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Der Tanz der Wölfe
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Nach dem Streit sitzt das Mädchen in der Küche, haucht an die Fensterscheibe und malt mit dem Zeigefinger einen Wolf darauf.
Ihre Mutter ist manchmal so zickig. Gio, der Hosenscheißer, hat schon wieder ins Bett gemacht, immer nur Gio, immer kümmert sie sich nur um ihn.
»Jetzt stell dich nicht so an, du bist doch ein großes Mädchen«, sagt die Mutter hinter ihr und bringt ihr eine dampfende Tasse Tee. »Aber was erwarte ich eigentlich von dir, dein Papa ist daran schuld, dass du so ein Tututsi bist.«
Als das Mädchen das hört, tanzen Hunderte Fünkchen in ihren Augen.
»Weißt du eigentlich, wer Tututsi waren?«, fragt sie die Mutter, während sie sich zu ihr dreht.
»Nein, wer?«
»Früher hatten die Könige Diener, die nur dazu da waren, sie zu kratzen, wenn es sie irgendwo juckte.« Sie bekommt einen so heftigen Lachanfall, dass sie die Teetasse beinahe vom Tisch stößt.
»Pass auf! Verbrenn dich nicht, du verrücktes Huhn!«, ruft die Mutter. Auch sie muss lachen.
»Mam.« Das Mädchen hält sie am Bademantel fest und lächelt sie von unten an wie ein Welpe. »Bis der Tee abkühlt, willst du mein Tututsi sein und mir den Rücken kraulen?«
»Wann wirst du eigentlich endlich erwachsen?«, fragt die Mutter, legt die angenehm kühlen Hände auf den kleinen, schmalen Rücken und fängt an, ihn langsam zu streicheln.
Das Mädchen seufzt mit geschlossenen Augen. »Papa sagt, Sonnenmädchen werden überhaupt nicht erwachsen.«
»Anscheinend nicht nur Sonnenmädchen, auch deren Väter scheinen weder erwachsen noch vernünftig zu werden«, lacht die Mutter. Dann küsst sie die weizenfarbenen Haare ihres Mädchens und geht zum Kinderbett. »Jetzt müssen wir uns erst einmal um Gio kümmern, das Kraulen kann warten.«
»Hoffentlich kommt Papa bald zurück«, sagt das Mädchen leise, trinkt den Tee und schaut durch den Wolf auf die Straße.
Alles verdoppelt sich. Dann verdreifacht, vervierfacht es sich. Auf der Theke schimmern die Gläser in allen Farben, Rauch, der sich überall ausbreitet, hängt schwer unter der feuchten Decke, der dreckige Fußboden ist voller alter Kippenreste; lachende Fratzen, schwingende, schweißige Arme, kleine und große Discokugeln, die ihre Umwelt in tausend glitzernde Scherben zerbrechen, um sie in der Luft zu zerstreuen.
Sie taumelt zur Wand, lehnt sich dagegen und versucht, den Beats, die ihren Körper von außen treffen, zu folgen, Ordnung in den durcheinandergeratenen Herzschlag in ihrer Brust zu bringen. Sie muss raus aus den Lichtern, die ihr in die Augäpfel schneiden, weil ihre Lider zu langsam sind, um sie zu schützen. Ihr wird immer schwindliger, sie muss würgen und kommt sich vor wie ein Sandkörnchen, das jede Sekunde von einer riesigen Welle weggespült werden könnte. Sie fühlt sich elend und verloren, blickt sich suchend um.
Wo sind sie denn? Wieso bin ich auf diese beschissene Wette eingestiegen? Sie sind einfach gegangen .
Auf einmal haben sich alle um sie herum in zweibeinige, verschieden große Wölfe verwandelt, deren Glieder in rhythmischen Bewegungen zucken. Nur mit Mühe findet sie durch die verschmolzene graue Masse den Weg Richtung Ausgang.
