willst du über deine Mutter und H.C. Rachael sprechen?«
»Nein.«
»Okay, Robin. Es ist völlig in Ordnung und sehr normal, dass man manchmal seine Ruhe will. Man darf es nur nicht in sich hineinfressen.«
».«
»Willst du mehr über die modernen und kostengünstigen Möglichkeiten der Feuerbestattung erfahren?«
»Gute Nacht.«
»Dein Wecker klingelt um sieben.«
Die meisten Menschen sind bereits in ihren abgeschlossenen Häusern, lieben sich oder schlafen, spülen Geschirr ab, hören Musik, stehen auf und sehen nach einem kranken Kind, lesen, führen Telefongespräche oder trinken dreifach gefiltertes Wasser. Auch der Familienvater von gegenüber verfällt heute nicht in einen seiner notorischen Wutanfälle, die so laut und eindeutig sein können, dass Robin schon ein Dutzend Mal dachte, das war's jetzt, dieses Mal tickt er endgültig aus und erschießt erst seine Frau, die ihr halbes Leben lang in Angst vor diesem Tag verbracht hat, um anschließend ruhigen Schrittes mit der warmen Flinte die knarzende Holztreppe nach oben zu gehen und seine beiden Stieftöchter, die sich unter ihren Betten versteckt haben und bereits mit der Polizei telefonieren, an den Haaren hervorzuziehen und nacheinander unter Tränen hinzurichten, ehe er schließlich das Gewehr gegen sich selbst richtet. Stattdessen: nichts, Stille überall, ewige Ruhe. Es bellen keine Köter, es krächzen keine Papageien, es lärmen keine Sirenen der Ringer.
Gemessen an den ELO-Werten, dürften ihre Gegnerin mit dem Username mariamartha_89 und Robin etwa auf Augenhöhe sein, auch wenn sie seit einer Weile nicht mehr ernsthaft zum Spielen gekommen ist. Sie entscheidet sich für die Byzantiner wegen deren weitgefächertem Technologiebaum und exzellentem Konterspiel. Die byzantinische Spezialeinheit ist der Kataphrakt, ein schwer gepanzerter Reiter, der Robin in der Vergangenheit schon mehrfach den Arsch gerettet hat. Sie wünscht mariamartha_89 in diesem 1v1 auf der Map Arabien viel Spaß. Die relative Gewissheit, dass - nach einem langen Tag im Büro, auf einer Arbeit, die sie traurig, müde und verletzbar macht, weil sie ihre Zeit lieber mit der Weiterentwicklung ihrer eigenen Videospiele verbringen würde - sie niemand in den nächsten dreißig bis sechzig Minuten bei dieser AoE2-Partie stören wird, kein plötzlicher Anruf von Arbeitskollegen oder vom Threed oder vom Landesgericht für die Neuansetzung eines Termins, keine beißenden Schuldgefühle sozialer Verpflichtungen, nur sie, ihr Rechner, dreieinhalb Liter kalter Pfirsicheistee, das WLAN, eine funktionstüchtige Mikrowelle neben dem Monitor und ihre Gegnerin, die kurioserweise die Chinesen als Zivilisation gewählt hat und laut ihrer IP irgendwo in Argentinien vor dem Bildschirm sitzt, diese Gewissheit gibt ihr ein merkwürdig beruhigendes Gefühl von Geborgenheit und Gleichgültigkeit.
Durch die Straßen der Wohngebiete zieht ein kühler Wind.
Im Haus nebenan versinkt Robins achtzehnjähriger Cousin Lint in seinem Sessel vor dem Fernseher. Die Gummitasten der Fernbedienung sind schwer zu drücken, oft klemmen sie seitlich in der Plastikverschalung fest. Die Jalousien hat er heruntergelassen. Lint ist gerade eben - wie fast jede Nacht - vom Kongress im Norden der Stadt zurückgekommen und heimlich in sein Zimmer geschlichen, um nicht seine Eltern zu wecken. Der Kongress hat nun geschlossen. Alle Säle und Besprechungsräume sind leer, alle Essensstände verlassen, die Technik weggesperrt. Tauben fliegen unter den hohen Decken aus Beton herum und kämpfen in den Lüftungsschächten bis in den Tod um ein winziges Stück Territorium. Der Strom ist abgeschaltet, die Drucker stehen still. Tropfende Wasserhähne auf leeren Toiletten. Alles wartet auf die morgige, die achthundertvierundzwanzigste Tagung. Nur in den Katakomben, unterhalb des Kongresses, sitzt vielleicht noch eine Handvoll militanter Spiritualisten über konspirativen Plänen und hört melancholische Musik, während Lint in seinem Zimmer hockt, erschöpft, aber nicht müde genug, um sich schlafen zu legen. Er kann hören, wie unter ihm sein Vater schlaftrunken ins Badezimmer stolpert. Anders als die meisten seiner Bekannten zieht Lint es vor, sich in seiner Freizeit von seinem altertümlichen Fernseher bestrahlen zu lassen, statt sich die Zeit im Internet zu vertreiben - befreit von der ermüdenden Verantwortung für die eigene Unterhaltung, der Willkür des Satellitenfernsehprogramms ausgeliefert.
Auf den lokalen Sendern übertragen sie zu dieser Uhrzeit fast nur noch Wiederholungen, wie die einer dilettantisch produzierten Kochsendung, moderiert von einem alten Mann in einem graublauen Hemd, der deprimierend simple Rezepte für Einpersonenhaushalte vorstellt. Oder eine Dauerwerbesendung für plastische Chirurgie, bei der Lint an Amir denken muss, einen Vereinskollegen seiner großen Schwester Elsa, dem bei einem Einsatz die obere Hälfte seiner rechten Hand von einem Alligator abgerissen wurde, weshalb nun entlang der wulstigen Naht vom Handgelenk bis zum Ringfinger drei Metallnoppen rausragen, auf die Amir Silikonnachbildungen seines Daumens, Zeige- und Mittelfingers stecken kann. Trotz der Prothese ist er weiterhin für die Violetten Tiger als Ringer aktiv. Lint zappt durch die Kanäle und spielt mit dem Gedanken, Secret of Mana noch eine Chance zu geben, das er sich von Horacio ausgeliehen hat und seit Wochen unberührt in der Konsole steckt. Oder er könnte noch ein bisschen in Levin Cops' Tagebüchern blättern und einige der Stellen nachschlagen, die in den heutigen Vorträgen besprochen wurden. Oder er könnte sich einfach schlafen legen, denn es ist spät und morgen muss er in die Universität. Wie wäre das?
Ihre Gegnerin hat das Spiel noch nicht gestartet. Als Robin in den ersten zwei Tagen nach dem Unfall ihrer Mutter die Nächte im Krankenhaus verbrachte, ließ sie sich von einem bestechlichen und gutherzigen Hausmeister ein Putzlager aufschließen, um abseits vom Krankenhausbetrieb und dem überarbeiteten Personal auf ihrem Lenovo ein paar entspannende Partien AoE2 gegen den Computer zu spielen, wie sie und ihr Bruder es als Teenager oft bis in die Nacht taten. Müde und abwesend torkelten sie am nächsten Tag in die Schule. Auf eine merkwürdige Art findet sie es bis heute befriedigend, die Unzulänglichkeiten der AoE2-KI auszunutzen -...
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