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Die Geografie kann man vergessen: Russland gehört nicht mehr zu Europa - und will es auch nicht. Formell, auf der Landkarte, wird die Russische Föderation bis zum Uralgebirge auch weiterhin Teil des europäischen Kontinents bleiben. Aber von einer weltanschaulichen, politischen, mentalen und selbst wirtschaftlichen Zugehörigkeit kann nach dem russischen Krieg gegen die Ukraine keine Rede mehr sein. Wir erleben eine fundamentale Entfremdung, schlimmer noch: Für meine Heimat ist Europa jetzt der Feind. Eigentlich meint genau das der in Deutschland so populär gewordene Begriff Zeitenwende.
Es hat also keinen Sinn, sich weiterhin an die Vision vom »gemeinsamen Haus Europa« mit Russland zu klammern, mit der irgendwann in längst vergangenen Zeiten der unter heutigen Russen zumeist verhasste oder bestenfalls vergessene sowjetische Präsident Michail Gorbatschow die Herzen gerade der Deutschen eroberte. Auch einen »Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok«, wie verlockend eine solche Perspektive auch gewesen sein mag, wird es nicht geben. Selbst die stets beschworene Gemeinsamkeit auf den Gebieten der Kunst und Kultur scheint man immer mehr rückblickend zu betrachten.
Wir alle, die wir ein europäisch geprägtes, demokratisches Russland gewünscht und erhofft hatten, sollten den Mut haben, uns einzugestehen: Es hat nicht funktioniert, wir haben verloren. Mit dem Marschbefehl am 24. Februar 2022 hat Wladimir Putin den Bruch Russlands mit Europa vollzogen.
Einen Bruch für wie lange? Für Jahre? Jahrzehnte? Oder stehen wir womöglich sogar am Schlusspunkt einer ganzen Epoche in der russischen Geschichte? Einer Epoche, die vor mehr als 300 Jahren damit begann, dass Zar Peter der Große »ein Fenster nach Europa aufstieß«, um mit den Worten des russischen Nationaldichters Alexander Puschkin zu sprechen. Endet sie nun damit, dass dieses Fenster - wiederum auf Drängen eines russischen »Zaren« - zugestoßen, verschlossen, zugemauert wird? Um es dieses Mal mit einem Fenster nach Asien zu versuchen? Das können wir noch nicht beurteilen, dafür ist es zu früh. Aber einen solch epochalen Richtungswechsel kann man nicht ausschließen nach all dem, was dieser verfluchte Krieg in den Köpfen und Seelen russischer Menschen angerichtet - und welche Abgründe er dort offenbart hat.
Anfangs war man ja, besonders in Deutschland, noch bemüht, sich einzureden, dass dies lediglich »Putins Krieg« sei. Dabei wussten doch gerade die Deutschen nach jahrzehntelanger Aufarbeitung ihrer eigenen Geschichte nur zu gut, dass es nie allein der Führer ist, der in einen Krieg zieht. Aber allmählich begann sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass es »Russlands Krieg« ist, dass er nicht nur gegen die Ukraine, sondern gegen Europa, Amerika, gegen den gesamten Westen geführt wird. Und dass dieser Krieg eigentlich schon 2014 mit der Eroberung der Krim - und der darauffolgenden faktischen Teilbesetzung der Ostukraine - begonnen hatte. Die damalige militärische Rückholung der Halbinsel heim ins Reich und die buchstäblich grenzenlose Begeisterung zahlloser Russen überall auf der Welt über diese Annexion - das war der eigentliche russische Sündenfall. Damals schon wurde der Point of no Return überschritten. Ohne dieses berauschende innenpolitische Erfolgserlebnis - fast die ganze Nation wiederholte frenetisch den Siegesslogan »Die Krim ist unser!« (Krim nasch) - hätte Putin acht Jahre später nicht zum Großangriff auf die Ukraine geblasen und dem Westen den totalen Glaubenskrieg erklärt.
Beim Blick in die Zukunft lautet die Schlüsselfrage daher nicht, warum Putin das gemacht hat, sondern warum die russische Gesellschaft all das mitgemacht hat. Warum erwiesen sich die imperialen Komplexe und aggressiven Wunschträume eines alternden Präsidenten mit fortschreitender Sowjetnostalgie als derart mehrheitsfähig? Warum fiel der offiziell propagierte Hass gegen die Ukrainer, Amerikaner, Europäer auf so fruchtbaren Boden? Warum waren in Russland, machen wir uns da nichts vor, die meisten für oder zumindest nicht gegen die »militärische Spezialoperation«? So wurde im verlogenen offiziellen russischen Neusprech der vollumfängliche Angriffskrieg gegen die Ukraine genannt, also die am 24. Februar 2022 auf mehr als tausend Kilometern Frontlinie begonnene Vollinvasion in das Nachbarland. Warum kamen bei den breiten Bevölkerungsschichten selbst die krudesten Propagandalügen über diesen Krieg so gut an? Warum gab es so viel Kriegsbegeisterung, sogar unter den im Ausland lebenden Menschen mit sowjetisch-russischen Wurzeln?
