Schweitzer Fachinformationen
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Diese Geschichte startet lautlos und endet mit einem Paukenschlag. Sie beginnt mit Carlos Guilliard, einem jungen Mann, der in der Stille eines Lesesaals Akten durchkämmt, um seinen familiären Wurzeln auf die Spur zu kommen. Und sie endet mit einer brisanten Meldung, die sich wie ein Lauffeuer um den Globus verbreitet. Carlos Guilliard, der Sohn des letzten Erben der Familie Wertheim, erzählt in seinem Buch, wie seine Familie zu der größten Nähmaschinen-Dynastie Deutschlands aufsteigen konnte. Es ist eine spannende Zeitreise, die von den Anfängen der deutschen Industrialisierung erzählt, von mutigem Unternehmertum und von den zahlreichen Hürden, die Juden als Bürger in Nazi-Deutschland zu überwinden hatten. Sie erkundet, wie das Erbe des Firmengründers gemehrt, weitergegeben wurde und schließlich - unter dubiosen Umständen verschollen ist.
Wäre ich wenige Stunden früher in Frankfurt gewesen, hätte ich ihn treffen können. Hätte ihm die Hand schütteln und zum ersten Mal mit jemandem reden können, der in direkter Linie mit meinen Vorfahren verbunden ist: Albert Ullin, Enkel von Martha Wertheim, Urenkel von Joseph Wertheim und der einzige noch lebende »Chronist der Familiengeschichte«.
Aber von alldem weiß ich nichts, als ich an einem Nachmittag im März 2003 ins Frankfurter Städel Museum gehe. Ich weiß noch nicht einmal, dass der Name Wertheim geradewegs zu meinen familiären Wurzeln führt. Bekannt ist mir aus den Erzählungen meiner Mutter nur der Name Carlos Vallin - jener >reiche Onkel Carlos<, der ursprünglich aus Frankfurt stammte, später in Barcelona lebte und meinem Vater schließlich ein beachtliches Vermögen nebst einer hochkarätigen Kunstsammlung vererbt hat.
Diesen Vater allerdings habe ich niemals kennengelernt. Er verließ meine Mutter gleich nach meiner Geburt fluchtartig, verleugnete die Vaterschaft und kam seinen Unterhaltspflichten erst nach, als mich ein Abstammungsgutachten als seinen Sohn rechtskräftig bestätigte. Wolfgang Ambrosius Bäuml, so hieß mein Vater, siedelte im Juli 1970 von München nach Spanien um, bewohnte eine Finca bei Malaga und verstarb 1990. Als Erben und Testamentsvollstrecker hatte er einen langjährigen Freund und dessen Freundin eingesetzt. Vom Nachlass allerdings waren neben der Finca nur Konten mit kleineren Geldbeträgen aufzufinden. Der Löwenanteil der Erbmasse inklusive der Kunstsammlung im Wert von damals acht Millionen Deutsche Mark war spurlos verschwunden - und ist es bis heute.
Warum habe ich nach dem Tod meines Vaters mehr als ein Jahrzehnt verstreichen lassen, bevor ich begonnen habe, dem Ursprung und dem Verbleib seines Reichtums nachzuspüren? Warum hat auch meine Mutter jahrelang nur wenig Energie in die Aufklärung dieser Umstände investiert? Warum waren wir eher gleichgültig gegenüber dem Mysterium unserer Familiengeschichte?
Darauf gibt es eine einfache Antwort: Wir hatten beide genug anderes zu tun. Meine Mutter hatte als Alleinerziehende einen Sohn großzuziehen und als Selbstständige ihr Geschäft zu managen, einen Vertrieb für Naturheilmittel. Und ich war damit beschäftigt, meine Ausbildung als Industriekaufmann zu beenden, mein eigenes Unternehmen aufzubauen und im Erwachsenenleben Fuß zu fassen.
