Schweitzer Fachinformationen
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»Der Gazi ruht auf dem Dikmen-Grat. 12. Februar 1921.«
So stand es unter dem Foto, das in Augenhöhe vor mir hing: Der Gazi ruht. Doch er ruhte nicht. Ich hatte Hunderte Fotos von Atatürk gesehen. Auf diesem Foto war kein ruhender Mann. Ich sah keinen solchen Mann. Ich sah auf dieser Aufnahme jemanden, der aus Verdruss über uns die Augen geschlossen hatte. Sah jemanden, der aufgehört hatte, uns anzublicken, weil er von allem und von uns allen die Nase voll hatte. Sah einen Mann, der dachte, die Menschen, die er befreien wollte, seien im Grunde ein Haufen Betrüger, all die Mühe wäre für die Katz. Einen Mann, der vielleicht zum ersten Mal im Leben daran dachte zu sterben. Sterben, verschwinden, im Schnee vergehen. Ich sah einen Mann, der darauf wartete zu sterben und zu erstarren oder zu erfrieren und tot zu sein. Einen Mann, der dachte, das mache keinen Unterschied. Es sei völlig egal. Einen Mann, der keine einzige Menschenstimme mehr hören wollte, dem die Kraft fehlte, auch nur ein einziges weiteres Menschengesicht zu ertragen. Deshalb hielt er die Augen geschlossen. Nicht weil er fror, hatte er die Ohren bedeckt, sondern um nicht hören zu müssen. Ja, so musste es gewesen sein. Er sagte, ich habe Augen und Ohren geschlossen. Übt ihr nur Verrat, soviel ihr wollt. Ich sehe und höre euch nicht. Ihr seid mir einerlei.
Ich aber konnte hören. Ich hörte die Stimme aus dem Foto. Möglicherweise war, was ich hörte, auch eine Stimme, die aus meinen Augen sprang, gegen das Foto prallte und zu mir zurückkehrte. Meine eigene Stimme. Ich . Laut Protagoras war das Maß aller Dinge der Mensch. Und zwar nicht irgendein Mensch. Das Maß aller Dinge war der Mensch, der ihn maß. Je länger ich das Gesicht des Gazi und die Art, wie er dalag, studierte, sah ich mich selbst. Denn in den raren Momenten, die mir auf meiner schmalen Pritsche vergönnt waren, wollte ich unter der steifen Wolldecke verschwinden und fort sein. Um keinen einzigen Menschen mehr zu sehen und zu hören. Doch das war unmöglich. Denn der obligatorische Wehrdienst war kein Einmannspiel, er war eine Vorstellung, die etliche Tausend Menschen gemeinsam gaben. Eine Aufführung, bei der Schauspieler wie auch Zuschauer Soldaten waren. Das Exerzieren in geschlossener Formation war eine Choreografie. Die Märsche Teil eines Musicals. Die Feldanzüge ein maßgeschneidertes Kostüm. Befehle, Fragen und die Antworten darauf waren auswendig zu lernende Repliken. Das Skript, an das man sich niemals hielt, stand in Verordnungen geschrieben. Der Regisseur hieß »Herr Kommandant«. Alles war da. Alles war bereit. Allerdings machte das alles viel zu viel Krach. Unerträglich viel. So viel, dass man am liebsten das Bett aufgeschlitzt hätte und hineingeschlüpft wäre. So viel, dass ich das Kissen, auf das ich meinen Kopf bettete, am liebsten mit meinem Kopf gefüllt hätte. So viel, dass ich mich selbst sah, wenn ich den Gazi betrachtete!
