Schweitzer Fachinformationen
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Beim Anblick der Hochzeitstorte läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Die Torte ist vier Etagen hoch, blassrosa und schokobraun und gekrönt von pinkfarbenen Marzipanrosen. Der Boden ist ein saftiger Biskuit, bedeckt von zarter Buttercreme. Es gibt drei Geschmacksnuancen: Himbeere, Schokolade und Vanille. Dazwischen liegen dünne Schichten feinster Meringue, außen knusprig und innen zart schmelzend weich. Ich lobe mich nur selten selbst, aber so eine Meringue kriegt nicht jeder hin.
Ich nehme die Torte aus der Kühlkammer und stelle sie in der Küche vorsichtig auf die Arbeitsplatte. Dann binde ich mir die Schürze ab und versuche, mir vor dem Spiegel in meinem Spind noch mal kurz das Haar zu richten. Leider ist das ein hoffnungsloses Unterfangen. Ich habe braune Locken, die zum Eigenleben neigen. Besonders widerspenstig werden sie, wenn sie mit warmem Dampf in Berührung kommen. Bei mir ist das beinahe jeden Abend der Fall. Denn ich bin Köchin und führe ein Restaurant.
Vor zwei Jahren habe ich die »Sonne« von meinem verstorbenen Vater übernommen. Einen Tag in der Woche haben wir geschlossen, aber an den restlichen sechs Tagen bin ich gezwungen, mit diesem Durcheinander auf meinem Kopf zu leben. Und mit den roten Wangen, die mir die Arbeit in der Küche beschert.
Doch heute Abend wird wohl niemand auf meine Haare achten. Oder auf meine roten Wangen. Ich schlage die Spindtür rasch wieder zu. Heute Abend werden aller Augen auf die wunderbare Hochzeitstorte gerichtet sein. Meine Freundin Petra hat darauf bestanden, dass ich sie selbst serviere, und diesen Wunsch konnte ich ihr natürlich nicht abschlagen.
Wir kennen uns seit dreißig Jahren. Und es ist Petras Hochzeit, die wir heute feiern.
Als Hochzeitsgeschenk hat sich Petra von mir ein französisches Essen gewünscht. Das ist eine Leidenschaft, die wir teilen, wir lieben beide die französische Küche. Die würzigen Suppen, die reichhaltigen Soßen, allein die raffinierte Art, ein Hähnchen zu braten - und das Universum der Gewürze! Schon die Namen bringen uns ins Schwärmen: Crêpes Suzette und Crème brûlée. Sauce béarnaise, Chateaubriand, Gratin dauphinois. Für Petras Hochzeit französisch zu kochen ist beinahe wie ein Geschenk an mich selbst. Nur würde ich mich normalerweise nicht trauen, so ein Essen hier in der »Sonne« zu servieren.
Die »Sonne« ist ein traditionelles Lokal. Es liegt mitten im Dorfzentrum von Efringen-Kirchen im schönen Markgräflerland, in der südwestlichen Ecke von Deutschland. Unsere Gegend ist bekannt für ihre deftige Hausmannskost, ihre Weine, das sonnige Wetter und die gute Laune der Bewohner. In der »Sonne« gibt es Schnitzel in allen Variationen. Spätzle. Kartoffelstampf. Und natürlich das Hausmacherpfännchen. Das ist unser Vorzeigegericht. Es stand schon bei meinem Vater auf der Karte. Und Petra weiß genau, wie sehr ich es inzwischen hasse.
Die Wahrheit ist, meine Wünsche und Träume sind größer als das Hausmacherpfännchen. Sie übersteigen das Hausmacherpfännchen bei Weitem. Ich liebe es, neue Gerichte zu erfinden, fantasievoll Gewürze zu mischen, eigenständig ganz neue Kreationen zu entwickeln. Heimlich. In meiner Küche zu Hause. Petra, die oft bei mir zu Gast ist, versucht, mich ständig zu überreden, solche Gerichte auf die Karte der »Sonne« zu nehmen. »Du bist eine tolle Köchin, Betty Bauer«, sagt sie mir jedes Mal. »Das solltest du den Leuten endlich zeigen.«
Würde ich ja gerne. Nur bin ich leider ziemlich schüchtern. Und ich habe die unselige Begabung, die schlimmsten Wendungen, die das Schicksal nehmen könnte, vorherzusehen. Ich gehöre zu den Menschen, die ständig einen Schirm mit sich herumschleppen. Ich bin der feuchte Traum jedes Versicherungsagenten. Mir könnte man auch in der Wüste eine Versicherung gegen Wasserschäden verkaufen. Schon als Kind hatte ich panische Angst vor Bananen, nachdem ich in einem Comic gesehen hatte, wie tückisch man auf Bananenschalen ausrutschen kann. Ich bin schon vorsichtig auf die Welt gekommen.
Deshalb ist dieses Hochzeitsessen eine gewaltige Herausforderung für mich. Ich habe mir nächtelang Sorgen gemacht. Aber schließlich bin ich über meinen Schatten gesprungen und habe meine Ängste überwunden. Ich habe ein opulentes französisches Mahl für fünfzig Personen entworfen, und die letzten zwei Tage habe ich beinahe ununterbrochen in der Küche geschuftet.