Es gibt aber auch eine tiefgründigere Antwort: Die Zeit mit meinem Vater war eine Episode, an die sich meine Mutter nicht gerne erinnert, weil sie mit heftigen Enttäuschungen, Ärgernissen und Verletzungen verbunden war. Nach all dem, was ich inzwischen über diese Zeit erfahren habe, kann ich nur allzu gut verstehen, dass meine Mutter sie in die Dunkelkammer ihrer Erinnerung gesperrt hat. Und ich als ihr Sohn hütete mich aus Liebe und Respekt davor, den Finger in alte Wunden zu legen, nur um meine Neugier zu stillen. Also begnügte ich mich mit den spärlichen Informationen, die meine Mutter aus freien Stücken über meinen Vater preisgab. Dieser Mann blieb mir über viele Jahre völlig fremd, und das war in Ordnung für mich. Er hatte von mir nichts wissen wollen und folglich ich auch nichts von ihm. Viel interessanter als die ferne, kalte Person meines Vaters fand ich ohnehin die Beantwortung der Frage, wer mein Namensgeber - der rätselhafte, reiche Onkel Carlos - wirklich war.
Und nun, an diesem Märztag im Jahr 2003, versuche ich erstmals ernsthaft, eine Spur von ihm zu finden.
Kein leichtes Unterfangen, auch weil meine Generation daran gewöhnt ist, Identitäten ganz bequem vom Schreibtisch aus zu hinterfragen. Einfach den Namen bei Google eingeben, und schon erscheint die Person, ihre Biografie, ihr Denken und Wirken auf dem digitalen Präsentierteller.
Nicht so bei Carlos Vallin. Immer wieder suchte ich im Internet nach diesem Namen, und immer ging die Trefferquote gegen Null.
Wo aber könnte ich seine Fährte in der echten Welt aufnehmen? Meine einzig belastbaren Informationen waren sein Geburtsort Frankfurt und seine Kunstsammlung. Also kam ich auf die Idee, im Frankfurter Städel Museum nachzuforschen, in der Hoffnung, dort irgendeinen Hinweis zu finden, der zu Carlos Vallin und den Ursprüngen seines Reichtums führt. Vielleicht eine Leihgabe aus seiner Kunstsammlung? Oder ein Eintrag über ihn in einem der Ausstellungskataloge?
Doch auch dort ist unter dem Namen Carlos Vallin nichts zu finden. Vielleicht sollte ich im Institut für Stadtgeschichte nachfragen, rät man mir, einem der größten Kommunalarchive, dessen historische Bestände an städtischem Schriftgut dreißig Regalkilometer füllen. Zweifellos eine beeindruckende Fülle, aber allzu hohe Erwartungen, die sprichwörtliche Stecknadel in diesem Heuhaufen zu finden, habe ich nicht. Hatte mein Vater die Sache mit dem reichen Onkel Carlos und seiner Frau, der Olivetti-Tante, vielleicht nur erfunden, um meiner Mutter zu imponieren? Hat er mit seinen Geschichten vom immensen Vermögen der Industriellenfamilie einfach nur maßlos übertrieben? Oder trieb gar meine eigene Fantasie hier Blüten in der verlockenden Aussicht auf eine spektakuläre und vielleicht sogar lukrative Entdeckung hinsichtlich meiner Vorfahren?
Mit diesen Zweifeln im Hinterkopf bitte ich eine Mitarbeiterin des Stadtarchivs im Geburtenregister nach dem Namen Carlos Vallin zu suchen. Wenige Minuten später habe ich die Gewissheit, nicht hinter einem Phantom herzujagen.
Carlos Vallin alias Karl Wertheim, geboren in Frankfurt am 24. April 1868 als fünfter Sohn von Rosalie und Joseph Wertheim, dem Gründer der Deutschen Nähmaschinenfabrik, klärt mich die Archivarin auf - seinerzeit einer der bedeutendsten Betriebe dieser Art in Europa.
