Schweitzer Fachinformationen
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Der dichte Schneefall hatte Julias hellbraune Locken längst weiß geschmückt. Ihre Wangen waren von der Kälte gerötet, die blauen Augen hellwach. Wie eine dem Tod geweihte Prinzessin sah sie aus, einem Tod, dem sie verzweifelt zu entfliehen versuchte.
»Neeein!«, schrie sie keuchend auf und hetzte weiter barfuß den Berghang hoch. Sie verschwendete keine Zeit mit einem Blick zurück, denn sie wusste auch so, dass ihr Verfolger ihr schon wieder näher kam. Wie er das schaffte, war rätselhaft und beängstigend und raubte ihr weiter Kraft und beinahe den letzten Hoffnungsschimmer.
Ausgerechnet in diesem Jahr war der Winter früher übers Oberengadin hereingebrochen, sodass in dieser Nacht die goldenen Lärchen mit weißen Häuptern im kniehohen Schnee standen. Wie stumme Betrachter blickten sie regungslos auf die Tragödie, die sich zu ihren Füßen abspielte. Die Natur kannte nun mal weder Gut noch Böse, nur das Überleben und das Sterben. Den Bäumen war es daher einerlei, ob unter ihnen das heimische Rudel Wölfe ein verletztes Tier hetzte oder eine junge Frau mit letzter Kraft versuchte, ihrem Entführer zu entkommen.
In der nächtlichen Stille ruhten im Hochtal die Engadiner Seen schwarz glänzend in der Kälte, noch waren sie nicht gefroren. Die Dörflein an ihren Ufern schliefen schon, und das gleißende Licht des vergangenen Bergsommers war längst entschwunden. Dafür kräuselte nun der Rauch aus einigen der Kamine und würzte die Winterluft in den Dörfern, deren Häuser sich wie steinerne Herdentiere schützend um den Kirchturm scharten.
Vor wenigen Minuten war der gedämpfte Klang einer Glocke von irgendwoher unheilverkündend an Julias Ohr gedrungen, als läutete er ihr Ende ein. Drei bedrohliche Schläge waren es gewesen, und auf jeden der Schläge war diese Stille gefolgt, als wäre jeder Schlag schon der letzte gewesen. So ähnlich fühlte sich die Jagd auf sie bisher an: Zwei Mal schon hatte ihr Verfolger sie beinahe erwischt und ihre Hoffnung fast zerstört, doch beide Male war sie ihm im letzten Moment wieder entkommen. Sie fürchtete sich nun vor ihrem dritten und vielleicht letzten Glockenschlag und mehr noch vor der drohenden Totenstille danach!
Doch die junge Berlinerin dachte im Traum nicht ans Aufgeben und flüchtete, vom puren Überlebenswillen getrieben, weiter durch das Schneegestöber.
Vor ungefähr einer halben Stunde war ihr weiter unten an der Landstraße, die dem rechten Ufer des Silsersees Richtung Maloja folgte, die Flucht aus einem grauen Transporter gelungen. Ihr Entführer hatte eine, wie es ihr schien, dringende Pinkelpause einlegen müssen. Sie hatte gehört, wie er sich direkt neben dem Fahrzeug lautstark erleichterte, als wäre seine Blase kurz vor dem Platzen gewesen. Als er danach von außen mit der flachen Hand an die Karosserie geschlagen hatte, der Laderaum des Fahrzeuges war fensterlos, hatte sie keine Antwort gegeben, sich leblos gestellt. Er polterte erneut, rief, dass sie gefälligst antworten solle, ehe er unwillig die Schiebetür aufzog und seinen Kopf ins Innere des Wagens streckte. Ein Schwall kalter Luft strömte in den beheizten Innenraum.
Das Fahrzeug schaukelte unter dem Gewicht des Mannes, während er zustieg. Als er Julia mit der Fußspitze anstieß, keuchte sie: »Mir geht's schlecht, ich brauche Wasser .«
»Verdammt, was ist denn mit der los?«, fluchte er mit Blick auf die unter ihm Liegende. Er beschloss, ihr schnell etwas zum Trinken aus der Fahrerkabine zu holen, denn er hatte schließlich noch etwas mit der jungen Frau vor, und dazu brauchte er sie quicklebendig und im Moment noch in einem Stück. Er zog die Schiebetür nur teilweise hinter sich zu, ließ sich von Julias gekonntem Schauspiel blenden - dass sie bereits im dritten Jahr an der Schauspielschule Berlin studierte, zahlte sich nun aus -, sodass sie in dem Moment aus dem Transporter entwischen konnte, als er auf der anderen Seite rumpelnd in die Fahrerkabine einstieg.
Julia war verstört, als sie in die Nacht flüchtete, und nicht nur wegen des Grauens, das sie ereilt hatte - Schnee?!
Die 26-Jährige rannte sofort entgegen der Fahrtrichtung des Transporters davon. Auf der Straße vor ihr lag eine dicke Schneedecke, der dichte Schneefall raubte ihr die Sicht. Sie war barfuß, trug aber immerhin noch ihre Jeans und ihr Shirt. Noch spürte sie die Kälte nicht.
»Bleib sofort stehen, du hinterhältiges Luder!«, schrie ihr Entführer voller Zorn, als er ihre Flucht bemerkte, und nahm sofort die Verfolgung auf.
Doch Julia war nicht nur eine gute Schauspielerin, sie war auch eine hervorragende Läuferin, und so musste er nach ein paar hundert Metern einsehen, dass es keinen Zweck hatte und er so nur wichtige Zeit verlor. Diesmal hatte er sein Opfer zwar nicht unterschätzt, und dennoch war sie ihm entwischt!