»Du hast Wachdienst.«
Der Satz stach mir ins Ohr, und ich schlug die Augen zum Leben auf. Am Nachtoffizier vorbei verließ ich die Kantine. Beim ersten Schritt wurde meine Nase nass. Schnee. Schnee, der mir ins Gesicht schlug und es beim Schmelzen gefror. Es schneite seit Monaten. Tag und Nacht, morgens, mittags, vor- und nachmittags. Es schneite, um zu begraben. Alles und jeden. Fahrzeuge, Kinder, Häuser und Ochsen. In den Fernsehnachrichten war die Rede von der idealen Schneehöhe zum Skifahren. Scheißfernsehnachrichten! Schneehöhe? Ideal zum Skifahren? War sie auch ideal für die Ärsche in den durch Schnee von der Außenwelt abgeschnittenen Dörfern, die keinen Piep von sich geben, wenn ihre einjährigen Kinder wie Fliegen sterben, aber Schlitten über die Fatiha-Berge zur Straße nach Van ziehen, damit ihre hunderteinjährigen Großväter überlebten? Schneehöhe! Erst versinken die Füße, dann sind auch die Fußgelenke weg. Knie, Beine, der Stall. Der Schnee begräbt bei lebendigem Leib. Erst kämpfst du mit der Faust. Um den Schnee dorthin zurückzuschicken, woher er kam, füllst du deine Faust und wirfst sie in die Luft. Dann die Schaufel. Eine Schaufel auf zwanzig Soldaten. Eine einzige auf vierzig Arme! Vielleicht noch ein Spaten, der mehr einem Hammer gleicht. Du schaufelst. Mit der Schaufel! Mit dem Spaten! Der Schnee fällt. Bis du begraben bist. Regen fällt, bis du ertrinkst. Wind bläst, bis es dir die Füße vom Boden haut und dich davonwirbelt. Lauschst du der Welt, wirst du es hören: Menschensohn Mensch, verpiss dich! Du aber bist hartnäckig. Du wirst überleben. Es gibt Erdanziehungskraft. Aber keinen Ort, an den man gehen könnte. Dir bleibt nichts anderes übrig, als auf dieser Welt zu leben, von der du ständig vertrieben wirst, die sich schüttelt und spaltet, um dich zu verschlingen. Der Mars ist weit! Das Leben auf der Erde ist ein Rodeo. Wirbelstürme, Lawinen, Überflutungen, Erdbeben. Du kämpfst, mit der Schaufel in der Hand. Das ist mein Zuhause, brüllst du. Scheiße! Das ist kein Zuhause! Das ist überhaupt nichts! Die Erde ist nicht die Schale des Menschen. Das ist hier nicht unser Nest. Mit der Schwerkraft sind wir an die Erde gekettet. Wer weiß, wo man uns hinausgeschmissen hat? Aus dem Paradies? Wohl kaum! Wohl überhaupt gar nicht!
Ich redete. Ich erzählte all das den Handschuhen, die ich mir auf die Lippen presste. Meinen löchrigen grünen Handschuhen. Eine Lira. Zweilagig. Eines der wenigen billigen Produkte: Handschuhe. Handschuhe, die anbrennen und gelb werden, wenn du dich am Elektroofen wärmen willst. Handschuhe, die aufreißen, wenn du sie vom gefrorenen Lauf des Gewehrs lösen willst. Ihnen erzählte ich, was mich quälte. Was ich sagte, drang bis zu meinen Händen durch. Denn mit der Kälte ließen meine Handschuhe auch Geräusche durch.
