Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
»Du kannst nicht so einfach gehen … Nach all den Jahren bist du mir eine Chance schuldig! Komm sofort zurück – AGNES! AGNES!« Die Männerstimme überschlug sich. Seine Schreie bohrten sich in den Rücken der Frau vor ihm, peitschten sie voran. Sie fürchtete diesen Mann, den sie vier Jahre zu lieben versucht hatte und nun endlich verließ. Er war einige Meter hinter ihr, doch sie fühlte seine physische Präsenz, als hätte er sie bereits gepackt. Sein Gesicht war unrasiert und die grauen Augen zu schmalen Schlitzen verengt. Der Bürstenhaarschnitt gab ihm das Aussehen eines amerikanischen Soldaten, groß, hart und unerbittlich. Trotz des Windes, der Schneekristalle wie Glassplitter vor sich hertrieb, hatte Norman keine Jacke übergezogen, war nur in die schweren Doc Martens gestiegen und stapfte wütend den Gartenweg hinter Agnes her. Der Eiswind zerrte an seinem Flanellhemd und ließ seinen Unmut über diese Situation noch mehr anschwellen.
Agnes hatte Norman als hilfsbereiten Menschen kennengelernt, trotz seiner kalten Augen. Die andere Seite seines Wesens. Ein Jahr des Zusammenlebens war genug der Ahnung darüber.
Ein erfolgreicher Kriminalinspektor, das war Norman. Kamen Kollegen zu Besuch, scherzten sie gern, dass dies wohl an seinen Verhörmethoden liegen müsse. Norman lächelte stets über solche Aussagen, als wären sie Komplimente. Agnes kannte die Tricks, wie man, ohne blaue Flecke oder Wunden zu hinterlassen, Täter geständig machen konnte. Ob Norman das tat? Zu nassen Handtüchern oder Plastiksäcken griff? Hatte er niemals zugegeben.
Immer auf der Hut sein, Kleines.
Norman liebte es, Verdächtige auf frischer Tat zu betreten, wie er es nannte. Agnes wusste das. Blutspritzer aus Diensthemden zu entfernen, war nicht einfach. Fragen stellen, war nicht gesund. Eine besondere Behandlung ließ er Kinderschändern zukommen, denn eine Gefängnisstrafe war nach seinem Gerechtigkeitssinn für die zu wenig. In seinen Augen glänzte Befriedigung, wenn er davon sprach.
Spezialbehandlung für Schweine.
Und sie hasste sich für die Genugtuung, die sie bei dem Gedanken empfand, dass solche Ungeheuer wenigstens einmal die Gewalt zu spüren bekamen, die sie wehrlosen Kindern antaten, selbst wenn die Männer daraus nichts lernen würden und die Prügel nichts an deren Neigung änderten. Sie, eine Juristin, dem Gesetz verpflichtet, war um nichts besser.
Normans Gewalttätigkeit war stets latent spürbar gewesen. »Wenn dich ein anderer Kerl angreift, hack ich ihm die Hände ab!«, war eine Standardfloskel. Aggressionshaushalt: explosiv. Geriet Norman in Wut, flogen schon mal Gläser gegen die Wand oder er packte Agnes so fest an den Armen, dass seine Fingerabdrücke noch Stunden zu sehen waren. Dann verschwand er in den Dienst und brachte am nächsten Morgen Blumen.
Ausgebrannt durch unzählige Nachtdienste, Überstunden und eine fanatische Hingabe zum Beruf, wurde das Zusammenleben immer mehr zur Qual. In Normans Vorstellung gab es bloß noch Verbrecher oder potenzielle Verbrecher. Aus Angst vor Racheakten lagerte eine beachtliche Waffensammlung im Wohnzimmerschrank und Agnes war unter Normans Anleitung eine geübte Pistolenschützin geworden. Im Ernstfall sollte sie sich mit ihm gemeinsam verteidigen können.
