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Die Waise
Ich kam als Waise zur Welt. Nicht, weil meine Eltern gestorben waren, nein, sie waren beide quicklebendig. Doch meine Eltern haben mich weggegeben.
An meine ersten beiden Lebensjahre habe ich natürlich keine genauen Erinnerungen. Niemand in meiner Familie weiß etwas über diese Zeit. Gleich nach meiner Geburt wurde ich zu einem Bauernpaar gebracht, das in einem entlegenen Bergdorf unserer Provinz am Ostchinesischen Meer lebte. Viele Jahre später erklärte man mir, meine Mutter habe sich damals nicht um mich kümmern können, weil mein Vater im Arbeitslager gewesen war und immer noch als Klassenfeind gesehen wurde. So kam es, dass ich meine ersten beiden Lebensjahre in den Bergen verbrachte. Meine einzige Erinnerung an diese Zeit ist eine falsche und stammt von meinen Großeltern. Sie erzählten mir von dem Tag, an dem das kinderlose Paar aus dem Hochland mich, das ungewollte Kind, von den Bergen hinab zu ihnen brachte.
Noch ein Baby, und schon zum zweiten Mal weggegeben.
Das Paar hatte die Adresse meiner Großeltern ausfindig gemacht und war mit dem Fernbus den weiten Weg bis zu unserem bescheidenen Haus gefahren. Kaum angekommen, legten sie mich gleich in die Arme meiner Großmutter.
»Die Kleine wird sterben, wenn sie bei uns bleibt. Das sehen Sie doch selbst«, sagten sie zu meiner Großmutter. »Wir haben nichts zu essen. Mehr als fünfzig Kilo Yams im Herbst wirft unser Land nicht ab, und die brauchen wir, um sie auf dem Markt zu verkaufen. Wir haben die Kleine deshalb mit einem Brei aus zerkleinerten Yamblättern gefüttert, aber jedes Mal, wenn sie das grüne Mus auf dem Löffel sieht, dreht sie den Kopf weg oder spuckt alles wieder aus. Mittlerweile isst sie überhaupt nichts Grünes mehr! Wir haben aber nicht so viel Reis, wir haben nur die Blätter. Sehen Sie doch, wie gelb sie schon im Gesicht ist. Und die schwachen Knochen! Sie hört gar nicht mehr auf zu weinen. Und sie isst nichts. Wenn sie bei uns bleibt, wird sie sterben. Wir flehen Sie an, bitte nehmen Sie das Kind zurück. Jetzt sofort. Auch wenn wir selbst keine Kinder bekommen können, ein sterbendes Baby können wir nicht brauchen. Bitte, nehmen Sie die Kleine zurück!«
Meine Großeltern standen völlig perplex da. Was hätten sie auch sagen sollen, schließlich hatten nicht sie mich in diese Familie geschickt. Sie nahmen mich wortlos zurück. Seit diesem Tag lebte ich bei meinen Großeltern am Meer. Meine Adoptiveltern kehrten zu ihren Yams zurück und ließen nie wieder von sich hören. Später erzählte man mir, die Familie habe Wong geheißen und mit ihren Yams und anscheinend auch ein paar Ziegen auf einem Berg gelebt. Weil die Frau unfruchtbar war (vielleicht war es ja auch der Mann, aber bei den Bauern trägt immer die Frau alle Schuld), habe sie mich nicht stillen können. Ich frage mich oft, ob sie mich damals mit Ziegenmilch gefüttert haben. Aber vielleicht haben auch ihre Ziegen keine Milch gegeben. Zu jener Zeit hat in China kein Mensch die Milch von Tieren getrunken, denn wir vertrugen keine Laktose. Wahrscheinlich haben sie mich mit Sojamilch gefüttert, bis ich Zähne bekam. Was hätten sie sonst mit einem hungrigen Baby tun sollen, das von seiner Mutter weggegeben worden war?
Jahre später saß ich über einer Landkarte der Provinz und versuchte das Bergdorf zu finden, in dem meine Adoptiveltern gelebt hatten. Ich war verblüfft, wie unendlich viele Dörfer dieser Art über das Land verstreut waren - all die Orte, die nur von obskuren gelben oder grünen Punkten markiert wurden. Tausende Dörfer mit Namen und noch mehr Dörfer ohne Namen. War es vielleicht Diaotou gewesen? Pinshan? Yongjia? Hengshantou? Changshi? Shifou? Ich gab auf und faltete die Karte wieder zusammen. Man sagte mir, dass aus den meisten dieser Dörfer Bauland für die wuchernden Städte geworden sei. Selbst die Berge hatten sie enthauptet. Die Gipfel waren abrasiert worden, um Platz für Straßen oder Steinbrüche zu schaffen. Alles für das Wachstum unserer großen Nation.
Wenn ich an meine ersten beiden Lebensjahre denke, steigt vor mir immer das Bild einer klapperdürren kleinen Ziege auf, die über einen kahlen Berg trottet. Wo ist das saftige Gras geblieben, an dem sie sich satt fressen kann? Wo das Wasser, um ihren Durst zu stillen? Der Berg ist nackt und kahl. Nichts als Steine und kunstdüngerverseuchter Boden.
Doch irgendwie schaffte es die kleine Ziege, ihre entbehrungsreichen ersten Jahre zu überleben.
