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In einem knappen halben Jahr sollte der neue amerikanische Präsident gewählt werden, und die Stimmung, die auf der Tagung in New York herrschte, brachte am besten die Tatsache zum Ausdruck, dass von einheimischen Teilnehmern immer wieder der Satz zu hören war, wenn das Schlimmste einträte, würden sie nach Kanada auswandern. Ich hatte ein Sabbatical und war überhaupt nur hingefahren, weil unter den Organisatoren auch mein Freund Tim Markowich aus Montreal war und er mich gedrängt hatte, einen der Vorträge zu halten, verbunden mit der Einladung, danach noch für ein paar Tage zu ihm an den St.-Lorenz-Strom zu kommen. Also hatte ich meinen Dauerbrenner über Tropengletscher mit neuen Daten aufbereitet und ein Exzerpt eingereicht. Ich hatte nicht nur auf dem Mount Kenya und dem Kilimandscharo, sondern auch in der Cordillera Blanca in Peru und, solange es dort noch einen Gletscher gegeben hatte, auf dem Chacaltaya in Bolivien im Eis gearbeitet und konnte meine eigenen Messwerte und Beobachtungen aus vielen Jahren heranziehen. Zwar hatte ich mir vorgenommen, mich wenigstens ein paar Monate gar nicht mit dem Thema zu beschäftigen, wozu auch gehörte, möglichst keine Kollegen zu treffen, aber Tim eine Bitte abzuschlagen fiel mir schwer. Obwohl das sonst nicht seine Art war, hatte er zum ersten Mal an mein Gewissen appelliert und mit einem für seine Nüchternheit erstaunlichen Pathos gesagt, wir dürften keine Gelegenheit auslassen, der Welt vor Augen zu führen, dass das ewige Eis keineswegs ewig sei. Es gibt immer noch die Unverbesserlichen und Ewiggestrigen, die alles leugnen, aber seit jeder Politiker mit auch nur einem Funken Verstand kaum umhinkommt, Klimawandel und Erderwärmung in seine Litaneien einzubauen, ist unsere Expertise mächtig aufgewertet, weil wir als Wächter der gefrorenen Riesen angesehen werden, die vom Aussterben bedroht sind. Die Aufmerksamkeit hat der Profession nicht immer gutgetan, und auch bei diesem Treffen fehlte es nicht an Warnern, die mit Zahlen jonglierten, als ob die Welt noch in unserem Jahrhundert unterginge, und ihren Befund mit Schreckensbildern illustrierten, ganze Länder verschwunden, halbe Kontinente unter Wasser, die Menschen zusammengedrängt auf ein paar herausragenden Gebirgszügen, Überlebende einer biblischen Katastrophe. Wir wurden immer nach Grenzwerten gefragt, soundso viele Grad wärmer bedeuteten soundso viele Zentimeter Anstieg der Ozeane, natürlich eine Vereinfachung, aber sobald die Journalisten dazukamen, malte sich aus schierer Angstlust einer aus, was passierte, wenn das Eis an den Polen ganz abschmelzen würde, und welche Gebäude etwa in Manhattan dann überhaupt noch ab dem wievielten Stockwerk aus der grenzenlos sich ausbreitenden Wasserwüste ragten. Dabei war das mit den Zahlen so eine Sache, und Tim hatte sich einmal in Schwierigkeiten gebracht, als er sagte, dass man über die wirklich wichtigen Parameter, von denen alles abhänge, viel zu wenig spreche. Er hatte auf die Frage eines Interviewers, was er global für die zwei wichtigsten Maßnahmen im Umweltschutz halte, durchaus ernst, wenn auch flapsig geantwortet, die Erdbevölkerung drastisch zu verringern und bei dem dann übrigbleibenden Haufen den durchschnittlichen Intelligenzquotienten ebenso drastisch zu erhöhen, und war dadurch ins Visier von Studenten seiner Universität geraten, die ihm Zynismus vorwarfen, mit Transparenten vor seinem Institut aufmarschierten und eine öffentliche Entschuldigung verlangten.
Ich hatte Tim Anfang der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts bei dem großen Forschungsprojekt auf dem Juneau-Eisfeld in Alaska kennengelernt. Wir waren zwei junge Wissenschaftler gewesen, beide bei unserem ersten internationalen Feldeinsatz, und die gemeinsam auf dem Eis verbrachten Sommerwochen, Hitze und Kälte schweißten und froren uns bleibend zusammen. Man muss nicht soweit gehen zu sagen, dass diese Art Arbeit einen bestimmten Menschenschlag anzieht, aber in der Isolation der Wildnis, in der Gleichförmigkeit der Tage ohne die Annehmlichkeiten oder auch nur Ablenkungen einer Stadt wird doch jeder zum Charakter. Für Tim, der manchmal Wochen allein in den Bergen verbrachte, aber unter Leuten dann nichts davon ausstrahlte und sich bis zur Selbstverleugnung umgänglich gab, galt das doppelt. Hinter ihm auf Skiern auf den fernen Horizont zuzulaufen, der bloß durch ein paar aus der schier endlosen weißen Fläche ragende weiße Spitzen markiert war, ließ einen ahnen, dass es ihn über den letzten sichtbaren Punkt hinauszog und nur die Vorgaben der Arbeit ihn daran hinderten, weiter und weiter zu gehen. Nicht nur, dass er den Mount McKinley bestiegen und andere alpinistische Hochleistungen vorzuweisen hatte, für die er genausoviel Respekt wie Unverständnis erntete, er war bei unserer Expedition gewöhnlich auch der erste am Morgen, der die Hütte verließ, hatte schon die Messinstrumente überprüft, Feuer gemacht und Teewasser gekocht, wenn wir anderen aufstanden, und kehrte am Abend als letzter zurück, brütete dann noch im schwindenden Licht über seinen am Tag gemachten Aufzeichnungen. Es war eine seiner Extravaganzen, dass er sich immer vor dem Schlafengehen rasierte, während die meisten ihre Bärte sprießen ließen, und danach zog er gern einen absurd weißen Anorak mit einem riesigen roten Ahornblatt auf der Brust und der Aufschrift CANADA auf dem Rücken an, als wollte er damit eine letzte Zugehörigkeit demonstrieren.
