Schweitzer Fachinformationen
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Die neue Veranda im Art-déco-Stil ist jetzt schon ein Prunkstück. Sie hat ein schmuckes Dach aus ziseliertem Eisen und Glas und schmiegt sich an die Fensterfront des Wohnzimmers. Direkt neben den Rosen, die in allen Schattierungen von Rosarot, Gelb und Orange leuchten und in der Sonne des Nachmittags herrlich duften. Es ist halb vier, und der Bau ist inzwischen so weit gediehen, dass wir unsere Stühle darin platzieren, um den weiteren Gang der Arbeiten vor Ort mitverfolgen zu können. Wir, das sind ich, meine Freundinnen Marcelle und Dodo und ein kleiner Topf mit einer schwindsüchtigen Kamelie, den mir Dodo mitgebracht hat. »Die erste Bewohnerin für deine Orangerie«, hatte sie gesagt und mir das Pflänzchen strahlend in die Hand gedrückt.
Das ist typisch Dodo. Ein riesengroßes Herz, aber bei der praktischen Ausführung gibt es noch Spielraum für Verbesserung. Ich schaue auf das magere Blattwerk und denke, dass ich es als karitatives Projekt betrachten könnte, dieses kümmerliche Ding aufzupäppeln, bis ich an den dürftigen Stängeln plötzlich ein ekliges Gewimmel erkenne. Blattläuse. Und wenn ich sie ohne Lesebrille sehe, dann müssen es wirklich viele sein. Marcelle, die meinem Blick gefolgt ist und noch sehr scharfe Augen hat, nimmt mir die Pflanze aus der Hand und stellt sie mitten im Raum auf den Betonboden. Sie rechnet damit, dass ich das Gießen ohnehin vergessen werde, und als Architektin hat sie selbstverständlich sofort den Platz entdeckt, an dem das Überleben von organischem Material absolut unwahrscheinlich ist. Marcelle ist ein Meter achtzig groß, mager und eckig, und wer sie sieht, denkt sofort: Architektin. Sie könnte mit ihrem Aussehen gar keinen anderen Beruf ausüben. Ihr dunkles Haar ist früh grau geworden, und Marcelle hat nie versucht, daran etwas zu ändern. Inzwischen ist es beinahe silbern, und sie trägt es in einem streng geometrischen Schnitt genau kinnlang. Von Weitem sieht sie ein wenig aus wie ein von einem Dreieck gekrönter Strich. Marcelle ist hier, um den Bau zu beaufsichtigen, Dodo und ich, um Maxim bei der Arbeit zuzuschauen. Wer so herrliche Muskeln hat, denke ich und schenke meinen beiden Freundinnen Champagner nach, sollte ständig Steine schleppen.
»Was glaubst du, wie alt er ist?«, frage ich Dodo, deren Augen ein wenig glasig geworden sind, seit Maxim in der Hitze des Nachmittags sein Shirt ausgezogen hat. Ich muss die Frage zweimal wiederholen, bis Dodo mit einem tiefen Seufzer nach ihrem Glas greift und sagt: »Keine Ahnung. Dreißig vielleicht?« Ich schätze ihn ja eher auf fünfundzwanzig, aber aus der Distanz meiner beinahe fünfzig Jahre ist das kein so großer Unterschied.
