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Camilo Guevara
Santa Cruz, Bolivien, 1967. Fast ein Jahr intensiven Kampfes ist vergangen. Kürzlich ist die Gruppe von Joaquín durch Verrat in einen Hinterhalt geraten. Immer enger wird Ches Truppe umzingelt, und so entscheiden sie sich, das Gelände zu verlassen und ein besser geeignetes Gebiet zu suchen, von dem aus sie ihre Aktivitäten effektiver durchführen können, um so den Guerillakampf zu konsolidieren. Bald wird es dämmern, die Soldaten marschieren weiter, der Kampf steht unmittelbar bevor.
Auf der letzten Seite des vom bolivianischen Militär beschlagnahmten grünen Kalenders, wegen der schwer lesbaren Schrift des Autors kaum entzifferbar, beginnt Che seinen Eintrag vom 7. Oktober 1967: »Ohne Komplikationen und idyllisch verging der Tag, an dem wir vor elf Monaten unsere Guerillaaktivitäten begannen .« Diese Worte scheinen in keiner Weise der Epilog eines heroischen Kampfes zu sein, der in diesem Tagebuch beschrieben wird. Sie lassen keine Andeutung von Verzagtheit, Pessimismus oder die Ahnung einer Niederlage erkennen, im Gegenteil, sie wirken wie ein Aufbruch, wie ein Vorwort.
8. Oktober: Ein verwundeter Gefangener wird in die ärmliche Dorfschule von La Higuera überstellt. Gedankenverloren und schwer atmend schreitet er voran und scheint eine gewaltige Last zu tragen, sodass er kaum aufrecht gehen kann. Diese Last ist die Bürde der vergangenen Monate, die ganze Summe der Leiden und Mühen: Katastrophen, Krankheiten, der Tod von Freunden und Compañeros, die übergroße Verantwortung für das Leben von Fremden und Vertrauten - und die Sehnsucht nach den ihm nahestehenden Menschen. Doch trotz dieser übermenschlichen Last, die auf ihm ruht, ist seine Haltung aufrecht; abgekämpft, staubig und mit struppigem Haar steht er da, in seinen Überzeugungen unerschüttert und bereit für seinen nächsten Kampf.
Etwas später, gefesselt und an die Lehmwand gelehnt, erwartet er das Urteil, das er von vornherein kennt. Still beobachtet er die ihn bewachenden Schergen. Einige sind überheblicher als andere, und wie alle Meuchelmörder rühmen sie sich frühzeitig ihres Sieges. Ab und zu versuchen sie, ihr Opfer zu demütigen, aber er strahlt eine tiefe Ruhe aus, die Respekt erheischt. Sein steinerner Blick, der andere Menschen zum Schweigen bringt, lässt auch hier all diese Feiglinge innehalten und irritiert sie.
Sie stehen vor einer sehr schwierigen Entscheidung. Einerseits befindet sich in ihren Händen einer der prominentesten Revolutionäre, von dem sie je gehört haben, ein Virtuose mit überzeugenden Argumenten: der lebendige Beweis für eine angebliche Aggression aus dem Ausland oder für die absurden Pläne einer kommunistischen Weltverschwörung.
Andererseits wäre er aber auch ein hartnäckiger und zäher Ankläger, der jedes Tribunal zu seiner Bühne machen könnte, vollkommen unabhängig von dem Ergebnis eines angeblich gerechten Gerichtsverfahrens. So könnte er die Verhandlung in einen gefährlichen politischen Prozess verwandeln - mit Folgen, die nicht abzusehen sind.
Das ELN von Bolivien war offen auf den Plan getreten und hatte zahlreiche, fast immer erfolgreiche Aktionen auf bolivianischem Territorium durchgeführt, ohne dass dies jemand hatte verhindern können. Bolivien und die ganze Welt hatten davon Kenntnis genommen, keiner konnte die Aktivität der Guerilla verschweigen. Und überall war die Sympathie zu spüren, obwohl sicherlich nicht die erhoffte massive Unterstützung zu verzeichnen war.
Die Ereignisse jener Tage hatten, zufällig oder auch nicht, der Guerilla eine enorme Publizität verschafft. Die kleine Gruppe war zu einer großen Gefahr für das bestehende Regime geworden. Die Verantwortlichen in der bolivianischen Regierung hatten es gespürt und geahnt, und dann wurde es immer mehr zur Gewissheit. Sie verlangten daher ein rasches Ende.
Es ist schon paradox, aus einer Schule ein Gefängnis zu machen. Aber ebenso kriminell wie vollkommen erfolglos und höchst unklug ist der Versuch, Ideen durch Schüsse dort auslöschen zu wollen, wo sie fruchtbaren Boden finden können. Das ist nur die typische Handlungsweise rachsüchtiger und zutiefst verachtenswerter Machtmenschen, die ihre »Sache« stets mit wenig subtilen Methoden durchsetzen wollen.
In den wenigen ruhigen Momenten versucht er seine Fesseln ein wenig zu lockern, um seine Glieder zu bewegen. Er erinnert sich an den Abschied von seiner Frau, umringt von seinen Kindern, Angehörigen und den engsten Freunden. Er denkt an sein Argentinien, an sein Kuba, an die Welt und an Fidel. Und er sorgt sich um jene, die lebend aus dem Gefecht entkommen konnten, und er erinnert sich und denkt zurück .
