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Bei den Kaplans aus Prag war man seit vielen Generationen Arzt. Josefs Großvater, Professor Gustav Kaplan, hatte einen Stammbaum gezeichnet, der bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts zurückreichte, bevor sein Name in die Geschichte einging, als Entdecker der Kaplan-Krankheit, eines dermatologischen Leidens, das eine Nichte von Franz-Joseph entstellte.
Über fünfzig Jahre hatte er damit zugebracht, kreuz und quer durch das Kaiserreich zu reisen, um sorgfältig die Daten der Geburten, Eheschließungen, Verschwägerungen und Todesfälle zusammenzutragen, in Epochen, in denen jede Frau eine Menge Kinder bekam, der Familienstand ebenso zufällig war wie die Grenzen, und selbst wenn es auf seinem Dokument Streichungen, Fragezeichen und einige Lücken gab, so hatte er doch ungefähr die Geschichte all jener Ärzte rekonstruiert, die sich vermehrten wie die Karnickel.
Josef sah Eduard wieder vor sich, seinen Vater, der in Prag in einem schönen Gebäude in der Kaprova-Straße praktizierte, wie er auf dem Esstisch das kostbare, ein Meter fünfzig lange Pergament entrollte, nachdem er es aus seinem grünen Lederetui gezogen hatte, und ihm die Mäander einer wirren Verzweigung erklärte, bei der sich bestimmte Linien auf beunruhigende und zweideutige Weise überlappten oder kreuzten. Josef hatte daraus Schlüsse gezogen, die er für sich behielt. Niemand konnte leugnen, dass es mehrere arrangierte Ehen zwischen Vettern, Onkeln und Nichten gegeben hatte. In jener fernen Zeit und in diesen geschlossenen Gesellschaften hatte der Überlebenstrieb Vorrang.
Vielleicht lag in diesen wiederholten Verbindungen eine Erklärung für das fehlende Unterscheidungsvermögen jener Population und für den verhängnisvollen Irrtum, der zu ihrer Auslöschung führen sollte. Da sie sich immer wieder sagten, dass sie das außerordentliche Glück hatten, unter der Regierung der Habsburger zu leben, waren die Juden schließlich zu der Ansicht gelangt, die Österreicher und die Preußen seien Freunde, und als diese eintrafen, so schön in ihren schwarzen Uniformen, hegten sie keinerlei Misstrauen.
Oft hatte sich Josef gefragt, ob er verantwortlich war für die gedämpfte Stille, die sich zwischen seinem Vater und ihm eingenistet hatte, oder ob der eine wie der andere außerstande war, mit dem Gegenüber zu reden, eine Art affektive Barriere (Wörter, die ihnen nicht über die Lippen kamen und sich hinter einem verschwörerischen Lächeln verbargen). Man sagte sich, dass diese Worte verletzen oder alles verderben würden, dass man sie tief in sich verschließe und mit den Jahren stapele, bis daraus eine unüberwindliche Mauer entstehe.
Josef war sich des Ernsts des Ersten Weltkriegs nicht bewusst gewesen. In Prag schien er weit weg zu sein, eine Art Spiel für Erwachsene, das – er war damals acht – mit der Gründung der Tschechoslowakischen Republik zur allgemeinen Zufriedenheit ein Ende fand. Seine Mutter Teresa kümmerte sich um seine Erziehung, sprach unterschiedslos französisch und deutsch mit ihm, Letzteres fiel ihr leichter, und sie hatte vor, Russisch mit ihm zu lernen, um Puschkin im Original zu lesen. Sie schwärmte für den Walzer, die Musik des Glücks, Eduard war steif und fühlte sich unwohl dabei, er dachte, Lächerlichkeit töte, und lehnte es ab, aufzufallen. Deshalb wollte Teresa ihrem Sohn das Walzertanzen beibringen, und sie brauchte keine langen Erklärungen. Zu ihrer großen Überraschung beherrschte er es bereits.
»Du bist schön, mein kleiner Prinz, du tanzt wie ein Wiener«, sagte sie ihm, während sie sich drehten.
Sie tanzten fast jeden Tag im Salon (er tanzte so gut, dass sie vergaß, dass er erst acht war).
Die Verwüstung zeigte sich zwei Jahre später, die Grippe dezimierte das Land, sorgte für zehnmal mehr Tote als der Krieg.
Als sein Sohn zehn Jahre wurde, war Eduard zum erstenmal an einem Geburtstag abwesend. Teresa fühlte sich müde und begann zu husten. Wie jedes Jahr schenkte sie Josef eines jener bei Hetzel erschienenen fein illustrierten Bücher. Er erwartete ein weiteres des von ihm verehrten Jules Verne, er erhielt Die Geschichte eines Gelehrten durch einen Unwissenden von René Vallery-Radot, in der der Schwager die Biografie seines Schwiegervaters Louis Pasteur erzählt. Enttäuscht blätterte Josef darin, ließ sich nichts anmerken und sagte, er sei entzückt und werde es in den Ferien lesen.
Teresa bekam keine Luft mehr, ihr Atem verlosch in einem Röcheln. Als Josef sie zum letzten Mal sah, hatte sie kaum noch die Kraft, ihre Hand zu heben, sie war fast blau, ja, nachtblau, und wollte nicht, dass er näher kam. Innerhalb von acht Tagen wurde sie von einer Lungenentzündung hinweggerafft.
Das Licht der Kindheit war entschwunden.