In den Fußstapfen eines Unbekannten, in denen gefrorenes Wasser stand, stakste ich voran. Ich kämpfte mich durch den weißen Matsch, stach wieder und wieder in den weißen Sumpf. Als ich bei dem Arsenal ankam, war die Anzahl meiner Zehen längst auf eins reduziert. Sie waren dermaßen unterkühlt, dass ich sie nicht mehr einzeln spürte in den Stiefeln. Boots nannte man sie hier. Stiefel hießen hier Boots, das Leben, das ich einst führte, hieß hier Zivil. Vieles hieß hier anders. Es gab eine Soldatensprache. Heerisch. Man musste es nicht sprechen, verstehen genügte. Man brauchte überhaupt keine Sprache zu sprechen. Denn in unserem Rang sprach man nicht. Im Rang der Ranglosigkeit. In der Theorie stellt Disziplin die Grundlage des Militärs dar. In der Praxis aber, die die Theorie hinterrücks ersticht, bilden die gemeinen Soldaten die Grundlage des Militärs. Das Fundament, die Basis, wie auch immer man es nennt, auf uns fußte die Armee. Alles und jeder stand über uns. Wir standen noch unter dem Schnee. Wir waren die Ketten eines Riesenpanzers. Laut Handbuch des Gemeinen und Gefreiten, das aussah wie der komplizierte Prospekt einer komplizierten Maschine, zu tragen in der oberen linken Tasche unserer Parkas, die seit fünfzehn Jahren dienende Offiziere beharrlich Parkett nannten, waren wir Soldaten ohne Rang, für deren Unterhalt der Staat sorgte. Glorreiche Gemeine! In diesem Land mit höchster Chancengleichheit in der Bildung hatten wir unser Bestes getan, um gemeiner Soldat zu werden, hatten kein Studium abgeschlossen und kein Zeugnis vorzuweisen, das uns als Experten in irgendeinem Beruf ausgewiesen hätte. Wir waren stolz auf unsere Opferbereitschaft. Denn wir wussten es. Wussten, dass in den Gesetzen und Verordnungen zur Wehrpflicht ein Fehler unterlaufen war. Um Gemeiner zu sein, brauchte es höchstens ein Abitur oder einen Fachhochschulabschluss. In einem Land, in dem alle Männer studierten, gäbe es bald keine Gemeinen mehr. Der Sockel der Armee würde ihr unter den Füßen wegrutschen. Davor konnten wir nicht die Augen verschließen. Was dem Auge des Gesetzgebers entgangen war, hatte sich uns offenbart, und wir hatten geschworen, von keiner Universität ein Diplom zu holen. Manche von uns hatten vor lauter Angst, dass der Armee die Soldaten ausgingen, nicht einmal lesen gelernt. Welch ein Mut! Welch ungeheures Opfer! Gefallene oder Veteranen brauchten wir gar nicht zu werden. Helden waren wir ohnehin. Helden, die den Preis für Vaterlandsliebe ein Leben lang mit Unwissen zahlten! Dumm zu bleiben war nicht weiter schlimm. Den Geist der Strafgesetze hatten wir besser begriffen als alle anderen. Während es lediglich eine Geldstrafe dafür gab, sein Kind nicht zur Schule zu schicken, wurde mit Haft bestraft, wer den Wehrdienst verweigerte. Wir verstanden genau, was das hieß. Unsere Ohren hörten. Die zwischen den Zeilen des Gesetzes verborgene grandiose Botschaft kam an. Das nannte man Anreiz per Gesetz. Seine Ausbildung nicht abzuschließen, war kein großes Ding. Doch nicht zum Militär zu gehen, war ein Unding! Unwissen war nicht tödlich, Kriegsdienstverweigerung aber zog Schikane nach sich. Das sagten die Gesetze. Fick die Schule, aber leiste auf jeden Fall deinen Wehrdienst, sagten sie. Meinetwegen kannst du gern dumm bleiben, Hauptsache, du wirst Soldat. Denn, entschuldige, aber deine Dummheit ist mir scheißegal! Also sagten wir, gut, ganz wie du willst! Es war ein Vergnügen, den vom Staat aufgezeigten Weg zu gehen! Vielleicht nicht äußerlich, innerlich aber waren wir herrlich entspannt.
Als ich die Sturmweste anlegte, kam sie mir etwas zu leicht vor. In ihren Taschen sollten vier volle und ein leeres Magazin stecken. So stand es im Übergabe-Übernahme-Protokoll, das der Kompaniechef und ich unterschrieben hatten. Die Anzahl der Magazine, die ich in Obhut genommen hatte, lautete fünf. Das würde der Staat nötigenfalls beweisen können, warum aber die Tasche über meiner rechten Niere leer war, könnte er nicht erklären. Ein Magazin mit zwanzig...
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