Schweitzer Fachinformationen
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Ayelet Gundar-Goshen inszeniert einen inneren Konflikt, der die Figuren und Lesenden gleichermaßen in seinen Bann zieht. Und sie schafft davon ausgehend ein packendes Psychodrama über Schuld und Rache, über die Flucht vor Verantwortung und über Mitgefühl, das sich an unerwarteten Orten zeigt.Naomi ist nicht begeistert, als sie sich allein mit ihrem einjährigen Sohn Uri und einem arabischen Handwerker in ihrer Wohnung in Tel Aviv wiederfindet. Ihr Mann Juval hat ihn mit der Renovierung ihres Balkons beauftragt, während er selbst bei der Arbeit ist. Sie fühlt sich unwohl in der Präsenz des fremden Mannes, zumal Uri eigentlich seinen Vormittagsschlaf halten sollte und allmählich quengelig wird. Während sie Kaffee zubereitet, entsteht plötzlich auf der Gasse vor dem Haus ein Aufruhr, ein Teenager ist von einem herabstürzenden Hammer erschlagen worden. Naomi wird schnell klar, dass ihr Sohn den Hammer in einem unbeaufsichtigten Moment vom Balkon gestoßen haben muss. Doch der Verdacht fällt nicht auf die israelische Familie, sondern auf den arabischen Arbeiter. Als er wenig später zum Verhör abgeführt wird, ist Naomi wie gelähmt, es gelingt ihr nicht, die Wahrheit zu sagen.Eine Geschichte, die mit einer harmlosen Tasse Kaffee beginnt, wird zu einer gefährlichen Tour zwischen Stadt und Dorf, bei der keiner der Beteiligten so bleibt, wie er war.
»Wie alt ist sie?«
Der Arbeiter steckte den Zeigefinger in das weiche Bäckchen des Kleinen, und Naomi unterdrückte den Impuls, ihm das Baby wegzureißen. »Es ist ein Junge. Er heißt Uri.« Und kurz darauf, als sie merkte, dass sie seine Frage nicht beantwortet hatte: »Er ist vierzehn Monate alt.«
Der Arbeiter nickte. Sie war nicht sicher, ob er das Gesagte verstanden hatte. In den anderthalb Stunden, seit sie aus der Grünanlage zurückgekommen war und ihn hier beim Streichen vorgefunden hatte, waren nur wenige Worte zwischen ihnen gefallen.
Aber der Mann hatte verstanden. »Schalom Uri«, sagte er, verhakte seine fleischigen Daumen und schwenkte die Hände wie Vogelflügel vor dem Gesicht ihres sichtlich faszinierten Sohns.
»Ich habe eine Tochter. Anderthalb. Sagt den ganzen Tag, >will nicht<.«
Naomi lächelte, verkrampfte sich jedoch innerlich. Jedes weitere Wort von ihm zeigte ihr nur, wie gut sein Hebräisch war. Dann hatte er sicher auch verstanden, was sie Juval am Telefon vorgeworfen hatte, als sie den Handwerker bei der Heimkehr vom Spielplatz in der Wohnung vorfand: »Wie kannst du einen arabischen Arbeiter in die Wohnung lassen, wenn ich mit Uri allein zu Hause bin.« Sie hatte Juval aus einem anderen Zimmer angerufen und leise gesprochen, aber als sie dem Arbeiter jetzt im Wohnzimmer gegenüberstand, fürchtete sie, er könnte doch mitgehört haben. Als sie sich nach dem Gespräch mit seiner Anwesenheit abzufinden versuchte, hatte sie ihm Kaffee angeboten und auf sein Ja kurz gezögert, ehe sie eine lila Kapsel aus der Box nahm, in die Maschine steckte und einen Teller mit Keksen dazustellte, die er, wie sie jetzt sah, nicht angerührt hatte.
