Schweitzer Fachinformationen
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Gesellschaftliches Leben findet seit Menschengedenken primär im Medium der Stimme statt. Daran haben auch die epochalen Erfindungen von Schrift und Buchdruck oder elektronische Technologien nichts geändert. Vielleicht erklären die Unvordenklichkeit der Stimme und ihre elementare Funktionsvielfalt, warum die Geistes- und Kulturwissenschaften sie weitgehend übersehen haben. In Leben der Stimme unternimmt Hans Ulrich Gumbrecht entschlossene Denkschritte in diesem komplexen Bereich menschlicher Existenz.
Mit großem Respekt vor der ungeordneten Allgegenwart des Phänomens, aber nicht ohne klare begriffliche Unterscheidungen erhellt er in den sieben Kapiteln dieses faszinierenden Buches die Bedeutung und den Status der Stimme aus historischer, philosophischer, psychologischer, soziologischer und theologischer Perspektive. Jenseits akademischer Vermessungen ergibt sich daraus ein Impuls zu persönlicher Reflexion über unerschlossene Schichten von Nähe im individuellen Alltag.
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Vor 15 oder 20 Jahren, als die Technik sich in ihrer raschen Geschichte der Eroberung des alltäglichen Lebens und der Prägung seiner Verhaltensformen zu neuen funktionalen Potenzialen noch auf einem anderen Stand befand, hatten Menschen, die allein durch die Gegend liefen und dabei ihre Stimme wie in einem Gespräch einsetzten, begleitet von einer ganzen Palette lebhafter Gesichtsausdrücke und körperlicher Gebärden, noch keinen Platz in unseren durchschnittlichen Erwartungen. Als jemand, der mit besonderer Naivität beobachtete, was die damals in Silicon Valley entstehenden Industrien zu bieten hatten, glaubte ich, Personen vor mir zu haben, die an zwanghaften Halluzinationen litten. Da solche Menschen jedoch immer häufiger meinen Weg kreuzten, musste selbst ich schließlich erkennen, dass sie nicht halluzinierten, sondern sich in allerlei unterschiedlichen Formen sprachlichen Austauschs mit anderen befanden, die räumlich nicht anwesend waren, wobei ich die kaum sichtbaren Geräte übersehen hatte, die es ihnen ermöglichten, dem Klang der Stimme anderer Leute zu lauschen und den Klang der eigenen Stimme zu übertragen.
Doch trotz dieser Erkenntnis machte sich ein spezieller Mangel bemerkbar, an den ich mich immer noch nur schwer zu gewöhnen vermag. Ich kann in meinem Kopf leicht Bilder von Körpern und Reaktionen um andere Menschen ergänzen, mit denen der einsame Sprecher sich unterhält, aber mir fehlt 34der Eindruck, um nicht zu sagen die konkrete Wahrnehmung eines Raumes, den sie beide gemeinsam einnehmen, der sie deshalb zusammenbringt und dessen physikalische Substanz aus zwei oder mehr Stimmen in ihren verschiedenen Tonalitäten besteht. Darum und wider besseres Wissen wirkt es auf mich auch weiterhin wie ein Krankheitssymptom, wenn ich jemanden allein vor sich hin sprechend durch die Gegend laufen sehe. Der erste Ausdruck, der mir in den Sinn kommt, wenn ich zu benennen versuche, was mir da fehlt, ist »sozialer Raum«. Dann spüre ich jedoch, dass diese beiden Worte eine Dimension und einen Grad von institutioneller Stabilität voraussetzen, die nicht wirklich zu einem zwanglosen Gespräch passen. Als Beispiele für soziale Räume, die durch Stimmen geschaffen und prozessiert werden, können wir Parlamente mit ihren Verfahrensordnungen, Lehrsituationen auf verschiedenen Ebenen des Bildungswesens oder auch elaborierte Formen des Gottesdienstes wie die verschiedenen Ausprägungen der christlichen Messe nennen. Wer in diesem Rahmen agieren und fungieren will, muss über ein spezifisches Segment sozialen Wissens verfügen, das Choreographien für Körperbewegungen, komplementäre Erwartungen hinsichtlich der Bewegungen anderer Körper sowie Orientierungen für Rhythmen bei der Einbindung von Stimmen umfasst. Während meiner kurzen Zeit als Ministrant in der damals noch lateinischen Liturgie der 1950er Jahre wurde mir bewusst, dass die Funktionen der Stimme weitgehend befreit waren von der Aufgabe, irgendeine Bedeutung verständlich zu artikulieren. Wenn wir auf die zwei Worte des Priesters, »Dominus vobiscum«, mit den vier Worten »Et cum spiritu tuo« antworteten, schufen wir unausweichlich einen stabilen, verlässlichen und irgendwie auch sichtbaren sozialen Raum, obwohl uns der Inhalt dieser Worte keineswegs klar war. »Rituale«, wie wir die meisten im eigentlichen Sinne sozialen Räume nennen können, ordnen die von ihnen hervorgebrachte Bedeutung fast immer 35den größtenteils impliziten Regeln für Körperbewegungen unter.