Großvater
Mein Großvater, ein ehemaliger Fischer, war ein verbitterter alter Mann. Er kam 1905 zur Welt, nur ein Jahr vor der Geburt von Chinas letztem Kaiser Puyi. Ob dies ein Omen war, eine Erklärung für sein Schicksal? Die letzte im Kaiserreich geborene Generation ist von der neuen Zeit überrollt worden. An dem Tag, als mein Großvater geboren wurde, soll sein Vater auf See gewesen sein. In den Fischerorten geht die Legende, dass ein Neugeborenes zu einem ordentlichen Fischer heranwachse, wenn sein Vater während der Geburt draußen auf dem Meer ist und gleichzeitig die Flut hereinkommt. Doch als mein Großvater das Licht der Welt erblickte, war Ebbe. Das hat aber nicht er mir erzählt. Ich habe es von den Dorfbewohnern erfahren, die auf den Bänken vor ihren Häusern saßen und tratschten. Seit ich diese Geschichte kenne, mag ich den Anblick der Ebbe nicht mehr.
Früher hatte Großvater ein Boot besessen und sein Geld damit verdient, mehrmals in der Woche am Kai ein paar Fische zu verkaufen. Das Boot war Großvaters Ein und Alles, nichts anderes im Leben zählte für ihn. Wie auf allen Fischerbooten im Ort prangten auch auf seinem Boot zwei riesige gemalte Augen. Die Fischer nannten sie Drachenaugen, denn ein Boot ist ein Drache, der die Wellen bezwingt. Die leuchtenden Farben vertreiben die anderen Meereslebewesen. Alle paar Monate malte Großvater die Augen mit frischer dunkelroter Farbe aus und erneuerte die schwarzen und blauen Linien, die um den Bootsrumpf herumliefen. So machten es alle Fischer. Aus der Ferne sah sein Boot wie ein riesiger, von schillernder Kraft getriebener Tropenfisch aus. Ab und zu brachte Großvater eine frische Teerschicht auf, weil er hoffte, dass sein Boot mit der glänzend glatten neuen Haut wie ein Walfisch durch die Wellen gleiten würde. Nach einem großen Fang ließ er das Boot in der Sonne trocknen. Er reparierte die Lecks, und meine Großmutter half, die Fischernetze zu flicken, denn nach jedem Fang gab es neue Löcher. Anschließend ließ er das Boot an einem frühen, strahlend blauen Morgen wieder zu Wasser. Trotz begrenzter Benzinvorräte fuhr er weit aufs offene Meer hinaus. Manchmal kam er bis Gong Hai, der Meerenge zwischen China und Taiwan. Weiter durfte er nicht, denn es war verboten, in die Formosastraße hineinzufahren. Hier draußen waren nur noch wenige Schiffe unterwegs, und Großvater hatte das Gefühl, das Meer gehöre ihm allein. Außerdem gab es mehr Fische, und die Aale waren fetter und länger als anderswo. Zwei oder drei Tage später kam Großvater dann zurück, manchmal völlig erschöpft, aber meistens mit einem guten Fang an Bord.
Zu jener Zeit kaufte in chinesischen Fischerorten kein Mensch toten oder halbtoten Fisch, denn der galt als minderwertig. In unserer Küche wurde alles lebend gekocht, damit so viel wie möglich von der Energie, dem Chi des Meeres, erhalten blieb. Wenn die Boote zurückkamen, standen meine Großmutter und die anderen Fischerfrauen schon wartend am Ufer. Sie hatten sich Eimer an den Beinen festgebunden und harrten im seichten Wasser in Nähe der Ankerplätze aus, bis ihre Ehemänner die Boote verließen. Dann eilten sie herbei, um den Fang auszusortieren. Garnelen kamen in einen Eimer, Aale in den anderen. Barsche wurden in eine Schüssel mit Wasser geworfen, Muscheln und Krabben wanderten gemeinsam in ein großes Fass. Nur wenige Minuten später tauchten die Fischhändler vom Stadtmarkt auf, um die schönsten und frischesten Stücke zu ergattern. Sie zogen gleich die speckigen Geldscheine aus den Taschen, denn es gab keinen Grund zu feilschen. Der Preis für Garnelen, Krabben und Barsche blieb immer gleich, lediglich bei den Aalen variierte er je nach Saison und danach, wie schwer es gewesen war, sie zu fangen. In Südchina gelten Aale genau wie in Japan als Delikatesse.
Doch das war in der guten alten Zeit, als die Küstenbewohner noch ungebundene Meeresräuber waren. Als die kommunistische Regierung in den Siebzigerjahren Fischerei-Kollektive einführte, wurden private Boote wie das meines Großvaters eingezogen und vom Staat »verwaltet«. Die Fischer bildeten Teams, deren Größe in einer bestimmten Relation zur regionalen Bevölkerungszahl stehen musste, und betrieben den Fischfang von großen, industriellen Schiffen aus. Die Meeresabschnitte wurden ihnen zugewiesen, und alles, was gefangen wurde, gehörte dem Staat, der die Ausbeute nach einem Quotensystem an die Familien verteilte. Mein Großvater weigerte sich, einem Kollektiv beizutreten. Er war unglücklich, weil man ihm sein altes Leben genommen hatte, die Zeiten, die er weitab vom Alltagstrott und all den Menschen, die er verachtete, allein auf seinem Boot verbrachte. Im Kollektiv hätte er unter staatlicher Aufsicht zusammen mit völlig Fremden industrielle Fischereitechniken erlernen müssen, und das in einer Atmosphäre, in der jeder jeden verpfiff. Für so ein Leben war Großvater nicht gemacht. Schließlich stammte er noch aus der Qing-Zeit, er war fast genauso alt wie unser letzter Kaiser. Großvater identifizierte sich mit den Qing und nicht mit der so wankelmütigen wie unberechenbaren Kommunistischen Partei. Als sein Boot in den frühen Siebzigerjahren in einen Taifun geriet - eine der schrecklichen Heimsuchungen, die jeden Sommer vom Südpazifik her kommend über das Ostchinesische Meer...
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