Schweitzer Fachinformationen
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EIN GANZES LEBEN SPÄTER kehre ich zurück.
Ich parke hinter dem Krankenhaus. Wo der Asphalt aufhört, haben sich vier schlanke Birken ihren Weg durch den Kies gesprengt, fahles Laub, der Herbst hat begonnen, lange bevor der Sommer zu Ende ist. Die Birken sind etwa so groß wie kleinwüchsige Konfirmanden und werden auch nicht mehr höher, dafür ist das Erdreich zu flach.
Auf den Hügeln rund um die Stadt wachsen mehr Fichten und Kiefern als Birken, und obwohl sich das Stadtzentrum ausgedehnt hat, ist Overberget immer noch von dunklem Nadelwald umgeben. Aus der Ferne wirken die Hügel blau. Am Ende des Tages leuchten die Kiefern rot. Im Frühling sind die Birken violett, und so weiter, ich erinnere mich an alles. Von dieser Landschaft wollte ich weg und niemals hierher zurückkehren.
Ich steige aus dem Auto, atme ein und spüre den schalen Geschmack von Herbst mitten in der Augusthitze. Warum muss ich über das Wetter reden. Über die Landschaft. Was solls, ich tue es, und schon jetzt vermisse ich alles, von dem ich einmal wegwollte. Ich vermisse es, weil es mir verschlossen ist, weil ich hier niemanden mehr kenne, nicht mehr hierhergehöre. Falls ich überhaupt jemals hierhergehört habe, aber das habe ich, das muss ich getan haben, ich war ein Kind, ich hatte nichts anderes als diese Aussicht, diese Hügel, Straßen, Menschen, die hier wohnten. Ihre Gesichter im Gegenlicht verwischt wie auf alten, von der Sonne vergilbten Farbfotos.
Das Zentrum von Overberget liegt in der Sohle eines langen Flusstals, ehe die Landschaft flacher wird. Beide Seiten des Flusses sind bebaut, eine breite Stromschnelle namens Nybrufossen verläuft reißend und weiß schäumend unter der Nybrua, die immer noch das »neu« im Namen trägt, auch wenn sie älter ist, als sich irgendein Lebender hier erinnern kann. Immer noch heißt es, die Nybrua verbinde die Ostseite der Stadt mit der Westseite, dabei wird der Durchgangsverkehr schon lange am Zentrum vorbei und über eine neuere Brücke geleitet. Seit meinem letzten Besuch ist südlich der Stadt, wo flache Kiefernwälder talaufwärts übers Gebirge und auf die andere Seite des Landes führen, eine Autobahn gebaut worden. Overberget ist keine Stadt mehr, die man durchfährt, weil man anderswo hinmöchte. Niemand braucht hierherzukommen, der das nicht will, oder muss.
Aber Ivar hat mich angerufen, um mir zu sagen, ich müsse.
Er hat gesagt: Ich finde, du solltest jetzt kommen.
Er erwartet mich im Eingangsbereich, ich trete aus dem grellen Tageslicht hinein und sehe ihn erst, als er mit seiner großen Hand vorsichtig meine Schulter berührt.
- Hallo, sagt er, und ich erkenne die Stimme aus längst vergangener Zeit, leicht nasal wie immer, aber jetzt hat sie einen selbstbewussten und sicheren Klang, erwachsen und grob. Sein Gesicht ist verschwollen, seine blauen Augen haben früher immer leicht hervorgestanden, wie die Augen eines großen Tiers, immer ist er mir und allen anderen mit großäugigem Vertrauen begegnet. Aber jetzt liegen sie tiefer in ihren Höhlen. Schwere Lider, die Trauer überwuchert sein Gesicht.
- Sie ist nicht mehr sie selber, das muss dir klar sein, sagt er.
- Ist sie wach?
- Heute Nacht habe ich mit ihr gesprochen, ein paar kurze Sätze. Sie wollte wissen, wo sie war, und dann hat sie auf die Deckenlampe gedeutet und gesagt: Schau, der Mond.
Er blickt mich eine Sekunde lang an, während er mit der einen Augenbraue ein Lächeln andeutet.
- Aber dann war sie wieder weg. Ab und zu murmelt sie ein wenig, das ist alles.
Ich will auf den Fahrstuhl zugehen, aber er hält mich zurück, er ist noch nicht fertig.
- Es kann sein, dass sie dich nicht erkennt.
Er bleibt mit offenem Mund stehen. Er möchte mir etwas sagen, das er nicht herausbekommt, er atmet schwer, blickt sich um, als wollte er sichergehen, dass niemand in der Nähe steht und zuhört.
- Sie ist nicht mehr unsere Mama, wenn du verstehst, was ich meine.
Das tue ich nicht, nicke aber trotzdem, ich will es ihm nicht schwer machen. Wir steigen zusammen in den Aufzug, nicht den großen, der für die Krankenhausbetten plus mehrere Personen vorgesehen ist, sondern einen kleineren mit dem Vermerk Personal.
- Ich fahre immer mit dem, sagt mein Bruder, der andere macht ständig Probleme.
Er hat Angst davor, dass der Aufzug stecken bleibt, das ist neu. Aber er will es nicht zugeben, das ist nicht neu. Sein Körper füllt den Großteil der kleinen Aufzugskabine, und ich drücke mich gegen die Wand, damit wir einander nicht zu nahe kommen. Ich tue es um seinetwillen, weil er nie ein großer Freund von Umarmungen gewesen ist. Das mag jetzt anders sein, denn als sich unsere Arme berühren, scheint es ihm nichts auszumachen, er zwinkert mir zu und lächelt aufmunternd. Er ist schwerer geworden, er ist ein erwachsener Mann mit einem ziemlich kompakten Bauch, bald wird er in Rente gehen, aber immer noch sagt er Mama und kriegt dabei feuchte Augen. Das versetzt mir einen leichten Stich, ich weiß nicht warum, vielleicht ist es Neid. Ich habe sie immer Gladys genannt. Nicht immer, aber solange ich mich erinnern kann.
