2
Ich will das Tor zur Vergangenheit noch einen Moment lang schließen und ein wenig über die Gegenwart erzählen. Red und ich leben in der gewaltigen, sonnenversengten Megalopole Beijing. Ich bin achtundzwanzig, und Red ist neunundzwanzig, doch in wenigen Tagen wird er dreißig. Laut Konfuzius soll ein Mensch mit dreißig Jahren sesshaft werden, aber Red und ich hatten noch nie das Gefühl, irgendwohin zu gehören, was in einer Stadt wie dieser auch schwer fällt. Ich denke, wir sind in dem Alter, in dem man sich des Verlusts seiner Jugend bewusst wird, auch wenn sich für mich nichts Wesentliches verändert hat. Mit achtundzwanzig hat man die Dummheit der Jugend gerade hinter sich gelassen, ist aber immer noch weit von den Achtzigern entfernt. Das Einzige, was ich an dieser Zahl irgendwie von Bedeutung finde, ist, dass die Meeresgöttin Mazu Niangniang achtundzwanzig war, als sie starb. Natürlich haben die Menschen in der Stadt der Steine niemals das Wort «gestorben» benutzt. Sie sei «direkt in den Himmel aufgestiegen» und unsterblich geworden, hieß es. In der ganzen Stadt gab es keinen Fischer und keine Frau, die das Andenken der Meeresgöttin nicht in Ehren gehalten hätten. Zu ihren Lebzeiten war Mazu Niangniang eine weise Frau, von der man sagte, sie könne schlechtes Wetter vorhersagen und sogar Schiffe aus einem Taifun retten. Als Mazu Niangniang mit achtundzwanzig an einer Krankheit starb, hinterließ sie eine Reihe von Tempeln, die zu ihrem Andenken gestiftet wurden. Aus ihnen wehten Weihrauchwolken über den Taifun umtosten Felsvorsprung der Stadt der Steine. Und jetzt bin ich selbst achtundzwanzig geworden. Ich lebe noch, und es geht mir gut, auch wenn ich nicht ganz sicher bin, ob man es wirklich gut nennen kann, denn ich habe oft Angst. Wovor ich Angst habe, weiß ich selbst nicht so genau. Mazu Niangniang hat sicher nie Angst gehabt. Vielleicht konnte sie gerade deshalb anderen so viel Liebe und Mitleid entgegenbringen. Ich habe mich immer nur um mich selbst gekümmert.
Ich arbeite in einer Videothek im Haidian-Viertel im Norden Beijings, in einer Nebenstraße der Universitätsstraße. Es ist ein winziger Laden, der zwischen anderen Häusern eingezwängt ist und an einer Allee aus riesigen Pappeln liegt. Jedes Frühjahr werfen diese Pappeln Millionen flaumiger weißer Samenhülsen ab, die wie schmutzige Bällchen aus Rohbaumwolle durch die Luft schweben. Links von der Videothek befindet sich ein Drogeriemarkt, der sich auf die Art Medikamente, Spielzeuge und Stimulierungsmittel spezialisiert hat, die man euphemistisch als «Erwachsenenartikel» bezeichnet. Im Laden zur Rechten wird knallbunte Kinderkleidung eines kleineren Herstellers verkauft. Unsere drei Läden existieren sehr friedlich nebeneinander, da keiner von uns jemals dem anderen die Kundschaft streitig machen kann. So klein und unauffällig unsere Läden auch sein mögen, gerade mal winzige Pünktchen auf einem Plan, so braucht uns diese Stadt genauso, wie wir diese Stadt brauchen.