Als ihr schließlich ein riesiger Wolf die Tür aufmacht, stürzt sie hinaus ins Freie. Das vom Schweiß durchtränkte T-Shirt klebt ihr am Körper, im Mund schmeckt sie saure Kotze. Auch das Haar ist nass und klebt ihr im Gesicht. Sie lehnt die halbnackte Schulter an eine eiskalte Mauer, ihr Körper windet sich, lässt nicht locker. Sie ringt um Luft, der Krampf entzieht ihr alle Kräfte. Als sie sich endlich aufrichten kann, spürt sie, wie die Wirkung des Alkohols noch immer stärker wird. Ihre Augen suchen nach Halt, irren herum, finden nichts. Das ehemalige Industriegebiet ist nachts noch trister, dunkler, bedrohlicher als tagsüber. Nur hier und da scheinen die schwachen gelblichen Lichter der Straßenlaternen.
Ich bin eine von ihnen, ich bin auch eine Wölfin. Der Gedanke schneidet ihr durch den Kopf, und sofort zwingt sie den verschwommenen Blick auf das verdreckte Spiegelbild in der Fensterscheibe, neben der sie steht. Ein Mädchen schaut zurück; Jeans, weißes T-Shirt, ängstliche Augen. Sie sieht so klein aus, denkt sie.
Die Jacke! Auf einmal erinnert sich der summende Bienenstock in ihrem Kopf, und sie zittert, spürt die Kälte der Nacht. Soll sie zurück, wieder runter in das feuchte, dreckige Loch? Aber dort sind die Wölfe. Sie weiß nicht mal, wo sie die Jacke hingeworfen hat.
Wie aus dem Nichts hält ein Taxi direkt vor ihr, endlich kehrt Wärme in ihren Körper zurück. Als sie gerade in das Auto gekrochen ist, fällt ihr das Geld ein, das noch in der Jackentasche ist.
»Fick dich!«, sagt sie viel zu laut.
»Was? Bist du nicht ganz dicht? Raus aus dem Wagen, aber dalli!«
Erst jetzt bemerkt sie, dass auch am Steuer ein Wolf sitzt, ergraut und gebrochen. Auf dem Kopf hat er ein kariertes Basecap.
»Nein, dich habe ich nicht gemeint. Mein Geld, ich habe es im Klub vergessen.«
»Dann mach, dass du rauskommst, los! Ich bin doch nicht vom Roten Kreuz!« Der alte Wolf hat sich umgedreht und schaut das Mädchen direkt an, dann dreht er sich wieder nach vorne und spuckt verärgert aus dem offenen Fenster.
»Dann fick dich doch einfach wirklich!«
Sie knallt die Tür mit voller Wucht zu, und als sie hört, wie der graue Wolf bedrohlich schimpfend aus dem Wagen steigt, läuft sie mit unsicheren, aber schnellen Schritten in Richtung des nahe gelegenen Parks.
Die Lichter der Straßenlaternen werden schwächer, schon nach wenigen Schritten wird es dunkler, es dauert, ehe ihre Augen die Umrisse der dichten Baumkronen vom Himmel unterscheiden können. Sie riecht die frische, kühle Luft und geht weiter, taucht in tiefe Dunkelheit ein. Auf einmal hört sie jaulendes Lachen hinter sich, dann das Aufheulen eines Autos. Sie geht schneller. Verdammt, das ist gar kein Park, das ist ein richtiger Wald. Wieso bin ich nicht zur Autobahn gelaufen? Sie zittert. Erst jetzt bemerkt sie, dass es nieselt. Sie schleppt sich zwischen den tropfenden Bäumen dahin. Das feuchte Gras durchnässt die Ränder ihrer etwas zu langen Jeans. Sie geht mit hochgezogenen Schultern. Sie friert.