Ehrliche Antworten auf diese entscheidenden Fragen sind wichtig, um sich keine Illusionen über die Zeit nach Putin und generell über eine Nachkriegszeit zu machen. Und eine Illusionslosigkeit ist wichtig, um nicht in alte Fehler in den Beziehungen mit dem großen Nachbarn im Osten zu verfallen. Um keinen falschen Hoffnungen hinterherzulaufen und um nicht zu viel Zeit, Geld, Kraft und Herzblut in erneute Annäherungsversuche mit sehr zweifelhaften Erfolgsaussichten zu investieren.
Denn all diese kostbaren Ressourcen wird die Europäische Union dringend brauchen, um sich für eine eindeutig rauer werdende Welt zu wappnen und um, wenn es um den Osten des Kontinents geht, die Ukraine, die einen so hohen menschlichen und materiellen Preis für ihre Unabhängigkeit, ihre europäische Zukunft und die Verteidigung Europas hat zahlen müssen, bei ihrer Vorbereitung auf eine EU-Mitgliedschaft zu unterstützen. Sollte dieser schwierige Beitrittsprozess am Ende von Erfolg gekrönt sein, wovon ich fest ausgehe, wäre damit auch der historische Beweis erbracht, dass ein postsowjetischer, slawischer, von der orthodoxen Kirche geprägter Staat zur Demokratie und Marktwirtschaft nach modernen europäischen Kriterien fähig ist.
Auch Belarus wird mit großer Wahrscheinlichkeit diesen Beweis erbringen können, wenn bzw. sobald es sich aus der totalitären »brüderlichen Umarmung« eines geschwächten Russlands löst und sich ebenfalls auf den Weg nach Europa macht. Der Versuch der sehr sympathischen, ausgesprochen friedlichen, betont femininen Revolution im Jahr 2020 hat gezeigt, dass dieses Land mit traditionellen Bindungen zu Polen und Litauen zu jenem Zeitpunkt möglicherweise bereits viel europäischer war, als es die jahrzehntelange Diktatur des Alexander Lukaschenko vermuten ließ. Im Grunde genommen bestand das Hauptproblem dieser Revolution darin, dass sie von vornherein zu zivilisiert, eben zu europäisch war, um einen skrupellosen Machthaber alter sowjetischer Schule mit starker Rückendeckung aus Russland zum freiwilligen Machtverzicht zu bewegen. Auf jeden Fall sollte man bei den Überlegungen zur künftigen EU-Mitgliedschaft der Ukraine stets auch Belarus mitdenken.
Aber in meinem Buch geht es nicht um diese beiden Länder, sondern um Russland, um die von Putins langer Herrschaft und dem Überfall auf den Nachbarstaat schwer gezeichnete russische Gesellschaft und um die Stimmungen unter den Auslandsrussen. So bezeichne ich der Einfachheit halber alle ausgereisten Russländer, also Bürger Russlands unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit, sowie verallgemeinernd auch jene Menschen mit Wurzeln auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion, die Russisch als ihre Muttersprache betrachten. Sie alle bilden die russischsprachige Diaspora.
Ich bin Russe, Russländer und somit Teil dieser Diaspora, deshalb ist mein Buch ein Blick von innen, ich beurteile meinesgleichen. Das erlaubt mir, (selbst-)kritischer zu sein, als es möglicherweise ausländische Autorinnen und Autoren wären - vor allem deutsche, denen der Gedanke an ihre historische Schuld immer ein bestimmtes Maß an Zurückhaltung auferlegt. Mein Blick ist sicherlich subjektiv, er ist auch emotional gefärbt, aber er wurde in mehr als vier Jahrzehnten journalistischer Arbeit geschärft.
Gleichzeitig ist es ein Buch über Russland und Europa, hauptsächlich aber über Russland und Deutschland - und in gewissem Maße auch über die Deutschen, über ihre Wahrnehmung Russlands und überhaupt über ihre Art, die Welt zu sehen, wobei ich so manche Untugenden der Deutschen eher als Fortsetzung ihrer Tugenden betrachte - im Kapitel über die Russlandversteher werde ich erklären, was ich damit meine.
Daher habe ich dieses Buch in deutscher Sprache gezielt für deutsche Leserinnen und Leser geschrieben. Die Deutschen hatten trotz - oder gerade wegen - unserer tragischen gemeinsamen Vergangenheit eine erstaunlich innige Beziehung zu meiner Heimat entwickelt. Sie beruhte auf einem Mix aus Schuldgefühl und Sympathie, Interesse und Faszination, Mythen und Geschäftssinn. Kein anderes großes europäisches Land unterhielt in den letzten Jahrzehnten so zahlreiche und so intensive wirtschaftliche und menschliche Kontakte zu Russland wie die Bundesrepublik. Die Annäherung unserer beiden Völker in den 1990er-Jahren und in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts war eine Erfolgsstory, und es bereitete mir journalistisch und menschlich viel Freude, an ihr nach Kräften mitzuschreiben.
Nun aber sehe ich mich gezwungen, vor den illusorischen Erwartungen zu warnen, es könne nach einem Ende des Ukrainekrieges, wie immer es auch aussehen möge, wieder eine ähnliche Annäherung mit Russland geben, mehr noch, es müsse sie geben und Deutschland habe dabei wieder eine Vorreiterrolle zu spielen. Ich befürchte, dass viele der ehrlichen, aufrichtigen Freunde Russlands, denen ich in all den Jahren bei zahllosen Reisen durch Deutschland begegnet bin, immer noch nicht...
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