Ich arbeite halbtags in der Videothek. Der Laden ist nur zwölf Quadratmeter groß, und die Wände sind mit Postern von Filmstars wie Jackie Chan, Tom Cruise und Julia Roberts und mit Werbeplakaten für Filme aus Amerika und Hongkong vollgepflastert. Meine Aufgabe ist es, Videos zu verleihen, deshalb stehe ich jeden Tag hinter der winzigen Theke und helfe den Kunden, die gewünschten Kassetten zu finden, tippe Preise in die Kasse und schaue in die neuesten Filme rein. Die Arbeit ist zwar recht eintönig, aber immerhin kann ich dabei Filme sehen, und ich verdiene genug, um unsere Miete zu zahlen. Red hat gerade wieder einen Job geschmissen, vielleicht besser so, denn er hasst jede Arbeit. Er sagt, arbeiten sei idiotisch. Zum Glück hat er Eltern, die ihm finanziell unter die Arme greifen. Doch insgesamt ist Red ein anständiger Kerl, auch wenn ich nicht weiß, wie lang wir noch zusammen sein werden.
Red und ich leben wie ein Paar Einsiedlerkrebse in einem riesigen Hochhausblock. Er hat fünfundzwanzig Stockwerke, und wir wohnen im Erdgeschoss. Manchmal, wenn wir unter die Decke gekuschelt im Bett liegen, haben wir das Gefühl, als würden unsere Körper immer schwerer, bleiern und unbeweglich. Vielleicht hat das mit den vierundzwanzig Stockwerken über uns zu tun, mit der geballten Schwerkraft Tausender Mitbewohner, die auf uns drückt. Genau genommen passt der Vergleich mit den Einsiedlerkrebsen auch gar nicht, eher müsste man sagen, dass wir sie beneiden, weil sie in einer Behausung leben, die sie einfach mit sich herumtragen können. Einsiedlerkrebse können jederzeit aus ihrer Muschel oder ihrem Schneckenhaus herauskriechen und in eine neue, bessere Muschel umziehen, was Red und mir nicht möglich ist.
Deshalb leben wir wie zwei Einsiedler in dieser Erdgeschosswohnung, klammern uns aneinander wie zwei Ertrinkende, lesen still unsere Bücher und verschlafen die Tage wie zwei ältere Menschen, die wissen, dass sie für diese Welt nicht mehr viel Zeit übrig haben. Wir haben nie versucht, uns eine Katze oder sogar einen Hund zu halten, aber wir hatten einmal ein paar Topfpflanzen, von denen wir hofften, dass sie irgendwann blühen würden. Wir haben es leider nie erlebt, weil das gegenüberliegende, ebenfalls fünfundzwanzig Stockwerke hohe Gebäude fast kein Sonnenlicht in unsere Wohnung ließ. Anders gesagt, um auch nur ein wenig Sonnenlicht zu ergattern, hätten sich diese kümmerlichen kleinen Topfpflanzen so lang wie möglich strecken und alles Licht auftanken müssen, das morgens in der kurzen Zeit von genau acht Uhr bis acht Uhr fünfundvierzig durchs Fenster fiel. Hatten sie diese wertvollen fünfundvierzig Minuten fahlen Sonnenlichts verpasst, mussten sie abwarten und versuchen, es bei der nächsten Gelegenheit zu schaffen, wenn die Sonne zwischen sechzehn Uhr und sechzehn Uhr fünfundvierzig noch einmal ins Zimmer schien. Außerdem konnten sie nur hoffen, dass ihre Besitzer daran gedacht hatten, die Kleider wegzunehmen, die sie zum Trocknen aufgehängt hatten, ebenso all die durcheinanderliegenden Gegenstände, die ihnen das Licht nahmen. Wenn wir das vergaßen, raubten wir den Pflanzen grausam die ihnen zustehende Tagesration Sonnenlicht. Schließlich starben sie nach nur sechs Monaten bei uns einen frühen und vielleicht schicksalhaften Tod.
