Schweitzer Fachinformationen
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«Da ist ein junges Paar gewesen, Hamburger Hof oder da herum, war auf der Hochzeitsreise nach Helgoland. Wie sie nach der Landungsbrücke fahren wollen, kriegt sie's, und nun fährt sie nach Ohlsdorf.»
Unbekannter Zeitzeuge der Choleraepidemie 1892 in Hamburg
Das Munkmarscher Fährhaus war ein gedrungenes, längliches Gebäude mit schwarzem Schieferdach. Es thronte inmitten der Dünen am Rande einer Bucht auf der Seeseite der Insel, die vor kurzem erst durch Holzstege für die neuen Dampffähren erschlossen worden war. Die Außenhaut des Hauses erstrahlte in edlem Weiß, den Traditionen der Insel folgend, das Fachwerk war schwarz. Für gewöhnlich war der Hafen verträumt und nahezu verlassen, der Steg füllte sich erst kurz vor Ankunft der Fähre. Doch an diesem Tag gab es einen nie gekannten Ansturm von Menschen. Längst machte das Gerücht die Runde, dass Hamburg in Quarantäne genommen wurde.
Hamburger Gäste auf Sylt schienen besorgt, nicht mehr an ihre Assessoren-Schreibtische und in ihre Kaufmannskontore zurückkehren zu können. Die Billett-Schalter wurden bedrängt, dabei war die Fähre vom Festland noch nicht einmal in Sicht.
Die Mietdroschke, mit der Frieda und Gustav, das Paar in den Flitterwochen, Hedwig aus Wenningstedt abgeholt hatten, entließ ihre Passagiere am Bootssteg. Der Kutscher half, das Gepäck zu entladen, dann machte er sich flugs aus dem Staub.
Gustav nahm so viele Koffer und Reisetaschen als möglich, den Damen blieben nur noch ihre Pompadours. Unter Gustavs Führung - die sprichwörtliche Ruppigkeit der Berliner war hier von Vorteil - drangen sie, begleitet von wüsten Beschimpfungen, zum Steg vor. Eben erreichte die Fähre die Bucht und passierte die Duckdalben der Hafeneinfahrt. Dann ließ der Kapitän die Maschine stoppen. Das Ruder lenkte das schnittige Dampfboot längsseits, der rußige Rauch erreichte den Steg lange vor dem Boot. Die Wucht des metallenen Schiffskörpers durchrüttelte Stützen und Planken, Leinen wurden geworfen, Helfer auf dem Steg nahmen sie entgegen und zurrten sie fest. An der Reling standen - ebenfalls dicht gedrängt - die Passagiere vom Festland. Sobald sie in Rufweite waren, wurden Nachrichten ausgetauscht, Gerüchte bestätigt oder widerrufen. Die Botschaft aus Hamburg war eindeutig: Es gab Tote. Die Menschen erkrankten am Morgen und waren abends schon in Ohlsdorf auf dem Zentralfriedhof.
Die Neuigkeiten pflanzten sich von Mund zu Mund fort, wie eine Welle schwappte das Entsetzen über den Steg. Einige, die zuvor fest zur Abreise entschlossen waren, gerieten nun ins Wanken. Konnte man in eine Stadt, in der der Seuchentod Ernte hielt, zurückkehren wollen? Mit den von der Fähre strömenden Passagieren wandten sich auch der Abreisewilligen wieder zum Gehen: Sie hatten den Mut verloren.
Umso leichter fiel es Gustav, sich bis zur Fähre, die bereits wieder zur Abfahrt blies, vorzuarbeiten. Endlich waren sie an der Wasserkante angelangt. Gustav bat Frieda, die Billette vorzuzeigen. Hedwig duckte sich hinter die Frischvermählten. Mit ihren siebzehn Jahren hätte man sie für die jüngere Schwester der Braut halten können.
Der plietsche Bootsmann sah auf die Billette, dann wieder auf die drei Leute, dann wieder auf die Billette. «Und Sie, mein Fräulein?»
«Unser Kindermädchen. Ist es nicht dabei?», fragte Gustav arglos.
Der Bootsmann präsentierte die beiden Billette. «Der Herr und die Dame, hier, das macht zwei. Von einem Kindermädchen keine Spur.» Seine Augen wanderten umher, vermutlich auf der Suche nach den Kindern.
«Wo kann es denn sein?», fragte Gustav in die Runde.
Die beiden Damen hielten sich verabredungsgemäß zurück.
«Gestern hatten wir es noch», beteuerte er und durchsuchte seine Taschen. Frieda tastete nach Hedwigs Hand und hielt sie fest. Der Bootsmann sah an ihnen vorbei. Er registrierte die Absatzbewegung auf dem Steg, die die Menge erfasst hatte. Er leerte sich schnell, die Zahl der Reisewilligen nahm rapide ab.
«Ich kann Sie so nicht an Bord lassen.»
Hedwig schossen die Tränen in die Augen, Friedas Griff wurde fester. Der Bootsmann sah es und seufzte. «Lösen Sie das Billett erneut, dann kann das Fräulein mitfahren.»
Drei Mienen erhellten sich mit einem Schlag. Hedwig war so erstaunt, dass sie laut fragte: «Und Sie fahren tatsächlich bis nach Hamburg?»
Gustav und Frieda hielten die Luft an, und Hedwig biss sich auf die Lippen. Der Bootsmann musterte sie streng. «Sie sind Transitreisende, da Sie eine Anschlussfahrt gebucht haben», er sah noch einmal auf die Billette, «nach . New York .»
«New York», seufzte Hedwig.
Der Mann entwertete die Fahrscheine mit einem Riss in die Kante. «Gute Reise!», sagte er dann, und flugs betraten sie das schlingernde Schiff.