Zwanglose Gespräche scheinen dagegen weniger von Bedeutung getrennt und weniger regelgebunden zu sein. Sie erfüllen vielleicht bestimmte lokal und historisch spezifische Standards der Höflichkeit und achten möglicherweise auf gewisse Rangunterschiede, doch anders als bei sozialen Räumen in Gestalt von Ritualen sind wir bei ihnen nicht in der Lage, vorauszusagen, in welcher Weise sie sich entwickeln und unter welchen Bedingungen sie an ein Ende gelangen werden. Tatsächlich sind sie auf einer Reihe von Ebenen hochgradig individuell. Sie sind individuell aufgrund der Offenheit ihres Ablaufs und Schlusses; sie sind individuell aufgrund der meist nicht synchronisierten Erwartungen und Antriebe derer, die das Gespräch führen; und sie sind individuell aufgrund der physikalischen Unterschiede in Ton und Lautstärke der eingesetzten Stimmen, ein Unterschied, der innerhalb von Ritualen und der dadurch geschaffenen sozialen Räume relativiert und sogar neutralisiert wird.
Die Räume, die aus der zwangloseren Form verbaler Interaktion hervorgehen und sie begleiten, werde ich dabei als »existenzielle Räume« bezeichnen, basierend auf unserer Verwendung des Wortes »Existenz« im Zusammenhang mit allgemeinen Aspekten des menschlichen Lebens als eines individuellen Lebens. Die erstaunliche Vielfalt der »existenziellen Räume« erklärt, warum sie einerseits nahezu ubiquitär sind, sich andererseits jedoch aufgrund ihrer Individualität hartnäckig einer Beschreibung durch abstrakte Begriffe entziehen. Verstärkt wird ihr schwer zu fassender Charakter noch durch den fortlaufenden und permanenten Wechsel zwischen Expansion und Kontraktion. Existenzielle Räume als »Phänomene« zu bezeichnen, scheint der altgriechischen Bedeutung des Wortes als Dinge, die »sich zeigen«, zu widersprechen, da existenzielle Räume sich nicht als stabile Formen zeigen, auch 36wenn sie für uns ständig derart hörbar - und sichtbar - sind, dass wir ihr Fehlen als etwas Pathologisches interpretieren. Angesichts ihrer wahrhaftigen Ubiquität und der Bedeutung, die Stimmen für existenzielle Räume besitzen, glaube ich jedoch, dass ihr Wechselspiel den unvermeidlich prekären Versuch einer geduldigen und detaillierten Analyse verdient. Dieser könnte deskriptiv bei fünf Dimensionen oder Aspekten ansetzen.
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Einer der bemerkenswertesten Aphorismen in Ludwig Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen versucht, eine Veränderung in unserem Gebrauch des Ausdrucks »verstehen« herbeizuführen - und hilft uns dadurch, eine Perspektive auf den Prozess zu gewinnen, in dem existenzielle Räume entstehen: »Das Verstehen eines Satzes in der Sprache ist dem Verstehen eines Themas in der Musik viel verwandter, als man etwa glaubt.«[10] Wittgenstein möchte, dass die Leser auf Distanz zu der üblichen Bedeutung von »verstehen« als einem Verhalten gehen, das sich auf den »Inhalt der Aussage« und die Intentionen des jeweiligen Sprechers konzentriert. Beim Verstehen eines musikalischen Themas achten wir dagegen nicht auf mögliche Bedeutungen oder die Intentionen des Komponisten und der Darbietenden, und deshalb ist Wittgensteins Gedanke für das Konzept der existenziellen Räume von Belang. Die Reaktion auf ein musikalisches Thema oder den Klang von Stimmen besteht in erster Linie darin, dass wir nach einer adäquaten individuellen Position unseres Körpers im Verhältnis zu den produzierten Schallwellen suchen. Vor allem je nach Lautstärke möchten wir näher oder weiter von 37den Klängen und ihren Quellen sein, wir verändern möglicherweise die Position unserer Ohren gegenüber der Richtung, aus der die Töne kommen, und vielleicht suchen wir einfach eine Körperhaltung, in der wir uns wohl fühlen und aufmerksam genug sind. Mit all diesen Körperbewegungen schaffen und verwandeln wir unvermeidlich Räume, deren Teil wir sind.
Zugleich erlauben wir es musikalischen Motiven oder den Klängen individueller Stimmen, in uns Bilder oder Stimmungen auszulösen, die nach unserem Gefühl irgendwie zu den akustischen Eindrücken passen. Doch während Bilder und Stimmungen untrennbar mit existenziellen Räumen in ihrer ständig wechselnden Objektivität verbunden sind, muss die Frage, ob solche Eindrücke einer »Korrespondenz« zwischen ihnen und verschiedenen Tonfolgen notwendig individuell sind oder jemals ein gewisses Maß an Konsens und daher einen gewissen Grad an Objektivität erlangen, unbeantwortet bleiben, da wir uns nicht im Geist oder in der Psyche eines anderen Menschen aufhalten können. Diese Unmöglichkeit ändert jedoch nichts daran, dass Bilder und Stimmungen eine lebenswichtige Dimension in unserem Verstehen von Stimmen und musikalischen Motiven darstellen. Allgemein gesagt und weil von Stimmen produzierte Schallwellen zeitliche Phänomene im eigentlichen Sinne sind, das heißt Phänomene, die nur in ständiger Veränderung existieren, ist ihr Verstehen nichts anderes...
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