Schweitzer Fachinformationen
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Es gibt zwei Türen ins Nebenzimmer, erst schließen wir diese dort drüben, dann die andere. Anschließend rauchen wir das Zimmer voll. Man meint es gut, deshalb lüftet man. Man meint es gut und riskiert den Tod. Jetzt rauchen Sie schon. Wenn man einen Baum fällt, sieht man die Jahresringe. An denen kann man alles ablesen. Biographisches. Die Menschen, die wir verlieren, schreiben sich ein in unsere Jahresringe. Wir sind gemacht aus diesen Menschen.
Azra öffnete die Fenster, ging in Gedanken noch mal ihre Antworten durch, sie war immer noch nervös, bestimmt hatte sie geschwätzt, dabei hatte sie sich bemüht, die richtigen Antworten zu geben, das Gewicht der Worte zu wägen, um die Dringlichkeit der Fakten aufzuzeigen, die Versäumnisse von Polizei und Behörden. Das Unrecht. Vor allem das Unrecht, das ihrer Familie widerfahren war. Vor allem das. Die Journalistin, war sie gelangweilt gewesen, diese Blicke, was hatten ihre Blicke zu bedeuten, was hatte diese Frau notiert, was aufgezeichnet, das Aufnahmegerät, war es die ganze Zeit mitgelaufen, hatte sie überhaupt verstanden, verstehen wollen, war sie gekommen, um zu verstehen, warum hatte sie ihren Kaffee nicht ausgetrunken, die Baklava nicht angerührt, aber dafür Zucker, Unmengen Zucker in ihren Kaffee geschaufelt? Azra war immer davon überzeugt gewesen, dass der Tag kommen würde, an dem jemand nach ihrem Sohn fragen würde, nach den Umständen seines Verschwindens, lange nachdem der Fall zu den Akten gelegt worden war. Das war kurz nach der Ermordung von Zoran Dindic gewesen, 2003, als das Land - oder was davon übrig war - erneut im Chaos zu versinken drohte. Lange Zeit war Azra mit dem Foto und der Geschichte ihres Sohnes den Pressemenschen hinterhergelaufen, aber diese Journalistin war zu ihr gekommen, nicht umgekehrt. Jahre später, mit ihrem Anruf, war die Hoffnung zurückgekommen. Sima hatte davon nichts hören wollen. Sie solle diese Frau nicht treffen, sie hatten die Geschichte oft genug erzählt, niemand wolle sie hören, niemand wolle wissen, was wirklich mit ihrem Sohn geschehen war, und auch er würde diese Fragen nicht erneut stellen, seine Geschichte nie wieder erzählen, es sei vorbei, sie habe das zu akzeptieren, hatte Sima gesagt. Es heißt, die Zeit lässt einen alles vergessen, aber Azra wollte nichts vergessen.
Man wird dich erschlagen wie einen Hund, sie werden dich erschlagen wie einen Hund, dein Vater wird dich erschlagen wie einen Hund, ich werde dich erschlagen wie einen Hund, sollen sie dich erschlagen wie einen Hund. So etwas sagt eine Mutter nicht zu ihrem Sohn, aber Azra hatte es im Streit gesagt. Dabei wollte sie nur, dass Jonas Neven aufwachte, einen ordentlichen Beruf annahm, Verantwortung, zu lange war er verwöhnt worden, sie hatte es nur gut gemeint. Aber ihre Drohungen hatte Jonas Neven ohnehin nicht ernst genommen. Er schien nie Angst zu haben. Wann war sie so ängstlich geworden? Alles ging zu schnell, war viel zu schnell gegangen. All die Jahre, endlose Mühen und Arbeitsstunden, das Heranwachsen der Kinder, kilometerlange Fahrten zurück nach Hause, um die Familie wenigstens in den Sommerferien zu sehen, Geschenke zu bringen und etwas Geld, damit die Verwandten besser über die Runden kamen und die Großeltern ihre Enkel sehen konnten, diese Kinder, die ihnen fremder wurden mit jedem Tag, wie auch die Heimat sich in ihrer Abwesenheit veränderte, die Kinder, die ihnen über den Kopf und aus dem Familienleben heraus wuchsen, sich anpassten und Teil einer Welt wurden, die sich Azra entzog. Alles Wesentliche in ihrem Leben schien in ihrer Abwesenheit zu geschehen, das Zerbrechen des Landes und der Wahnsinn des Krieges, das Schlachten unter Nachbarn, dieses rachsüchtige bittere Land, das ihren Sohn zu sich zurückgeholt hatte, das ihm etwas angetan hatte, und sie war nicht bei ihm gewesen. Alles raste, auch das Gespräch mit der Journalistin, das Azra als ihre letzte Chance verstand, die Wahrheit zu sagen, ein Bild zurechtzurücken, sie hatte sich so gut auf das Gespräch vorbereitet. Aber es schien unmöglich, auf irgendetwas vorbereitet zu sein. Die Welt rauschte an ihr vorbei, nahm eine Geschwindigkeit auf, mit der sie nicht mehr Schritt halten konnte. Azra atmete, dachte, begriff scheinbar so viel langsamer als alle anderen um sie herum, sie musste schon lange aus der allgemeinen Lebensgeschwindigkeit, dem universellen Rhythmus der Dinge herausgefallen sein, die Geschehnisse überholten, überrollten sie, wie der Eigensinn ihrer Kinder. Eines hatte der Nachkrieg geholt, das andere war vergiftet von Propaganda. Oder. Wann und wo hatte das angefangen, sie verstand die Zusammenhänge nicht mehr. Aber hatte sie jemals verstanden? Das Weinen, das manchmal aus ihr herausbrach in letzter Zeit, dabei hatte sie früher nie geweint, war immer zu stolz gewesen, um Schwäche zu zeigen. Dieses Weinen, ohne Grund, vielleicht aus Angst, verrückt zu werden, über den Rand zu fallen. Endlich. Zuerst hatte ihre Tochter sie verlassen, dann ihr Sohn. All diese Jahre. Wofür? Das Schicksal würfelte keinen Sinnzusammenhang, nur immer neues Chaos. Zufälle gab es nicht, daran glaubte sie, aber das Dasein wollte keinen Sinn ergeben. Das Gebiet der verlorenen Zeit schien stetig zu wachsen, aber noch hatte sie Boden unter den Füßen. Oder. Mit ihrer Tochter hatte es angefangen, Biljana wies die Verantwortung von sich, ihre Verantwortung der Familie gegenüber, hatte sogar den Familiennamen verstümmelt, Künstlernamen nannte sie das, aus Biljana Banadinovic war Billy Bana geworden. Wonach wollte sie klingen? Was wollte sie mit diesem Namen darstellen, eine Comicfigur, eine Superheldin? Und doch liebte Azra ihre Kinder, dem war nicht zu entkommen.