Aufgewachsen in einem kleinen Dorf in der Nähe von Calgary, hatte er kaum meinen Namen gehört, als er mich nach meinem Bruder fragte, der erst wenige Jahre vor unserem Kennenlernen bei den Olympischen Spielen dort auf dem Weg zur sicheren Goldmedaille im Slalom keine fünf Sekunden vor dem Ziel einen Fehler begangen hatte, der ihn den Sieg kosten sollte. Als Jugendlicher war Tim selbst Skirennen gefahren und in den Provinzen Alberta und British Columbia einer der besten Abfahrer gewesen. Man hatte ihm angesichts seines Mutes und der Rücksichtslosigkeit, mit der er sich die Hänge hinunterstürzte, früh prophezeit, er werde sich entweder das Genick brechen oder Karriere auf den Weltcup-Pisten in Europa machen, was dann ganz anders kam. Er fuhr eine sechzehnjährige Schülerin über den Haufen, wie er es selbst formulierte, und es war einzig und allein seine Schuld. Ohne sich zu vergewissern, ob jemand dahinterstand, war Tim in voller Schussfahrt über eine unübersichtliche Stelle gesetzt und hatte das Mädchen im Sprung mit der messerscharf gefeilten Kante seines Skis am Hals erwischt. Als er sich noch im Abschwingen umwandte und mit zusammengekniffenen Augen den Hang hinaufblickte, war im Schnee schon ein Fleck hellroten Bluts zu sehen gewesen, der sich mit seinem eigenen Pulsschlag auszubreiten schien.
Ich war einer der wenigen, denen er die Unglücksgeschichte selbst anvertraut hatte, während die anderen sie nur vom Hörensagen kannten. Wir waren mitten auf dem Eisfeld von einem Schlechtwettereinbruch überrascht worden, und weil die nächste Hütte zu weit entfernt lag und wir Angst hatten, uns im einsetzenden Nebel zu verirren, entschieden wir uns, den Sturm im Biwak auszusitzen. Die nächsten paar Stunden verbrachten wir, schnell eingeschneit von einem feinen Augustschnee, unter dem im Wind flappenden Nylon auf allerengstem Raum im Gespräch.
Vielleicht machte uns endgültig zu Freunden, dass Tim mir an diesem langen Nachmittag, an dem immer neue Böen an unserem kleinen Zelt rissen, während rundum noch die letzten Markierungen in einem gleichförmigen Weiß aufgingen, seine Kindheit erzählte, als wäre sie meine. Den ersten Schnee jedes Jahr, die erste Schlittenfahrt, das erste Mal auf Skiern hatte ich in den Alpen in Tirol nicht anders erlebt als er in den kanadischen Rocky Mountains. Das war dann unausgesprochen immer unser Anknüpfungspunkt, wenn wir uns lange nicht gesehen hatten, und selbst an einem Ort wie New York blieben wir zwei Jungen, die man zum Spielen hinaus in die Kälte geschickt hatte und die dort sich selbst überlassen waren und zusehen mussten, wie sie zurechtkamen.
Wir hatten uns am Abend vor Beginn der Tagung in der Nähe des Hotels auf ein paar Bier verabredet, waren da aber kaum zum Sprechen gekommen. In dem Diner lief ein Fernseher, und es dauerte nicht lange, bis es um die Wahlen ging und der sich um Kopf und Kragen redende Kandidat auf dem Bildschirm erschien, das fleischige, wie gerade erst nach einem Boxkampf wieder verheilte Gesicht mit den in alle Richtungen übereinandergekämmten, blondierten Haaren, die Bewegungen seiner rechten Hand, aufgestellter Daumen, zurückgenommener Zeigefinger, dann Daumen und Mittelfinger bei erhobenem Zeigefinger aneinandergelegt und am Ende alle Finger gestreckt in einer nur vermeintlich beschwichtigenden Geste. Der Ton war leise gedreht, und Tim machte sich einen Spaß daraus, dem Unhörbaren mit seiner Stimme Gehör zu verschaffen und aus dem Stegreif eine Rede zu improvisieren. Er sagte, die Mär von der Erderwärmung sei nur etwas für Schwächlinge, in Wirklichkeit stehe der Welt eine neue Eiszeit bevor, und eher, als dass New York im Schmelzwasser untergehe, könnten die nächsten Generationen beobachten, wie sich die Gletscher in Grönland und Alaska wieder über ganz Kanada ausbreiten und sich das Eis am Ende das Hudson-Tal herunterschieben würde auf die Außenbezirke der Metropole und auf Manhattan zu. Dabei merkte er nicht, dass er immer lauter wurde und die Leute an den Nachbartischen aufhorchten, bis ein Kellner herantrat und dem Flüstern nahe, aber unmissverständlich auf ihn einsprach.
»Die anderen Gäste fühlen sich gestört, Sir«, sagte er mit einer ausgestellten Vornehmheit, die nicht zum ganz und gar schlichten Ambiente des Lokals passen wollte. »Ich muss Sie auffordern, leise zu sein.«
Tim...
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