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DOKTOR POLLAK Das ist wahr. Das habe ich gesagt; und es war ja auch nicht völlig ausgeschlossen, wenngleich eine reine Mutmaßung. Kein Arzt der Welt kann einen Herzanfall eines aus dem Fenster stürzenden Mannes während des Falls diagnostizieren. Wie sollte er das tun? Dazu müsste er ein Hellseher sein. Vielleicht wird die Medizin in einer fernen Zukunft dazu imstande sein. Die heutige Medizin ist es nicht.
Aber für den Egon konnte ich so oder so nichts mehr tun; der Minnerl, die unter gewaltigem Schock stand, musste ich hingegen irgendetwas sagen, und auch der allergeringste an den Haaren herbeigezogene Trost in dieser Katastrophe war besser als die schreckliche, brutale, nackte Wahrheit. Minnerl war in diesem Augenblick meine Patientin, dachte ich über Egons Leichnam gebeugt, nicht Egon, mein Freund. Mein Freund war tot. Helfen kann man nur den Lebenden. Und selbst das ist unsicher.
Niemals in meinem Leben habe ich die Wahl meines Berufes so sehr verflucht wie in diesem Augenblick im Flur des Hauses Gentzgasse 7, nachdem ich mir einen Weg durch die Schaulustigen auf der Straße gebahnt hatte, nun vor dem Leichnam niederkniete und die Augen in Egons Gesicht öffnete und wieder schloss. Wie oft war ich im Lauf der Jahre in dieses Haus auf Visite gekommen! All die Kehlkopfentzündungen! Wie gut habe ich diesen Patienten gekannt! Wie oft habe ich ihn aufgemuntert und, mit irgendeinem lateinischen Sinnspruch versehen, eine positive Prognose gestellt. Dass die Geschichte so enden musste! Ich fühlte mich schuldig auf eine eigenartige Weise. Nicht rechtlich natürlich, auch nicht medizinisch. Ich hatte so gehandelt, wie ich handeln musste. Aber menschlich fühlte ich mich mitschuldig an dieser Tragödie. Menschlich! Ich fühlte mich schuldig in dem Sinn, dass es mir mein Schicksal unmöglich gemacht hatte, unschuldig zu bleiben. Unschuldig an diesem Tod. Schuldig an dieser Todesart.
Denn während ich mit dem einen Auge auf das Antlitz meines toten Freundes blickte, sah ich mit dem inneren Auge die panische Verzweiflung im Gesicht dieses Mannes, als er noch lebte, als er vor ein paar Tagen, nervlich sichtbar am Ende und höchstwahrscheinlich auch nicht mehr nüchtern, zu mir in die Ordination kam und weinend sagte, er sei am Ende, es gebe keinen Ausweg, keine Hoffnung, er könne einfach nicht mehr, er wolle einfach nicht mehr.
Er bat mich um Gift.
Egon kniete mitten in der Ordination vor mir nieder, so wie ich jetzt keine halbe Woche später vor seiner Leiche kniete, faltete die Hände, begann - ein sechzig Jahre alt gewordener Koloss, nach Schnaps riechend - bitterlich zu schluchzen, und wie ein Bettler um ein Almosen flehte er mich händeringend um eine tödliche Dosis Gift an. Es war eine entsetzliche Szene.
Habe ich Egon und seine Verzweiflung nicht ernst genug genommen?, fragte ich mich über seine Leiche gebeugt. Doch, ich habe ihn ernst genommen, sehr ernst, auch wenn ich mir insgeheim vielleicht gedacht haben mag: Der Egon ist ein Satiriker! Satiriker bringen sich nicht um. Nicht wirklich. Wie oft habe ich es erlebt, dass er sich in seinem Leben am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen hat! Oder wenn er bei mir in der Ordination, nachdem er seine Beschwerden beschrieben hatte, plötzlich über die Ironie des Sokrates zu fachsimpeln begann, in dem er sich wohl selbst gesehen hat. Ganz Athen war von diesem liebenswürdigen und geistreichen Poseur fasziniert, lieber Rudolf, erklärte mir Friedell. Das Größte an ihm aber war, dass er sich selbst nicht ernst nahm. Seine weltkundige Ironie erhob ihn so außerordentlich über seine ganze Umgebung! Sokrates hatte den Beweis erbracht, dass der Tragödiendichter und der Komödiendichter ein und dieselbe Person sein müsse, Rudolf, dass Tragödie und Komödie ein und dieselbe Kunstgattung seien - und die höchste dramatische Form die tragische Komödie! Ich hatte Egons Worte im Ohr.
Womöglich ist das eine Art menschliches Naturgesetz, dass man Satiriker nie so ernst nimmt, wie man sie ernst nehmen müsste. Als Egon Friedell vor Jahrzehnten als junger Mann das erste Mal zu mir in die Praxis kam, fragte er mich zur Begrüßung: »Wissen Sie, warum ich Sie konsultiere, Herr Doktor? Weil Sie Pollak heißen, genauso wie mein Kompagnon. Der Pollak und ich, wir teilen uns die Schöpfungsarbeit so auf: Ich bringe die Idee. Dann lege ich mich auf die Ottomane. Ich rauche und nicke ein, während Pollak sich um die Einzelheiten kümmert und den Rest erledigt. Ungefähr so stellte sich Egon auch unser Arzt-Patienten-Verhältnis vor. Ich bringe die Krankheit vorbei, und Sie erledigen den Rest!« Leider wurden wir auf diese Weise Freunde. Leider denke ich deswegen, weil es für einen Arzt einen großen Unterschied macht, ob man in das Gesicht eines toten Patienten blickt oder in das eines toten Freundes. Und wenn der Ausdruck des toten Gesichts einem sagt: »Siehst du, ich habe es dir ja gesagt .« Nicht zuletzt von Egon habe ich gelernt, wie sprechend tote Gesichter sein können.