Azra hatte nur Gutes in den Namen ihres Sohnes legen wollen. Neven, ein alter Name aus ihrer Heimat. Dann stellte sich ein anderer Name dazwischen, verdrängte ihren ersten Gedanken. Jonas. Ihr Sohn war der Erste in der Familie, der im Ausland, in Wien, geboren wurde. Jonas Neven. Auch wenn sie ihn später meist Neven rief, trug die Verbindung die Farbe der Zeit und sollte für das Ankommen in der Mitte dieses Landes stehen. Bei ihrer ersten Schwangerschaft mit Biljana war sie so jung gewesen, ahnungslos, sie hatte nur auf die Umstände reagieren können, statt bewusst Entscheidungen zu treffen. Azra hatte sich viele Gedanken gemacht zu ihrem zweiten Kind und es diesmal besser machen wollen, den Anfang, das Denken, das Entscheiden.
Azra schwitzte, der Sommer war unerträglich in diesem Jahr, wie der Frühling zuvor, der nicht stattgefunden hatte, stattdessen kippte eine Jahreszeit in die andere. Von Kalt zu Heiß. Eine ganze Weile war sie in der Küche auf und ab gelaufen. Sie konnte sich riechen, nervöser Schweiß, Katzenpisse, sie würde sich umziehen müssen, sie hielt inne, glaubte im Augenwinkel eine Bewegung in der Scheibe des Stilllebens zu sehen, ein Stickbild hinter Glas, das leicht schräg über dem Esstisch hing. Azra hörte ihr Herz schlagen. Aber nur ihr Spiegelbild starrte sie an. Sie fühlte, wie Gesicht und Hals rot anliefen, die Hitze hielt minutenlang an, ebbte ab, ließ sie fröstelnd zurück. War es dieser Körper, der sie einmal mehr verriet? War das immer noch sie? Wann war das, was sie sah, ihr Gesicht geworden? Sie dachte an die Redewendung, dass nicht der Spiegel schuld sei, wenn das Gesicht hässlich aussieht, und schnitt sich selbst eine Grimasse. Sie sah die Journalistin vor sich, selbstbewusst und neugierig, scheinbar furchtlos, ihr klarer Blick, früher war Azra selbst so makellos jung gewesen. Sie dachte an die unbeantworteten Fragen, die halb gerauchten Zigaretten, die im Aschenbecher unbeachtet heruntergebrannt waren. Azra hatte sich dabei ertappt, wie sie die Frau schon im Hereinkommen gemustert und eingeordnet hatte. Die Frau sah so unerträglich aufgeräumt und lässig aus in ihren taillenhoch geschnittenen schmalen Hosen, dazu eine ärmellose Hemdbluse und Sakko, Turnschuhe aus braunem Leder, die teuer aussahen, eine Laptoptasche über der Schulter, schlichtes Make-up, der kinnlange Bob perfekt glattgebügelt. Das Unaufgeregte, Mühelose in ihrem Auftreten. Azra sah das bereits gelebte Leben dieser Frau vor sich, eine gutbürgerliche Familie, der Zugang zu einer ordentlichen Ausbildung, ein aufgeräumtes, sorgloses Dasein. Azra hatte sich vorgenommen, nicht vorschnell zu urteilen, sondern offen zu sein und freundlich, aber die Missgunst steckte ihr tief in den Knochen, sie hatte sich eingerichtet in ihren Vorbehalten gegen die Welt, gegen das eigene Geschlecht. Oder war es nicht ihre Schuld, hatten diese Vorbehalte sich, von außen kommend, in ihr eingenistet? War es das Gefühl, immer schon unsichtbar gewesen zu sein und mit jedem Tag, den sie älter wurde, mehr zu verschwinden? Niemand schien mehr von ihr Notiz zu nehmen, wenn sie die Straße entlanglief. Warum auch, wer war sie, was wusste sie schon, weder hatte sie kluge Bücher gelesen wie ihre Tochter, noch war sie viel gereist oder beherrschte Sprachen, nur das Deutsche hatte sie sich mühsam erarbeitet, sie machte sich keine Illusionen, ihr Leben war nicht wichtig, würde spurlos in einer größeren Geschichte verschwinden. Sie fragte sich, ob das ihr einziges Talent war, dieser Instinkt, mit dem sie die Geschichten hinter dem Verhalten von Menschen lesen konnte, sie wusste rasch Bescheid oder glaubte zumindest, Bescheid zu wissen, über alles und jeden. Oder hatte auch dieses Talent nicht mehr Gewicht als die Bauernschläue ihrer Mutter?
Ganz hinten in der Schublade der Anrichte, sie tastete unter den Küchentüchern, da musste...
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