Ich habe geschält, geschnetzelt, pochiert, angebraten, eingekocht, abgeschöpft und gerührt, abgeschmeckt und wieder gerührt, und dazwischen habe ich wirklich gedacht, dass ich es nicht packe. Aber ich habe es geschafft und sieben Gänge auf den Tisch gebracht. Ich kann es selbst noch kaum fassen. Es ist das Beste, was ich in siebenunddreißig Jahren auf die Beine gestellt habe. Mehr oder weniger allein. Nur bei der Mise en Place hat Meli, meine Küchenhilfe, mit angepackt.
Und dann gibt es natürlich auch noch Klaus. Klaus ist mein Partner in der »Sonne«. Er ist der Charmante und Weltgewandte von uns beiden. Er kann sich wunderbar mit jedem Gast unterhalten. Deshalb führt er auch die Bar. Und er hilft im Service mit. Nur an den Herd darf man Klaus nicht lassen.
Normalerweise würde Klaus meine Torte servieren, doch davon wollte Petra absolut nichts wissen. Sie beharrte darauf, dass die Gäste die Köchin sehen wollten. Das erlebe ich zwar selten so, aber ich muss gestehen, jetzt bin ich plötzlich froh über Petras Unnachgiebigkeit. Ein wenig stolz bin ich nämlich schon.
Ich nehme die Torte hoch und fühle, wie meine Mundwinkel sich unwillkürlich heben. Sie ist wirklich schön geworden. Und sie duftet unglaublich lecker. Nicht mal ich habe an dieser Torte etwas zu meckern. Und das geschieht nun wirklich selten. Petra ist davon überzeugt, mein Auftritt mit der Torte wird ein Höhepunkt, und vielleicht, denke ich mit einem erwartungsvollen Flattern im Magen, vielleicht hat sie ja tatsächlich recht.
Ein warmes Gefühl breitet sich in meiner Brust aus. Vielleicht wird diese Torte, dieses Essen heute Abend meinem Leben eine neue Richtung geben. Vielleicht werden die Leute jetzt begreifen, dass mehr in mir steckt als das Hausmacherpfännchen.
Bei dem Gedanken werde ich ganz aufgeregt, und während ich die Torte durch den kühlen Flur zum Gastraum trage, beginnt in meinem Kopf ein Film abzulaufen. Ich stelle mir vor, wie ich die Tür aufstoße und den Gastraum betrete. Ein helles Licht liegt auf meinem Gesicht. Drinnen werde ich von den Gästen mit Hochrufen empfangen, und begeisterter Applaus brandet auf, als ich den Raum betrete. Lauter Menschen mit glücklichen Gesichtern gratulieren mir von Herzen zu meinem großen Erfolg. Betty, sagen sie, wir können es gar nicht fassen - dieses wunderbare Essen! Wir haben dich so was von unterschätzt. Klaus wird mich umarmen. Er wird mich an sich drücken, dann hebe ich meinen Kopf und dann . dann wird Klaus mich küssen.
Mein Herz klopft wie verrückt, als ich die Tür erreiche und eine Sekunde innehalte.
Ich trete in den Gastraum und werde von lähmendem Schweigen empfangen. Meine Gäste sehen mich betreten an. Petra in ihrem hübschen Hochzeitskleid vermeidet es, mir in die Augen zu blicken. Klaus steht neben der schönen Angelika. Er hat sich über sie gebeugt und hält ihr die Hand.
Ich fühle, wie mir das Blut ins Gesicht steigt. Ich stelle die Torte mit einer heftigen Bewegung auf den Tisch. »Angelika ist es schlecht geworden«, sagt Klaus in die Stille. »Betty, ich glaube, mit den Muscheln war etwas nicht in Ordnung.«
Eisiger Schreck fährt mir in die Glieder. Den Lieferanten für die Meeresfrüchte habe ich auf Herz und Nieren geprüft. Bei Muscheln ist das Pflicht. Meine Muscheln sind ganz frisch. Gestern sind die noch im Meer geschwommen. In der Normandie. Kultiviert in der Bucht von St. Michel, geerntet in den frühen Morgenstunden, sofort auf Eis gelegt und nach Freiburg gefahren, wo ich sie heute früh um vier persönlich mit dem Kühlwagen abgeholt habe. Diese Muscheln sind frischer als alles andere hier drinnen. Die schöne Angelika mit eingeschlossen.
Wahrscheinlich ist ihr schlecht geworden, weil ihre Hose zu eng sitzt. Oder sie hat zu viel getrunken. Ist schließlich auch schon vorgekommen. Mehr als einmal. Um es mal höflich auszudrücken.
Plötzlich bin ich wild entschlossen, mir davon nicht alles verderben zu lassen. In den letzten Wochen habe ich nur für dieses Essen gelebt. Ich habe gezittert und gebebt und in den vergangenen zwei Tagen einfach alles gegeben - und nun soll das umsonst gewesen sein? Wegen der schönen Angelika? Nein, das darf nicht sein!
Ich dränge mich neben sie, wobei ich - ein positiver Nebeneffekt - Klaus zwinge, ihre Hand loszulassen.
»Reiß dich zusammen«, sage ich streng und überrasche mich damit selbst. »Oder willst du Petra die ganze Hochzeit verderben?«
»Betty, bitte!« Klaus runzelt die Stirn. Kein Wunder, solche Sachen sage ich normalerweise nicht. Solche Sachen denke ich nur. Aber ich bin derart enttäuscht, dass die Worte ganz von allein meinen Lippen entschlüpfen.
Und auch meine Hände habe ich offenbar nicht mehr vollständig unter...
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