»Essen Sie nichts?«
Der Arbeiter deutete auf die Balkonbrüstung, die zur Hälfte mit einer ersten Farbschicht bedeckt war. »Wenn man mit dem Streichen fertig ist, isst man Kekse.« Auch sie schloss solche Händel mit sich selbst. Während der Vorbereitung auf ihre Anwaltsprüfung hatte sie sich einen kleinen Preis für jeden Abschnitt versprochen, den sie durchgenommen hatte. Steuerrecht - eine Waffel. Verleumdung - noch eine Waffel. Schadenersatzrecht - zwei Waffeln. Der Arbeiter wandte sich wieder der Brüstung zu, was Uris lauten Protest auslöste. Der Mann drehte sich erneut um und schnalzte mit der Zunge - tack-tack-tack -, wie man es bei Pferden tut, um sie zu beruhigen, und Uri strahlte. Naomi merkte sich diesen Laut - tack-tack-tack -, verschob ihn mental in den Ordner »Dinge, um Uri zu beruhigen, wenn er schreit«, ein Ordner, dessen volle und geheime Bezeichnung lautete: »Dinge, mit denen fremde Menschen Uri eventuell beruhigen können, während er bei mir nur noch heftiger schreit.«
Der Arbeiter ging wieder an die Arbeit. Sie beobachtete ihn, als er sich zu Eimer und Spachtel bückte, direkt neben dem Bougainvillea-Kübel. Kleine Kalkspritzer saßen auf den violetten Blättern, wie von einem Milchregen. Er schaute in den Eimer und rührte die Tünche um. Uri rangelte, um sich ihren Armen zu entwinden. Naomi setzte ihn ab, und schon strebte er eilig zum Balkon. »Nein, Schatz, dahin jetzt nicht.« Sie schnappte ihn im letzten Moment, bevor er die Schiene der Schiebejalousie überquerte, die Wohnzimmer von Balkon trennte, spürte seinen Protestschrei den Bruchteil einer Sekunde, bevor er erklang. »Luli, wir gehen jetzt nicht dorthin, erst wenn der fleißige Mann fertig ist.« Uris Geschrei steigerte sich zu ungeahnten Höhen, und wie gewohnt verwandelte sich ihr Groll auf ihn in Groll auf Juval (seit Uris Geburt hatte sie einen Schalter im Kopf, der ihren Unmut vom Sohn auf den Ehemann ableitete, eine Erdung für Feindseligkeit). Der Kleine sollte jetzt eigentlich sein Morgenschläfchen halten. Sonst verwandelt er sich in ein Nervenbündel. Jeden Tag um elf Uhr - wenn man ihn da nicht hinlegt, mutiert das liebe Engelchen zum garstigen Teufelchen. Juval weiß das, und doch hat er gerade jetzt einen Handwerker bestellt. Zur Zeit des Schlafenlegens.
Dann leg ihn doch schlafen. Wer hindert dich dran. Juvals ruhige Stimme dröhnte ihr im Kopf. Sie brauchte ihn nicht bei der Arbeit anzurufen, um zu wissen, dass er genau das sagen würde.
Vielleicht ist es mir unangenehm, mit freien Nippeln dazusitzen, wenn ich mit einem arabischen Arbeiter allein zu Hause bin.
Vielleicht wird es Zeit, ihn nicht mehr an den Nippeln zum Schlafen zu bringen. Der Junge ist schon ein Jahr und zwei Monate alt.
Gerade deswegen schwang sie das jammernde Baby nun mit einer entschiedenen Bewegung hoch, ging ins Schlafzimmer und knöpfte mit flinken Fingern die Bluse auf. Ihre Brüste waren groß und schwer, voll mit Milch. Um die Nippel entstand ein feiner Stromkreis, wie immer, wenn sie stillen wollte. Uri hörte auf zu weinen und schenkte ihr den sehnsüchtigen Blick, den sie liebte. Sie setzte sich zum Stillen auf den Sessel, sprang jedoch gleich wieder auf und schloss die Tür ab. Der Kleine protestierte mit herrischem Wutgeschrei gegen die Verzögerung, und Naomi setzte sich rasch wieder hin, geschmeichelt und genervt zugleich. Sie öffnete den BH, und Uri stürzte sich gierig auf ihre Brust.
Sie lehnte sich entspannt auf dem Sessel zurück. Wie viele Stunden hat sie seit seiner Geburt hier verbracht, in den Banden der Mutterschaft. Juval hat recht, sie muss aufhören, ihn an der Brust einschlafen zu lassen. Uri trinkt ja selbst schon lieber aus dem Fläschchen. Aber dieses Wort - Entwöhnung . Die irre Überfülle ihrer anschwellenden Brüste, diese Üppigkeit, von der keiner mehr würde trinken wollen, die Milch in ihrer Brust, die mangels Nachfrage sauer werden und versiegen würde. Naomi schloss die Augen und ließ Uri saugen, vielleicht ja zum letzten Mal. Dieser Gedanke hatte etwas Angenehmes, Trauriges und Wunderbares. Heute werde ich ihn entwöhnen. Seine Lippen berühren zum letzten Mal meine Nippel. Das ist das letzte Mal, dass er von mir trinkt. Sie schwamm in der Vorstellung wie in einem dicken Brei und wusste, sie würde niemals schöner sein als jetzt.