Bis zur Schließung des Stadtarchivs bleibt noch eine Stunde. Also lasse ich mir Informationen über die Frankfurter Industriellenfamilie in den Lesesaal bringen - und staune nicht schlecht, als mehrere mannshohe Rollcontainer, vollgestopft mit Aktenordnern, hereingerollt werden. Die Zeit reicht nur zum Überfliegen der Papierstapel, und trotzdem fügt sich rasch ein aufschlussreiches Bild zusammen: Joseph Wertheim, der Begründer der Familiendynastie, war jüdischer Abstammung und ein großer Mäzen der Stadt Frankfurt. Er engagierte sich in der Politik, der Arbeiterwohlfahrt, dem Wohnungsbau, der Jugendfürsorge und unterhielt mehrere Stiftungen. Seine Fabrik lieferte Nähmaschinen in die ganze Welt und verfügte über eine der modernsten Eisengießereien Europas. Das Ehepaar Wertheim bewohnte eine große Stadtvilla und hatte zehn Kinder, von denen einige nach Australien auswanderten. Der Sohn Karl Wertheim alias Carlos Vallin, leitete die Firmenniederlassung in Barcelona und übernahm von dort aus nach dem Tod des Vaters 1899 die gesamte Leitung des Unternehmens. Volltreffer! Der >reiche Onkel Carlos< muss wirklich jener wohlhabende und mächtige Firmenpatron gewesen sein, von dem ich seit meiner Kindheit immer wieder bruchstückhaft gehört hatte.
Innerhalb von nur einer Stunde bin ich meinen familiären Wurzeln auf die Spur gekommen, meinem Großonkel Carlos und meinem Urgroßonkel Joseph Wertheim - so dachte ich jedenfalls. Die ganze Wahrheit über meine Herkunft sollte erst Jahre später ans Licht kommen.
An diesem Märztag im Jahr 2003 verlasse ich Frankfurt mit einem Gefühl der Genugtuung, zugleich aber auch mit einer seltsamen inneren Unruhe. So muss es sich anfühlen, wenn jemand den passenden Schlüssel für eine Tür gefunden hat und ahnt, dass dahinter die Suche nach Gewissheiten erst richtig losgeht.
Ich nehme mir vor, meine Recherchen in Frankfurt sobald wie möglich und mit deutlich mehr Zeit fortzusetzen, zumal mir die Archivarin noch einen interessanten Tipp mit auf den Weg gegeben hat. Ich solle mich mit der Organisatorin von »Frankfurt lädt ein« in Verbindung setzen. Diese Initiative veranstaltet einmal im Jahr ein Treffen für ehemalige jüdische Bürger Frankfurts und deren Nachfahren, die während der Nazizeit ins Ausland geflohen sind. Soweit sie wüsste, seien auch Angehörige der Familie Wertheim unter den Gästen gewesen. Allerdings könne sie nicht sagen, ob es sich dabei um >meine< Wertheims handelt, denn jüdischstämmige Familien mit diesem Namen gab es in Deutschland viele. Allein auf den Frankfurter Deportationslisten, so die Archivarin, seien ein gutes Dutzend Wertheims zu finden.
Während der Fahrt nach München kreisen meine Gedanken um eine einzige Hypothese: Wenn Joseph Wertheim zehn Kinder hatte, fünf Söhne und fünf Töchter, dann müsste es doch aller Wahrscheinlichkeit nach noch irgendwo auf der Welt Abkömmlinge dieser Familie geben. Aber wo? Und was sind das für Menschen? Wie viel Erinnerung an das Schicksal ihrer Vorfahren würden sie wohl zulassen wollen? Wieso sollten sie mir überhaupt Zugang zu ihrem Leben gewähren? Und was maße oder tue ich mir mit dieser Einmischung an? Solche Zweifel gehen mir durch den Kopf. Zugleich aber brenne ich darauf, diese Nachfahren der Wertheims ausfindig zu machen und kennenzulernen - sofern es sie wirklich gibt.
Mit diesen zwiespältigen Gefühlen rufe ich gleich am nächsten Morgen meine Mutter in München an und berichte ihr über meine Entdeckungen in Frankfurt. Soll ich mich jetzt wirklich mit aller Konsequenz dahinterklemmen, frage ich sie. Soll ich mich in die Vergangenheit unserer Familie graben, ohne zu wissen, was da alles zutage kommen könnte? Soll ich wildfremde Leute, auch wenn sie entfernt verwandt mit mir sind, mit meiner Nachforscherei belästigen? Ja, sagt meine Mutter, ohne zu zögern. Jetzt musst du dranbleiben und diese Menschen persönlich treffen. Du kannst noch so viele...
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