Auf dem Korridor vor dem Zimmer, in dem sie liegt, neigt sich Ivar zu mir und flüstert mir mit seinem heiseren und nasalen, tief berührten Bariton ins Ohr:
- Sie ist kaum noch ein Mensch. Das ist es, was ich dir sagen wollte.
Ivar war immer schon rücksichtsvoll, immer wollte er mich schonen, und andere auch. Nein, nicht immer, aber seit wir erwachsen sind, hat er stets darauf geachtet, niemanden traurig zu machen oder aus der Fassung zu bringen. Er ist der Älteste, das war er schon immer - ich weiß, das versteht sich von selbst, aber ich möchte damit etwas anderes sagen: Es ist, als wäre Ivar mit dem klaren Bewusstsein auf die Welt gekommen, der Erstgeborene zu sein, der sich als solcher um uns andere zu kümmern hat. Auch das stimmt nicht ganz, denn irgendwann einmal war er pubertär und verblendet und dachte nur an sich selbst. Aber dann fing sein zweites Leben an, er lernte Hanne kennen, und sie heirateten und bekamen Kinder und wurden eine kleine Familie, damals verloren wir den Kontakt, und damals ist er vermutlich zu dem freundlichen und selbstsicheren Mann geworden, der er heute ist.
Er ist mein Bruder, und ich kenne ihn schon mein ganzes Leben lang. Bei dem Gedanken erfasst mich eine unerwartete Traurigkeit. Nun, da ich im selben Zimmer stehe wie er, fällt es mir schwer zu begreifen, warum wir uns nie sehen. Ivar hat seine Erinnerungen an meine Geburt und meine Kindheit, vielleicht lässt er mich deshalb so leicht davonkommen. Wenn Gladys Hilfe gebraucht hat, hat sie jedes Mal Ivar angerufen.
Klar tut sie das, meint er, immerhin sei er von uns dreien der Einzige, der in der Stadt wohnen geblieben sei.
Und jetzt hat er sie durch einen Krankheitsverlauf begleitet, der damit enden wird, dass sie nicht mehr gesund wird, und deshalb fand er, ich müsse kommen, denn bald würde es zu spät sein.
Und ja, es ist bereits zu spät, und dennoch bin ich hier. Ich stehe in der Tür und blicke sie an. Sie ist kleiner und schmächtiger geworden, in dem hohen Krankenhausbett gleicht ihr Körper einem vergessenen Stoffbündel. Früher einmal war sie groß und kräftig, mit breiten Hüften und großen Händen. Sie hat immer groß gewirkt. Ich kann mich erinnern, dass einer von den Menschen, mit denen ich zusammengelebt habe, einmal unmittelbar vor einem von Gladys' seltenen Besuchen bei uns zu Hause ausrief: Sie wird hier nicht reinpassen, unsere Zimmer sind zu klein, deine Mutter ist zu groß für uns.
Und jetzt ist sie so klein geworden. Sogar ihr Gesicht ist zusammengefallen, als hätte sie es um meinetwillen getan, als wollte sie sagen: Schau, du bist nicht der Einzige, der sich verändern kann, auch ich bin nicht mehr dieselbe wie früher. Und plötzlich verstehe ich nicht mehr, was es ist, was es war, das mich all diese Jahre von hier ferngehalten hat. Warum ist es mir unmöglich gewesen, sie zu besuchen, mit ihr zu reden, den Versuch zu machen, die Person kennenzulernen, die sie heute ist?
- Setz dich neben sie, sagt Ivar.
Er deutet auf den wuchtigen Lehnstuhl, auf dem er vermutlich den Großteil der Tage und Nächte seit Gladys' Einlieferung ins Krankenhaus verbracht hat. Für sich selbst holt er einen Hocker und setzt sich auf die andere Seite des Betts.
- Mama, sagt er, und wieder treten ihm Tränen in die Augen.
- Schau doch, wer da ist.
Völlig unerwartet öffnet Gladys die Augen und blickt ihn an.
- Runar?, fragt sie.
Es dauert ein paar Sekunden, ehe ich verstehe, was sie gesagt hat. Ihre Stimme ist belegt, sie ist das Sprechen nicht gewohnt. Und ich bin es nicht mehr gewohnt, sie sprechen zu hören. Ihre Stimme hat früher anders geklungen, aber auch mit der neuen Stimme erkenne ich sie wieder, obwohl sie tiefer und zugleich irgendwie flacher ist. Ihre Art zu artikulieren ist immer noch dieselbe, sie verschluckt das »R« ein wenig, während das lange »U« in Runar sehnsuchtsvoll und zärtlich klingt.
- Nein, Mama. Runar ist tot, das weißt du doch. Schon lange.
Und dann sagt er den Namen, bei dem sie mich gerufen hat, irgendwann einmal, vor so langer Zeit, dass ich ihn schon vergessen hatte.
- Titti ist hier.
Es überrascht mich, dass ich hier bin, dass es den, der ich war, immer noch gibt, dass der Name, den ich einmal getragen habe, immer noch benutzt werden kann. Aber Gladys blickt Ivar ausdruckslos an. Und dann blickt sie an die Decke, es sieht aus, als verdrehte sie die Augen, und ihre Lider fallen...
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