Er eilte zum alten Transporter zurück, startete den unverwüstlichen Dieselmotor, die Scheinwerfer glommen auf und fingen in ihren gelben Lichtkegeln das hektische Schneetreiben ein.
Drei Anläufe musste er nehmen, ehe ihm das Wenden gelang, denn die Räder drehten durch, sobald er in seiner Hektik zu viel Gas gab. Die Geräusche des Wagens wurden vom Schnee gedämpft.
Julia hatte keinen Schimmer, wo sie sich befand. Sie rannte weiter durch die bergige Winterlandschaft und erkannte links von sich neben der Straße eine Natursteinmauer, über der sich ein mit Holzstämmen errichteter Wall erhob. Im Schneetreiben blickte sie über die andere Straßenseite hinweg auf den See, der sich hinter der Leitplanke schwarz abhob. Die Sicht reichte aber nicht weiter als 20 Meter. Bei diesem Schneesturm war es unmöglich, ein Licht oder gar eine Ortschaft in der Ferne auszumachen, erkannte sie panisch.
Sie konnte zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, geschweige denn wissen, dass sie exakt in Richtung des Dörfleins Sils im Engadin blickte, das schräg rechts vor ihr, vom Schneetreiben und der Nacht verschluckt, auf der anderen Seeseite ruhte. Und Julia wusste auch nicht, welcher Tod dort auf sie wartete, falls sie ihrem Peiniger nicht würde entkommen können. Ebenso wenig konnte sie wissen, dass ihr Entführer sich zuvor im dichten Schneetreiben verfahren hatte, bereits Richtung Maloja unterwegs gewesen war, das einige Kilometer weiter am Ende des Silsersees lag. Nur deswegen hatte er überhaupt eine Pause einlegen müssen. Doch Julia war aus dem Transporter entkommen, nur das zählte im Moment, und sie hatte Hoffnung.
Am Ende einer weiteren Böschungsmauer verließ sie die Straße und schlug sich kämpferisch die steile Bergseite hoch, hinein in den Lärchenwald, als sie gedämpften Motorenlärm hörte.
Der Mann fuhr nicht nur wegen der prekären Straßenverhältnisse langsam; Julia wusste, dass er versuchen würde, ihren Spuren im Schnee zu folgen, die ihren Fluchtweg zwangsläufig verrieten. Sie musste ihren Vorsprung daher rasch ausbauen, damit der heftige Schneefall ihre Spuren noch rechtzeitig bedecken konnte.
Minuten später hörte Julia nur noch ihren rhythmischen Atem, während sie zeitweise auf allen vieren weiter den Berg hochhetzte. Immer wieder rutschte sie aus, musste sich erneut aufraffen. Doch plötzlich vernahm sie leise das Zuschlagen einer Autotür. Wahrscheinlich hatte er ihre Spuren am Wegrand gefunden. Es hörte sich weit von ihr entfernt an, er würde ihre Spur also bestimmt bald verlieren, so hoffte sie zumindest, denn Wind war aufgekommen.
Mit betont gedehnten Worten schrie er durch das Schneetreiben zu ihr hoch: »Ich komme dich jetzt holen!«
Seine tiefe, außerordentlich kraftvolle Stimme war beängstigend, ließ Julia für einen Moment erstarren, auch wenn die Stimme irgendwo weit weg aus dem weißen Nichts zu kommen schien. Sie musste weiter.
Julias Angst spornte sie an, sie wollte nicht nachlassen, denn die Sicht wurde stetig schlechter, zeitweise waren die dunklen Baumstämme um sie herum kaum noch zu erkennen. Der böige Wind würde die Spuren hinter ihr bald vollständig verweht haben. Sie war sich sicher, dass der Schneefall ihr Leben retten würde. Doch dem war nicht so.
Sie hetzte durch den kniehohen Schnee, doch wohin sie sich auch wandte, ihr Verfolger blieb ihr dicht auf den Fersen. Zweimal entkam sie ihm nur ganz knapp.
Um kurz nach 3 Uhr keimte zaghaft die Hoffnung in Julia auf, ihren Verfolger definitiv abgeschüttelt zu haben. Sie verharrte deshalb einen Augenblick, musste zu Atem kommen. Dabei war in den Atempausen nichts anderes zu hören als der Schnee, der nun nicht mehr in weichen Flocken fiel, sondern wütend körnig auf sie niederprasselte.
Sie wähnte sich in Sicherheit.
Erst jetzt merkte Julia, dass ihre Füße mittlerweile ganz taub waren. Sie musste dringend wieder hinunter zur Straße, denn jede Straße musste doch irgendwann zu einer Behausung führen, dessen war sie sich sicher. Vielleicht war ja sogar der Winterdienst mittlerweile unterwegs, auch wenn das orange Blinken und der Lärm der schweren Motoren nicht bis zu ihr durchdringen könnten.
Sie rieb mit ihren kalten Fingern ihre tauben Füße und schlug danach eine andere Richtung ein, schräg hinunter zur Straße, sonst wäre bald der Schnee alleine ihr Verderben gewesen. Außerdem würde ihr Verfolger sie wahrscheinlich hier oben suchen. Vielleicht würde sie sich irgendwo am Straßenrand verstecken können, bis ein Wagen vorbeikam, hoffte sie. Oder vielleicht fand sie ja unterwegs eine Hütte. So oder so, sie musste sich möglichst rasch irgendwo aufwärmen. Außerdem hatten die Glockenschläge, die sie soeben gehört hatte, nicht nur die Angst um ihr Ende eingeläutet, sondern auch verkündet, dass irgendwo in der Nähe ein Dorf sein...
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