Das Klopfen an der Tür erschreckte sie. Und schlimmer noch, es weckte Uri. Seine Augen waren schon zugefallen, und nun riss er sie wieder auf. Kurz vergaß sie, wo sie war, wo die anderen waren. So viele Tage hatte sie allein mit dem Baby im Haus verbracht, immer zu zweit in Stille gehüllt wie in eine Blase. Die Außenwelt, die Nachrichtensprecher, alles nur ferne Klänge aus den Fernsehern der Nachbarwohnungen, die verstummten, sobald sie die Jalousien zuschob.
Und nun dieses Klopfen, das ihre Finger veranlasste, rasch die Bluse wieder zuzuknöpfen, ein Tropfen Milch nässte den Büstenhalter. Das ist der arabische Arbeiter, begriff sie leicht verzögert, der arabische Arbeiter klopft an die Tür. Und obwohl er ihr bisher keinen Grund gegeben hat, sich vor ihm zu fürchten, ist sie erschrocken, trotz des Tack-tack-tack, das er zuvor mit der Zunge gemacht, trotz des Vogels, den er Uri mit den Fingern geformt hat. Wer ist denn dieser Mann, den Juval in ihre Wohnung gelassen hat. Und wieso hat Juval nicht darauf bestanden, dass der Bauunternehmer, der das Gebäude renoviert, seinen Arbeiter begleitet und beaufsichtigt.
»Verzeihung, darf ich stören?«
Mach ihm nicht auf. Ruf Juval an und sag ihm, er solle jetzt - jetzt gleich - den Bauunternehmer telefonisch herbeordern. Oder selbst kommen. Wenn wir im ersten Obergeschoss wohnen würden, könnte man vielleicht noch aus dem Fenster entkommen. Aber im fünften Stock wäre das gefährlich. Die Stimme des Arbeiters hinter der Tür hat Uri vollständig aufgeweckt. Er rangelt mit den Ärmchen - Himmel, wie sie dieses Rangeln hasst, diesen verzweifelten Kampf seines Körpers, sich ihren Armen zu entwinden -, und als sie ihn auf den Boden setzt, krabbelt er rasch zur Tür. Gerade diese Sehnsucht ihres Sohns nach dem Arbeiter - selten hat sie ihn so begeistert von einem Fremden gesehen -, gerade sie veranlasst Naomi aufzustehen und die Tür zu öffnen.
»Verzeihung, ich war eingeschlafen«, sagte sie und musterte sein Gesicht, um zu sehen, ob er ahnte, ob er begriff, dass sie Angst vor ihm hatte.
»Ah, Entschuldigung, Verzeihung.«
Die panische Miene des Arbeiters machte sie verlegen. Er hat Angst, ich könnte mich über ihn beschweren, begriff sie, könnte dem Boss sagen, er hätte mich im Schlaf gestört. Doch die Macht, die sie offenbar über ihn besaß, beruhigte sie nicht etwa, sondern beschämte sie. Deshalb beantwortete sie seine Ansage, »der Eimer ist umgekippt, und ich wollte nach einem Putztuch fragen«, rasch mit »macht nichts, schon okay«, seltsam froh darüber, dass er ihr endlich die Gelegenheit bot, ihre Weitherzigkeit zu demonstrieren. Im Gänsemarsch trabten sie ins Wohnzimmer - der Arbeiter voraus, Naomi hinterher, der watschelnde Uri als Nachhut. Der Eimer mit der Tünche lag auf dem Balkon, eine weiße Lache hatte sich neben der Bougainvillea gesammelt und rann langsam am Rand der neuen Fliesen entlang.
»Ich hole einen Lappen«, sagte sie und ging in die Küche. Der Arbeiter wartete draußen. Uri zögerte auf halbem Weg und krabbelte dann entschieden weiter auf den Mann zu, der ihm den Weg zu dem schmutzigen Bereich verstellte und wieder mit der Zunge schnalzte: tack-tack-tack.
»Hier«, sagte sie, als sie mit dem Lappen zurückkam, und bückte sich zum Aufwischen. »Nein, ich mach das sauber«, sagte der Arbeiter, beugte sich vor, um ihr den Lappen abzunehmen, und die körperliche Nähe -...
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