Da sind Laufschritte hinter ihr, sie wird unbedacht langsamer. Es sind mehrere, ein Schauder läuft ihr über den Rücken. Innerhalb von Sekunden ist sie nüchtern und spürt nichts, weder Regen noch Kälte, nur ihren Herzschlag. Sie verwandelt sich in einen pulsierenden Nerv, in ihren Ohren klingt ein Geräusch wie von einer falsch aufgezogenen Saite. Vor sich, vom plötzlich hinter den Wipfeln hervorgetretenen Mond beschienen, taucht eine kleine Kreuzung aus dem Dunkel auf. Wenn du nach links gehst, stirbst du. Wenn du nach rechts gehst, stirbst du. Wenn du geradeaus gehst, überlebst du. Sie erinnert sich an das Märchen, das ihr der Vater immer vorgelesen hat.
Nur für einen Augenblick verlangsamt sie die durcheinandergeratenen Schritte noch einmal, dann biegt sie nach links ab. Die Geräusche hinter ihr werden lauter. Tiergestank kommt näher, die Stimme eines Betrunkenen fragt:
»Wohin des Weges, Mädchen?«, und auf ihre vor Kälte und Angst gespannte Schulter legt sich die Pfote eines noch jungen Wolfes.
Mechanisch bewegt sie die Schulter, versucht, ihn abzuschütteln und sich mit geschlossenen Augen an die Stimme des Vaters zu erinnern. So lief Rotkäppchen durch den Wald, als plötzlich ein Wolf aus dem Gebüsch sprang.
»Ich rede mit dir, Göre, wo glotzt du hin?« Er lässt nicht locker. Die Pfote verwandelt sich in einen kalten, glatten Fisch und dreht das Mädchen grob nach hinten. Dann schlägt ihr der nasse Fischschwanz schmerzhaft ins Gesicht. Das Mädchen öffnet die schweren Augenlider und sieht drei in Jeansjacke und teure Sportschuhe gekleidete Wölfe mit blitzenden Zähnen. Zähne und Schuhe leuchten im Dunkeln so weiß, dass sie den schwarzen Wald viel mehr erhellen, als der Mond es jemals könnte.
»Ich gehe zur Oma .«, als ob jemand Fremdes mit ihrer verlorenen Stimme antwortet.
»Ich glaube, sie ist wirklich nicht ganz dicht!«, lacht der zweite Wolf, plötzlich fährt eine Schlangenzunge aus seinem offenen Rachen.
»Umso besser!« Jetzt grinst der dritte Wolf, und seine weißen Zähne scheinen noch schärfer als die der anderen.
Das Mädchen will zurück Richtung Kreuzung, sie versucht ihre Beine in Bewegung zu setzen.
Tsikara, der georgische Märchenheld, blickte nach hinten und befahl dem Jungen, den Kamm wegzuwerfen . Wieder hört sie die Stimme des Vaters, die ihr über den Kopf streichelt, und das Geräusch des Umblätterns von Papier. Auf einmal packt sie eine der Pfoten. Andere Pfoten kommen zu Hilfe und schleppen das Mädchen unter aufgeregtem Keuchen zu einem großen Baum. Sie werfen sie auf den nassen Boden und überschwemmen sie mit tierischen Gerüchen und rauen Fellen. Mit scharfen Krallen zerreißen sie ihr die Kleidung und aus den geöffneten Mäulern fällt Speichel wie die ersehnte Götterspeise auf den Körper des Mädchens.
»Ich bin als Erster dran!«, sagt der erste Wolf. Die Kälte dieser Stimme duldet keine Widerrede.
»Ist gut«, winselt der Zweite, »aber schnell, Gio. Ich explodiere gleich.«
Er ist schon wieder nicht da. Sie schaut aus dem Fenster, aber auf dem Schulhof ist niemand. Er lässt sich seit fast zwei Wochen nicht mehr blicken. Sie seufzt und wirft einen kurzen Blick Richtung Tafel, wo die Lehrerin gerade dabei ist, die Aufgaben für den Test anzuschreiben. Er ist nicht da, sie bekommt den...
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