EIDSCHI . Ich habe den Satz als Grabsteininschrift gewählt: »Ich habe es euch ja gesagt, ihr Narren!« .
. Mit keinem anderen Patienten habe ich, auch wenn ihn ein Wehwehchen oder eine Krankheit plagte, in meiner Praxis so oft und so schallend gelacht . er hat mich wahrscheinlich ebenso oft kuriert wie ich ihn . was sich die übrigen Patienten im Wartezimmer gedacht haben mögen? Gewöhnlich dringen aus einem Behandlungszimmer ja eher Stöhnen und verhaltene Schmerzenslaute .
Doch! Ich habe den Egon ernst genommen, selbst wenn ich mir ganz insgeheim vielleicht auch gedacht haben mag: Er ist ein Schauspieler! Er hat einen Sinn für Theatralik! Er führt sich auf. In allen Menschen sieht er automatisch Publikum, in jedem Gesprächspartner ganz automatisch Max Reinhardt; er kann gar nicht anders. Madame Zuckerkandl hat Egon mit Mitterwurzer verglichen, sie hat gesagt, er sei vom Theaterteufel besessen! Er spielt Theater, um sich vom Denken zu erholen, wie er später wieder denkt, um sich vom Theaterspielen zu erholen. Er braucht das. Niemals in all den Jahrzehnten meiner ärztlichen Tätigkeit ist irgendein Patient in irgendeiner Angelegenheit, und sei sie noch so tragisch gewesen, vor mir niedergekniet. Niemals! Jetzt musste ich mir auf meinen toten Freund blickend eingestehen, dass auch noch keine Situation so dramatisch gewesen war.
Ich konnte Egon das Gift weder verabreichen noch diskret zur Verfügung stellen. Ich bin Arzt. Ich habe den hippokratischen Eid abgelegt. Niemals, habe ich bei Apollon und Asklepios, Hygieia und Panakeia und unter Anrufung aller Göttinnen und Götter als Zeugen geschworen, werde ich zum Schaden eines Kranken tätig werden. In wie viele Häuser ich auch kommen werde, zum Nutzen der Kranken will ich eintreten und mich von jedem vorsätzlichen Unrecht und jeder anderen Sittenlosigkeit fernhalten. Die diätetischen Maßnahmen werde ich nach Kräften und gemäß meinem Urteil zum Nutzen der Kranken einsetzen, Schädigung und Unrecht aber ausschließen. Auf keinen Fall werde ich Blasensteinkranke operieren. Ich werde niemandem, nicht einmal auf ausdrückliches Verlangen, ein tödliches Medikament geben, und ich werde auch keinen entsprechenden Rat erteilen; das habe ich schwören müssen, und das habe ich geschworen. Ebenso werde ich keiner Frau ein Abtreibungsmittel aushändigen. Über alles, was ich während oder außerhalb der Behandlung im Leben der Menschen sehe oder höre und das man nicht nach draußen tragen darf, werde ich schweigen.
Leben geht vor Lebensqualität. Wie leicht sich so ein Axiom behaupten lässt - und was es im Einzelfall bedeuten kann! Egons Gesundheitszustand war - sagen wir: stark angegriffen und in Mitleidenschaft gezogen: die Fettleibigkeit, das dicke Blut, der hohe Blutdruck, der jahrzehntelange Alkoholabusus, die chronischen Venenentzündungen, die aufgebrochene Zehe, die nicht mehr verheilen wollte und sich verfärbte, die Krampfadern, der Diabetes mellitus, die Zuckerkrankheit vor allem - seinem Bruder hatte ein Bein amputiert werden müssen - und dem Egon hat auch nicht mehr viel dazu gefehlt . sein Gesicht war im letzten Jahr binnen weniger Monate regelrecht verfallen. Steinalt wäre Egon Friedell mit diesem Körper vermutlich nicht mehr geworden. Aber was weiß man? Lebensbedrohlich und akut krank war der Egon jedenfalls noch nicht, zumindest nicht physisch. Sein psychischer Zustand war schlimm, vielleicht unheilbar schlimm. Aber seine Panikattacken und seine Depression entsprachen exakt seiner Situation: Im Grund hatten die Nazis dem Egon die Existenz abgeschnitten: Er durfte nun weder auftreten noch publizieren. Er war wie geknebelt. Seine Bücher waren in Deutschland seit Februar verboten. Sein Verlag in München musste sich von ihm trennen. Friedell war von höchster Stelle zur Persona non grata erklärt worden. Er war erledigt.
Aber wenn sich die politische Lage wieder verändert? Wer kann das wissen? Ein Arzt? Ein jüdischer Arzt? Darf man die Hoffnung jemals aufgeben? An eine Zukunft in Wien glaubte ich auch nicht mehr, so wie sich die Dinge entwickelten. Olga und ich bereiteten den Absprung vor. Den...
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