Eine Zeit lang besaßen wir auch zwei glupschäugige Goldfische, die wir nach den beiden Figuren der japanischen Fernsehserie Tokio Love Story Kanji Nagao und Rika Akana tauften. In der Hoffnung, dass sie sich ganz im Geist dieser unsterblichen Fernsehromanze entwickeln würden, stellten wir Kanji und Rika in einem großen grünen Glasbecken ans Fenster. Als wir nach einiger Zeit erkannten, dass sich die Goldfischzucht für uns mehr oder weniger darauf beschränkte, jede Woche auf dem Markt Ersatz- Kanjis und -Rikas zu kaufen, brachten wir es nicht mehr übers Herz, weitere Kreaturen zu dem grünen Aquarium zu verdammen. Es steht noch immer am selben Platz auf der Fensterbank, hat allerdings mittlerweile einen viel trockeneren Grünton angenommen. Die Romanze zwischen Kanji und Rika ist nur noch eine belanglose Erinnerung - Red und ich sind als einzige Lebewesen in dieser düsteren Erdgeschosswohnung übrig geblieben, wenn man mal von den Kakerlaken absieht, die gelegentlich über den Boden krabbeln.
Natürlich gibt es in unserem Hochhaus noch die anderen Mieter, und die scheinen tagaus, tagein beschäftigt zu sein. Sie kochen und kacken, vögeln und feiern, drücken ständig auf die Toilettenspülung, duschen, bohren, streiten, schlagen ihre Kinder, um sie im nächsten Moment wieder zu hätscheln, machen Aerobic-Übungen und spielen Mah-Jong - von morgens bis abends, an Wochentagen, Wochenenden und in den Ferien. Als würde die überschäumende Energie ihres Alltagslebens und die geballte Kraft ihres trivialen Daseins sich Schicht für Schicht über uns auftürmen und in alle fünfundzwanzig Stockwerke unseres Gebäudes ausdehnen. Diese Schichten drücken auf unsere triste Erdgeschossexistenz und ähneln darin meinen Kindheitserinnerungen, die sich langsam über mein sonst so ruhiges Leben zu legen beginnen. Manchmal versuche ich, mit Red über die Stadt der Steine zu reden, und dann merke ich, dass er eigentlich nur sehr wenig über mich weiß. Meine Gefühle oder meine Vergangenheit haben in unserer Beziehung nie eine besondere Rolle gespielt. Red und ich haben unterschiedliche Lebenslinien, das Blut fließt anders in unseren Adern. In der Nacht mögen unsere Körper sich vereinigen, doch unsere Erinnerungen verschmelzen nie, weder bei Tag noch bei Nacht.
Zwischen unseren Lebensgeschichten gibt es keinerlei Übereinstimmung.
Reds Welt ist ein geschlossener Kreis. Was eigentlich keine Rolle spielt. Schließlich bin ich selbst ein geschlossener Kreis, und mir bleibt nichts anderes, als in diesem Kreis irgendeinen Punkt zu finden, von dem ich losgehen, und einen, an dem ich ankommen kann. Im Kreis eines anderen Menschen werde ich weder meinen Anfang noch mein Ende jemals finden. Zwei Menschen ergeben zusammen eben nie etwas anderes als die Summe aus einem Menschen plus einem Menschen. Weil wir nicht anders können, als uns auf diese Weise zusammenzuaddieren, werden die Menschen immer einsam sein.
Die Liebe ist unsicher, unsere Jobs sind unsicher, unsere Zukunft in dieser Wohnung ist unsicher. Und meine Zukunft mit Red ist bestenfalls noch unsicherer.
Meine einzige Sicherheit ist, dass ich sehr weit von der vom Regen gepeitschten und von Taifunen umtobten Stadt am Meer weggereist bin. Ich habe eine große Entfernung zwischen mich und die kleine Fischerstadt geschoben, in der die Dächer mit Steinen bedeckt und die Straßen mit Steinen gepflastert sind. Ich habe es geschafft, meiner Kindheit zu entkommen, dem Chaos und Gefühlsaufruhr jener Jahre.
Doch die Stadt der Steine -...