Vor zwei Wochen hatte sie entdeckt, dass Norman Antidepressiva einnahm, die letzte Möglichkeit, sein Burn-out-Syndrom zu unterdrücken. Tatsächlich war er verträglicher als sonst gewesen – ihre Chance, den Absprung zu wagen. Wer konnte wissen, wie lang dieser Frieden anhielt? Bislang hatte Agnes das Risiko gescheut. Norman war vom Brüllen bis zum Zuschlagen alles zuzutrauen. Schusswaffen und Munition waren in ausreichender Menge im Haus gelagert, um ein Dorf auszuradieren. Gewiss, eine Kugel genügte, er würde treffen. Todsicher. Trotzdem wollte sie diesem Irrsinn entfliehen. Der Plan war, so zu tun, als wollte sie eine Beziehungspause einlegen, um dann nach einer angemessenen Abkühlphase endgültig Schluss zu machen. Zeit gewinnen.
Er hatte sie nun beinahe eingeholt. Angst kroch an ihr Herz. Eine Windböe wehte ihr das Haar vors Gesicht, doch sie strich die dunklen Strähnen nicht zurück, als wäre jede Geste, die der Flucht nicht dienlich war, Zeitverschwendung. Eilig öffnete sie das schmiedeeiserne Gartentor und trat hinaus auf die Straße. Glitt fast am Eis aus. Keine Fußgänger zu sehen, nicht einmal die Hunde der Gartensiedlung stimmten ihr übliches Kläffkonzert an. Dreckige Schneehaufen lagen am Fahrbahnrand, dazwischen eingekeilt standen Autos, von einer Schneedecke verhüllt. Es waren nur noch wenige Schritte bis zu ihrem Wagen.
»Wohin fährst du jetzt? Zu deinem Vater?«, rief er ihr zu. Viel zu nahe. »Bleib stehen, wir müssen reden!« Seine Stimme vibrierte aggressiv. Sie wagte nicht, sich umzuwenden. Zum Auto. Schnell. Nicht reden. Reden? Trotz der Angst hätte Agnes am liebsten lauthals über Normans Worte gelacht – reden wollte er mit ihr. Noch eine Chance wollte er haben. Seit Monaten, ach was, seit Jahren versuchte sie, mit ihm zu reden, ihm klarzumachen, dass es so nicht weitergehen konnte. Er hatte sein Junggesellenleben weiterlaufen lassen. Seine Zeit gehörte dem Beruf und die spärliche Freizeit der Couch vor dem Fernseher. Da gab es keine Kompromisse. Die wenigen Freunde waren allesamt Kollegen. Agnes’ Freunde mochte Norman nicht, an jedem fand er einen Makel, ein kriminelles Geheimnis, und sei es nur Ehebruch. Allein war sie zu Geburtstagsfeiern, Silvesterpartys und Einladungen gegangen, hatte die Nachfragen zu seinem Verbleib mit Ausreden quittiert und die mitleidigen Blicke ignoriert. Warum war sie bei ihm geblieben?
Ich hatte viel zu tun. Eine Ausrede? Das Studium war hart gewesen, auf das Tanzen und Malen musste sie dank Normans Arbeitswut nicht verzichten. Und zugegeben – sein Leben klang aufregend gefährlich, ein Held im Kampf gegen das Böse – war da ihr Verzicht auf gemeinsame Zeit nicht ein verdienstvoller Beitrag?
Kindskopf.
Die große Veränderung kam mit dem Zusammenleben. Die Hausarbeit blieb gänzlich an ihr hängen. Ihre Arbeit war zweitrangig – nein, weniger als das. Juristen waren das Letzte für Norman: Polizeijuristen nach seiner Ansicht völlig überfordert, Anwälte allesamt Huren und Richter ließen mühsam eingefangene Verbrecher wieder laufen. Mit ihrem akademischen Titel kam er definitiv nicht klar.
Eine tiefe Sprachlosigkeit hatte sich zwischen ihnen entwickelt, die Agnes einsam und bitter werden ließ. »In anderen Beziehungen läuft es genauso«, reagierte Norman auf die immer seltener werdenden Rettungsversuche von Agnes. Ein ständiger Konkurrenz- und Machtkampf, der alle Energie aus dem Leib saugte und die Partner hohl und leer zurückließ.