Maxim hat seine Last abgeladen und streckt den Rücken durch. Eine Bewegung, die unsere Blicke unwillkürlich auf das Spiel seiner Bauchmuskeln lenkt. Dodo stößt einen weiteren Seufzer aus, und selbst Marcelle wirkt nicht mehr ganz so entspannt, als sie ihre schwarze Architektenbrille auf der Nase nach oben schiebt. Dann zerstört sie den Zauber des Augenblicks, indem sie nach Victor fragt. »Hast du es ihm gesagt?«
»Na ja, irgendwie schon.«
Meine beiden Freundinnen tauschen einen vielsagenden Blick. Es gibt natürlich durchaus Aspekte meiner Ehe, über die sie nicht Bescheid wissen, aber Victors Abneigung gegen bauliche Verbesserungen unseres Hauses - seines Elternhauses - kennen sie sehr wohl. Als ich vor fünfzehn Jahren eingezogen bin, habe ich als Erstes die alte Küche herausreißen lassen und durch eine wunderschöne Landhausküche ersetzt. Dann habe ich zwei neue Badezimmer einbauen lassen und sieben der acht Zimmer dreimal neu gestrichen. Im Erdgeschoss wurden vier Wände entfernt, sodass wir jetzt ein weites, luftiges Wohnzimmer haben, zu dem die neue Orangerie nebenbei gesagt einfach großartig passt.
Aber jede Veränderung war ein Kampf. Man hätte erwarten dürfen, dass Victor den Nutzen permanenter Weiterentwicklung irgendwann erkennen und sich der Prozess von seiner Seite her etwas leichter gestalten würde. Oder man hätte argumentieren können, dass vom Originalzustand des Hauses bis auf Victors Fernsehsessel ohnehin nichts erhalten geblieben sei und weitere bauliche Maßnahmen daher keine große Rolle mehr spielten. Aber so tickt Victor nicht. Die traurige Wahrheit ist, dass mein Ehemann Veränderungen hasst. Er liebt es, seine Socken in der immer gleichen Schublade zu finden. Dabei stört ihn nicht mal, dass diese Schublade seit Ewigkeiten klemmt. Er mag es, dass seine Zahnbürste rechts vom Waschbecken steht und meine links. In der Woche, in der ich sie ohne sein Wissen vertauscht hatte, hat Victor sich mit meiner Bürste die Zähne geputzt. Mein Mann schätzt Alltagstrott. Das war nicht immer so.
Ich habe Victor kennengelernt, als ich in Paris Kunst studierte. Er war an der ENA eingeschrieben, der prestigeträchtigen Kaderschmiede, aus der fast die gesamte französische Elite stammt. Blaue Augen und schwarzes Haar. Er war der am besten aussehende Kerl, mit dem ich je ausgegangen war. Ich konnte nicht fassen, dass er meine Verrücktheiten zu lieben schien. Damals war Victor ein Siegertyp. Ungestüm und voller Selbstvertrauen wollte er nicht nur mich, sondern gleich die ganze Welt erobern. Zweifel und Zögern kannte er nicht. Wir haben bis zur Hochzeit nicht mal zehn Monate gewartet. Weil wir damals beide große Pläne hatten. In Victors Heimatstadt zurückzukehren und den Rest unseres Lebens hier zu verbringen gehörte nicht dazu.
Ich gebe zu, am Anfang war ich damit einverstanden. Nach dem Studium waren wir für zwei Jahre in die Normandie gezogen. Victor schuftete wie ein Irrer, um die Firma, die er gegründet hatte, zum Fliegen zu bringen, und ich malte Bilder, die im Laufe der Monate immer blasser und grauer wurden, bis sie aussahen wie der Nebel, der uns dort oben im Norden beinahe ständig zu umgeben schien. Als wir dann nach Aix umzogen, war das Eintauchen ins helle Licht der Provence wie ein Aufatmen. Der Grund für den Umzug war Victors Job. Seine Firma war gescheitert. Er hatte vor, es bald ein zweites Mal zu versuchen, doch als Zwischenlösung nahm er den Job bei der Bank an.