Josef empfand keinerlei Kummer, weinte nicht. Man fand ihn verdammt stark für sein Alter, ihm war nicht bewusst, dass er sie nicht wiedersehen würde. Eduard, der sich wegen der Grippeepidemie in Wien aufhielt, wurde zu spät benachrichtigt, kam gerade noch rechtzeitig zur Beerdigung. Immer warf er sich vor, nicht da gewesen zu sein, als seine Frau ihn gebraucht hatte. Er verfügte über keinerlei Mittel, die Krankheit einzudämmen, war aber der unumstößlichen Meinung, es wäre ihm gelungen, sie zu retten, er hätte ihr von seiner Kraft gegeben und, dieses eine Mal, zum Herrn gebetet.
»Weißt du, mein Sohn, wenn ich da gewesen wäre, hätte es vielleicht ein Wunder gegeben. Verstehst du?«
Josef nickte. Sie sprachen nie wieder davon. Doch er fragte sich, warum die Fremden, zu denen sein Vater reiste, um sie zu behandeln, wichtiger waren als seine Mutter. Oft gingen sie zusammen zu ihrem Grab, sie nahmen sich bei der Hand. Eduard murmelte ein Gebet, und sie umarmten sich fest.
Nie las Josef das schöne Buch von Vallery-Radot.
Er stellte es in die Bibliothek seines Zimmers neben die anderen und dachte nicht mehr daran. Mit den Jahren vergaß Josef seine Mutter und seinen Schmerz, wie sehr er sie geliebt hatte und wie sehr sie ihm gefehlt hatte.
1923, im Jahr seiner Bar-Mizwa – eine böse Erinnerung, sein Vater war nicht religiös, hatte jedoch Wert darauf gelegt, dass er sie beging –, fuhren sie für vierzehn Tage nach Karlsbad, wo Eduard jene Kuren machte, die ihm so gut taten; er ging jedes Jahr dorthin, um sich von seinem anstrengenden Leben in Prag zu erholen. Im Hotel begegnete er einer eleganten, etwas korpulenten Frau, Katharina, einer österreichischen Witwe mit zwei Kindern. Gemeinsam fuhren sie in der Kalesche mit einem Korb voll Pfefferkuchen und buntem Gerstenzucker, machten lange Spazierfahrten, hatten den wohligen Eindruck, allein auf der Welt zu sein, und lachten viel.
Einige Monate später sah Eduard nach dem Abendessen von seiner Zeitung auf.
»Wir müssen reden, mein Sohn.«
Auf einer Wienreise habe er Katharina zufällig wiedergesehen, es sei eine Person mit vielen Vorzügen, aus sehr guter Familie, sie empfänden ein Gefühl tiefer Zuneigung füreinander und zögen in Erwägung, ihre Geschicke zu vereinen, sie werde ihm eine gute Mutter sein, sie liebe ihn wie ihre eigenen Kinder, werde hier bei ihnen wohnen, es gebe genügend Zimmer, und er werde noch jemanden einstellen.
»Verstehst du dich gut mit ihr, mit ihren Söhnen?«
»Ja, sie sind sehr nett.«
»Bevor ich sie um ihre Hand bitte, möchte ich wissen, ob du einverstanden bist, ob du keine Bedenken dagegen hast.«
Josef sah seinen Vater an. Stille trat ein. Josef hatte keinen wichtigen Einwand vorzubringen, Katharina war eine fröhliche, zuvorkommende Frau, die akzentfrei Gedichte von Gérard de Nerval vorlas und ihm Töchter der Flamme geschenkt hatte: »Zur Erinnerung an unsere hübschen Spazierfahrten«, hatte sie auf das Vorsatzblatt geschrieben.
»Offen gestanden: lieber nicht. Wir kommen doch gut miteinander aus.«
Eduard richtete sich auf, nickte, als hätte sein Sohn soeben ein mathematisches Postulat oder eine unanfechtbare Evidenz formuliert. Statt seine Zeitung weiterzulesen, ging er zu Bett. Josef war überzeugt, sein Vater werde sich darüber hinwegsetzen, aber er hörte nichts mehr von Katharina, er sagte sich, wenn man so leicht auf sie verzichten konnte, war es vielleicht nicht ganz so ernst, wie es schien. Sie erwähnten diese Geschichte nie wieder. Nur etwas änderte sich, sie fuhren nicht mehr zur Kur nach Karlsbad, verbrachten ihre Sommer vielmehr in Bayern.
Manchmal, wenn sein Vater von seiner Zeitung aufsah, blickte er ins Leere, und Josef fragte sich, ob er noch immer an sie dachte.
Während seines Studiums beteiligte sich Josef an der Gründung der Prager sozialistischen Studentenbewegung und wurde zum Sekretär, dann zum Vorsitzenden der Sektion Medizinstudenten gewählt, die je nach Jahrgang sieben bis zwölf Mitglieder hatte. Wegen seiner flammenden Erklärungen für die kostenlose medizinische Behandlung verabscheuten ihn seine Professoren und der Rektor. Seine Plakate, die die Freigabe der Empfängnisverhütung (einschließlich für Minderjährige) und die Einführung der Knaus-Ogino-Methode als eines idealen Systems der Geburtenkontrolle propagierten, trugen ihm den Hass der Konformisten ein. Es brachte das Kunststück fertig, dass der Kardinal sich mit dem Großrabbiner von Prag aussöhnte und sie gemeinsam beim Dekan der medizinischen Fakultät protestierten.
Eduard verstand seinen Sohn nicht, seine Aggressivität, seinen Zorn. Warum musste er jeden Tag gegen sein eigen Fleisch und Blut aufbegehren? Was hatte er in der Erziehung versäumt, das ihn in zu einem Ungläubigen werden ließ? Er hatte keine Angst vor dem Ärger, den er am Ende seinetwegen bekäme, aber er fürchtete, dass sein Sohn schließlich von der ganzen Gesellschaft geächtet würde, dass seine Bemühungen, einen Mann aus ihm zu...
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