Warum war sie bei ihm geblieben?
Der Wind fauchte Agnes an, holte sie aus der Erinnerung. Ihn einmal richtig anbrüllen. Ohne Angst vor den Konsequenzen. Aber das ging nicht, nicht jetzt. Kühlen Kopf bewahren … freundlich sein … weitergehen … ein paar Meter noch. Um eine feste Stimme bemüht, suchte sie nach den richtigen Worten.
»Ruf mich bei Paps an, okay? Die nächsten Wochen muss ich allein sein. Abstand und Ruhe, ich hab’s dir erklärt.« Sie sah sich nicht um, ging immer weiter. Hob die Hand zum Abschied, öffnete die Wagentür, warf die Reisetasche und ihren Rucksack auf den Beifahrersitz. Im Einsteigen klopfte sie Schnee von den Stiefeln, schlug die Tür zu und stieß den Riegel hinein. Schlüssel ins Zündschloss; die Lenkradsperre klemmte, gab nicht nach, wie sehr sie auch am Lenkrad riss. Dann, endlich, freie Räder. Den Zündschlüssel im Schloss drehend, betete sie um das Wunder, dass der Motor dieses eine Mal sofort anspringen würde. Natürlich nicht – keine Wunder auf Bestellung. Der Starter heulte wie immer gequält vor sich hin.
»Spring an, komm schon … ich schwöre, eine neue Batterie zu kaufen … bitte … bevor er mich aus dem Auto zerrt … wo ist er?«, gehetzt blickte sie in den Rückspiegel, pumpte das Gaspedal. »Knarre holen?«
»AGNES!«
Sie zuckte zusammen. Er stand direkt neben ihr, zog am Türgriff. Gedämpft drang sein Schreien ins Wageninnere. Schon schlug er mit der Faust gegen die Scheibe.
»Mach sofort auf! Was soll das? Aufmachen!« Fäuste hagelten gegen die Seitenscheibe und sein Brüllen betäubte ihre Sinne. Das Glas ächzte unter dem Tritt des Stiefels.
Weg hier.
Der Motor jaulte. Der bringt mich um, schoss es ihr durch den Kopf, als das Seitenfenster unter einem weiteren Fußtritt knackte. Im nächsten Moment kam das erlösende Geräusch aus der Motorhaube und sie rammte den Retourgang hinein. Gleich den Ersten. Über eine Schneewechte mit durchdrehenden Reifen. Sie fetzten Schnee gegen Norman, sodass er zur Seite wich. Im Rückspiegel wurde Norman kleiner, stand unbewegt auf der Straße, ungläubig, dass sie tatsächlich gegangen war.
*
Agnes Feder stand zwischen Koffern, Reisetaschen und Papiertüten, die den gesamten Boden des kleinen Vorzimmers bedeckten. Drei Türen führten von hier zu den Zimmern des Hauses und am Ende des Ganges befand sich eine schmale, steile Treppe. Wie eine Fremde sah sich Agnes um. Alle Kraft hatte sie verlassen, Mut und Kampfgeist waren erloschen, die Arme hingen müde herunter und wollten die Last nicht mehr tragen. Achtlos glitt der Rucksack aus ihrer Hand zu Boden. Im Spiegel der Garderobe betrachtete sie die erschöpfte Frau, die ihr entgegenblickte.
Und jetzt?,...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.
Dateiformat: PDFKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Das Dateiformat PDF zeigt auf jeder Hardware eine Buchseite stets identisch an. Daher ist eine PDF auch für ein komplexes Layout geeignet, wie es bei Lehr- und Fachbüchern verwendet wird (Bilder, Tabellen, Spalten, Fußnoten). Bei kleinen Displays von E-Readern oder Smartphones sind PDF leider eher nervig, weil zu viel Scrollen notwendig ist. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.