Für mich war die Provence die pure Inspiration. Ich liebte die Gerüche. Den Duft der blühenden Mimosen im Frühjahr, die Rosen, die hier schon im April zu blühen beginnen. Im Sommer konnte ich nicht genug kriegen von den Früchten. Melonen und Pfirsiche und Pflaumen, die voll und prall und saftig waren wie nirgendwo sonst auf der Welt. Ich liebte es, beim Aufwachen vom Bett aus eine Palme vor meinem Fenster zu sehen. Aix-en-Provence ist die Stadt von Cézanne. Van Gogh hat in der Provence gemalt, Matisse, Renoir und Monet waren da. Wer es hier nicht schafft, dachte ich damals, schafft es nirgendwo. Heute muss ich leider sagen, dass Lavendel, Sonnenblumen und Mohn allein noch keine Kunst ausmachen. Im Gegenteil. Nur dass das hier keinen zu kümmern scheint. Hier ist jeder ein Künstler, und die meisten sind entsetzliche Dilettanten. Ich habe irgendwann entschieden, dass ich dazu nicht gehören will. Das soll nicht resigniert klingen. Ich habe auf Grafik umgesattelt und im Lauf der Jahre eine kleine Agentur aufgebaut. Victor ist bei der Bank geblieben.
In den ersten Jahren redeten wir noch davon, einen Neuanfang zu wagen. Irgendwann war das dann einfach kein Thema mehr. Bis mein Mann vor zehn Monaten völlig überraschend verkündete, wir würden nach Paris ziehen. Er sollte befördert werden. Ich konnte es kaum fassen und war wie elektrisiert. Wir redeten die ganze Nacht, und es fühlte sich beinahe so an, als wären wir wieder jung. Wenige Wochen später gab ich die Agentur auf. In Paris, dachte ich, könnte ich wieder mit dem Malen anfangen. Oder vielleicht eine Galerie eröffnen. In Paris gab es tausend Optionen. Als sich der Umzug dann verzögerte, nahm ich übergangsweise einen Teilzeitjob an. An drei Tagen in der Woche leite ich Führungen im Atelier Cézanne. Das ist nun wirklich nicht mein Traum gewesen.
Aber dann hat sich der Umzug zerschlagen. Die Bank hat einen Rückzieher gemacht. Einfach so. Wegen einer dummen Reorganisation. Daraus kann ich Victor natürlich keinen Vorwurf machen. Ich weiß, er leidet auch. Das ändert allerdings nichts an meiner Lage. Ich fühle mich also durchaus berechtigt, meine künstlerische Ader auszuleben, indem ich das Haus noch etwas verschönere. Und Victor ist eigentlich nicht in der Position, mich dafür zu kritisieren. Dennoch fand ich es schlauer, ihn, was die Orangerie betrifft, einfach vor vollendete Tatsachen zu stellen. Fait accomplit, wie man hier sagt. Deshalb die Heimlichtuerei.
Die Veranda soll eine Überraschung werden. Am Abend will ich sie mit Kerzen und Blumen hübsch dekorieren und Victor dann dort ein fantastisches Nachtessen servieren. Dazu werde ich mein schwarzes Kleid und Netzstrümpfe tragen. Marcelle scheint mein Plan zu überzeugen, aber Dodo verzieht zweifelnd das Gesicht. Sie hat ja auch allen Grund, in Eheangelegenheiten eher pessimistisch zu sein. Sie ist mit Maurice verheiratet, dem größten Autohändler im Ort und einem Mann - man muss es leider so deutlich sagen - mit ziemlich neureichen Manieren. Wobei das »neureich« in Ordnung geht. Dank seines Geldes lebt Dodo in einem fantastischen Art-déco-Haus auf der anderen Seite der Placette Colonel André Grousseau, mir direkt gegenüber. Außerdem hat Maurice ihr drei Kinder geschenkt. Drei entzückende Töchter im Alter von 21, 16 und 9 Jahren, die ganz nach der Mama kommen. Mit den Kindern und dem Haus sind Maurices Vorzüge aber dann auch schon vollständig aufgezählt. Dodo kann einem leidtun, denke ich, während sie sich etwas mühsam aus dem Sessel stemmt. Sie war schon immer eher füllig und hat in den letzten Jahren noch mehr...
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