Als ihr die Meeresbrise um die Nase wehte, hätte Hedwig aufjauchzen wollen.
Der nächste Weg führte Robert Koch und sein kleines Gefolge nach St. Georg: Stabsarzt Weisser in Uniform mit Schulterstücken, Ole im Gassenhabit mit nackten Füßen. Im dortigen «Allgemeinen Krankenhaus» hatte der mittlerweile weltberühmte Forscher und Anwärter auf den Nobelpreis als junger Assistenzart einige lehrreiche Monate zugebracht, bevor es ihn ins schlesische Wollstein verschlagen hatte, seine erste Stelle als Amtsphysikus.
Auf der Fahrt in die Vorstadt kam die Mietdroschke zum Stehen. Die Straße war gesperrt: Ein städtischer Wasserwagen besprengte diesen Abschnitt mit einem Tropfenregen.
«Was soll dieser Unfug?», fragte Koch.
«Ein Desinfektionswagen», sagte Ole.
Koch schnüffelte und konnte keinen der scharfen Gerüche identifizieren. «Was wird auf dem Boden verteilt?»
«Wasser», antwortete Ole. «Um die tödlichen Keime niederzuschlagen.»
Koch war fassungslos.
«Es gibt hier immer noch genügend Anhänger der Pettenkofer'schen Lehre», erklärte Weisser, «derzufolge sich die Krankheitserreger vor allem durch den Staub in der Luft verbreiten. Nach den trockenen Sommermonaten ohne Regen wird Trinkwasser benutzt, um ihn niederzuschlagen.»
Koch schüttelte den Kopf. «Hamburg scheint die letzte große Stadt zu sein, in der man diesen Irrlehren Glauben schenkt.»
Weisser nickte. «Die Miasmenlehre war lange Zeit das Maß der Dinge. Sie hat noch zahlreiche Anhänger, vor allem im Senat.»
«Es stimmt also nicht? Das mit den üblen Dämpfen?», fragte Ole erstaunt. Die Ärzte schenkten ihm nur mitleidige Blicke.
Bevor sie das Krankenhaus erreichten, musste die Kutsche nochmals halten. Koch sah hinaus. Vor einem ehrwürdigen Gebäude mit langen Bogenfenstern versperrten Turngeräte das Trottoir: Recks, Holzpferde, Matten, Stangen und Kegel. Sie standen nebeneinander, übereinander, teils aufgestapelt bis auf die Straße hinaus. Die letzten waren achtlos hingeworfen - man war in Eile. Passanten bedienten sich an den Geräten, ohne zu fragen. Schon wurden die kleineren fortgetragen. Der Auflauf der Armen, die nach Brauchbarem suchten - wenigstens Holz! -, und derjenigen, die dem undurchdringbaren Getümmel ausweichen mussten, verursachte eine erhebliche Stockung auf der Langen Reihe, der Schlagader des Stadtteils St. Georg.
«Was ist nun wieder los?», fragte Koch.
Ole sprang hinaus, kurze Zeit später kehrte er zur Kutsche zurück. «Die Turnhalle wird geräumt, um Kranke unterzubringen», erklärte er atemlos.
«So schlimm ist es schon bestellt?» Weisser erblasste.
Koch hielt es nicht mehr auf dem Sitz. Angesichts des Gedränges trat er ans Fenster der Droschke, zog die Scheibe herunter und rief auf die Straße hinaus: «Geht heim, Leute! Das ist das Beste, was ihr tun könnt, wenn ihr gesund bleiben wollt!»
Niemand reagierte auf die Ausrufe des unbekannten Herrn mit den raspelkurzen grauen Haaren.
Mit Engelsgeduld manövrierte der Mietkutscher die Droschke durch die Menge. Die Friedfertigkeit der Pferde angesichts dieses Menschenauflaufs war ein Wunder.
Die Plünderung der ausgeräumten Turnhalle würde noch den ganzen Tag über, bis zum Abend, anhalten.
Als die Kutsche endlich vor dem Krankenhaus am Rande der Vorstadt zum Stehen kam, bat Koch Ole, der Ansteckungsgefahr wegen im Wagen zu bleiben. Doch der Junge weigerte sich. Er wolle helfen, wo immer er könne. Koch wisse offenbar vieles über die Krankheit, die nun alle Bewohner der Stadt bedrohe. Und er, Ole, wisse wiederum vieles über Hamburg und seine Leute . Mit klugen Augen sah Ole Koch an.
Koch musterte den Jungen. Sein wacher Geist stand im Widerspruch zur Abgerissenheit seiner Kleidung. Ein Zahn der Vorderfront war auf die Hälfte heruntergebrochen, Sommersprossen sprenkelten seine Nase. Manchmal verstand Koch kaum, was der Junge sagte, in seinem genuschelten Hamburger Platt. Doch warum sollte in den Armenvierteln nicht auch Intelligenz gedeihen? Ergeben harrte der Junge aus. Ohne Kochs Erlaubnis würde er sich nicht von der Stelle bewegen, da war sich der Wissenschaftler sicher. Also winkte ihn Koch heran. Er legte ihm eine Hand auf die Schulter. Dann bückte er sich zu ihm hinab und sah ihm ins Gesicht: «Hör gut zu: Die Cholera ist keine Krankheit des Blutes, wie viele vermuten, und auch nicht der Luft. Es ist eine Krankheit der Gedärme. Nicht vor Atem musst du dich schützen, sondern vor allem, was aus den Verdauungstrakten kommt: Erbrochenes, Fäkalien - und auch die Hände der Erkrankten, denn sie hatten mit all dem Kontakt.»
Ole erblasste übers ganze Gesicht. «Ist die Gefahr groß, dass ich mich anstecke, wenn ich Sie...
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