Es kann als sicher gelten, dass es Personen gab, die sich beglückwünschten oder beglückwünscht wurden angesichts dieser »glorreichen« Tat der bolivianischen Armee. Die Festnahme des Comandante Guevara muss wie eine Sauerstoffgabe auf das abgezehrte und abgewirtschaftete Regime wirken, so hofften diese Leute zumindest. Aber wie kann der Geist der Zukunft in die Vergangenheit verbannt werden, wie kann ein Beispiel verdeckt werden? Sein Bein war verwundet, sein Gewehr funktionsuntüchtig, seine Munition aufgebraucht - so haben sie ihn an jenem Tag gefangen nehmen können, aber nur weil er wirklich ein Mann, wirklich ein Bruder und wirklich bis in das Mark ein Revolutionär war; einer von den Menschen, die allein von den Gefühlen der Liebe geleitet werden.
Er hätte die feindliche Umzingelung durchbrechen können - wer will an seinen taktischen Fähigkeiten zweifeln? -, aber er zog es vor, bei jenen zu bleiben, die sich nicht mehr selbst helfen konnten, bei den Kranken und den Verwundeten. Er hätte schon vor längerer Zeit Santa Cruz verlassen können, aber er zog es vor, zu bleiben und die Suche nach Joaquíns Truppe nicht aufzugeben. Wertvolle Tage sind so verronnen, aber er hat sie nie als vergebliche Tage angesehen. Der Pelao und der Franzose, der ihn später diffamieren sollte, hatten bestimmte Aufgaben übernommen. Er hätte beide ihrem Schicksal überlassen können, aber er zog es vor, sie an einen Ort zu bringen, den er als sicher betrachtete.
Er ist ein so intensiver und vollständiger Mensch, dass er von kleinmütigen Menschen nicht verstanden wird. Ja, warum es leugnen? Es gibt Menschen, die ihn fürchten und die ihn kritisieren. Es sind die unbeugsamen Nachtischrevolutionäre, die Bürokraten, verständlicherweise die Feiglinge, die Unehrlichen, die Opportunisten, die Tyrannen der Oligarchien und die Oligarchen der Demokratie. Aus verschiedenen Gründen verstecken sie sich vor ihm oder versuchen sich zu verstecken - in der Illusion ihrer Kleingläubigkeit verhaftet, dass Utopien nicht realisierbar sind. Aber die Mehrheit der Menschen, die Ches Vision teilweise oder vollständig teilen, schätzen ihn über alles.
Seine wahre Größe wurde in diesen Augenblicken unmittelbar spürbar und in die Geschichte aufgenommen. Diejenigen, die ihn gefangen nahmen, sind bei bester Gesundheit und wollen sich nun dafür rächen, dass er es mit lediglich 50 bewaffneten Männern gewagt hatte, ein ganzes Heer herauszufordern, das vom US-Imperium ausgebildet und finanziert wurde.
Nicht weit entfernt sammelt sich in derselben Nacht eine kleine Gruppe in einem zerklüfteten Gebiet. Einige sind verwundet, alle sind unbeschreiblich hungrig, durstig und erschöpft. Mithilfe eines tragbaren Radios versuchen sie verzweifelt, etwas über ihre Compañeros und ihren verehrten Anführer zu erfahren. Sie wissen nichts über sie, ahnen jedoch das Desaster und suchen nervös jene Sender, die sie als die vertrauenswürdigsten kennen. Aus Büchern und aus eigener Erfahrung wissen sie genau, dass man bei der ständigen Suche nach Informationen auf der Hut sein muss, weil Informationen subtil manipuliert werden und so zur tödlichen Falle werden können - wenn sie dadurch etwa in eine falsche Richtung gelockt werden. Jetzt aber wären sie mit dem geringsten Hinweis zufrieden, der ihnen irgendeine Entscheidung und ein Handeln ermöglichen würde.
Ein Handeln im Sinne der Solidarität mit ihren Brüdern der Waffen und der Ideen: Unerschütterlich stark war ihr Wille und die Bereitschaft, ihnen zu helfen und die Bewegung zu retten, viel stärker als das verständliche Zögern angesichts der Ungewissheit des Ausgangs einer höchst gefährlichen Rettungsaktion. Ungebrochen ihr Wille und ihre Bereitschaft, trotz der Abwesenheit Ches und der anderen Compañeros. Denn die Bewegung des ELN in dieser ersten Etappe der Konsolidierung war sehr gefährdet, diese Bewegung, für die sie so oft das Leben riskiert hatten - und daher waren sie uneingeschränkt bereit zu handeln.
Sie hatten sich in allen Punkten so verhalten, wie es die vorab getroffenen Vereinbarungen vorsahen. Wenn nicht hier, dann dort - und wenn nicht dort, dann woanders. So war ein eventueller Rückzug der Kräfte geplant, und so war auch festgelegt worden, wo sie sich im Falle von Verlusten oder eines planmäßigen Rückzugs treffen würden. Daher bestand absolut kein Grund, sich zu schämen. Für einige waren Monate des Kampfes in Bolivien vergangen, für andere ein ganzes Leben mit harten Schicksalsschlägen, unglaublichen Entbehrungen und mit zahlreichen Träumen und Hoffnungen, eine Zeit, in der jeder jedem half, eine Zeit, in der jeder Freunde und Angehörige verloren hatte. All dies beugt sie in dem Gefühl eines ungerechten und gleichzeitig logischen Schuldempfindens: das Schuldgefühl der Überlebenden; und die latente Ahnung oder Gewissheit einer für immer verloren...
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