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1981 kam Jirí Grusa aus den USA zurück, wo er ein Stipendium hatte; er unterbrach seine Reise in Bonn, um Freunde zu sehen. Dort ereilte ihn die Ausbürgerung. Als ob er geahnt hätte, dass er nicht mehr nach Prag zurückkehren könnte, hatte er ein Manuskript in der Tasche, »Dr. Kokes - Meister der Jungfrau«, das er gerne im tschechischen Exil-Verlag von Josef Skvorecky »Sixty-Eight- Publishers« in Toronto veröffentlicht hätte. Es war ein kostbares Manuskript, das er unter großer Mühe fertiggestellt hatte und an dem er auch weiterhin arbeitete. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis hatte er dieses Manuskript geschrieben, in Furcht vor der Polizei.
»Nie wissend, ob nicht Herr Smolik (der Polizei-Offizier) seine Leute schickte, versteckte ich Manuskriptteile in der Sandgrube unseres Bauernhäuschen im Babylonwald bei Rovensko, Nordböhmen bitte, nicht Mesopotamien. Aus dem Knast wusste ich, dass die Kommandos am Freitag faul sind. Es war also - von Montag bis Freitag - eine riskante Zeit für mich und meine Texte. Um zumindest Letztere zu schützen, versteckte ich die fertigen Kapitel in einer blechernen Kiste, mit einem Spaten Sand überschüttet. Mein Gott, das Buch war mir so wertvoll. Den Faden nicht zu verlieren, war alles. Ich schrieb mit der Hand, konnte keine Kopien machen.« So Grusa in seiner Dresdner Poetik-Vorlesung*. Es war nicht einfach, immer wieder neu mit dem Schreiben einzusetzen, ohne genau das Vorangehende noch einmal zu prüfen, und »gewissermaßen kontextlos« zu schreiben, wie er sagt, denn er schrieb nur für sich und ohne Hoffnung, den Text je anderen zeigen zu können. Doch er wusste immer, wohin er wollte: »In meinem besten Text - so ehrgeizig dachte ich über ihn - wurde ich tautologisch, sprach nur mit mir selbst« (S. 40 f.).
Es ist tatsächlich sein bester Text geworden, so jedenfalls meine Überzeugung und die des Literaturwissenschaftlers Vladimir Pistorius, der in seiner 1991 veröffentlichten Untersuchung »Tschechische Literatur von 1969 bis 1989« feststellt, »Dr. Kokes« von Jirí Grusa sei dessen beste Prosaarbeit und eines der besten tschechischen Bücher der letzten dreißig Jahre: »die unerhörte Dichte des Ausdrucks, die gelegentlich an die Konzentriertheit von Versen erinnert; die diesmal von der Schwarz-Weiß-Optik befreite erzählerische Invention, die Methode unerwartet assoziativer Verbindungen von verschiedenen Handlungs- und Zeitebenen und jene existentielle Angst vor der Leerheit des Menschen, die für seine ganze Generation charakteristisch ist« (S. 75).
Gerade dies, was die Qualität des Textes ausmacht, brachte Schwierigkeiten bei der ersten deutschen Übersetzung, denn der Lektor des Reich-Verlags in Luzern, bei dem die deutsche Übersetzung zunächst erscheinen sollte, verstand den Text nicht. Er fand keinen Sinn im Unsinn, wie er sagte. Tomas Kosta, tschechischer Emigrant wie Grusa und Leiter des Bund-Verlags in Köln, unterstützte jedoch Grusa und lobte den Roman als »hervorragend«. Grusas Tagebuch, das im Literaturarchiv in Brünn liegt, ist voll Zweifeln an dem Text, den er unter so großen Risiken geschrieben hatte. Diese Zweifel, die wiederum von der Gewissheit unterbrochen werden, dass es eben doch ein gelungenes Werk sei, ziehen sich durch die beiden Jahre 1982 und 1983. Immerhin publiziert der Exil-Verlag in Toronto das tschechische Original von »Dr. Kokes« und bei der erneuten Arbeit am Text erkennt Grusa dessen Qualität. Im März 1984 dann folgt endlich der Vertrag mit Tomas Kosta. Zusammen mit einer Lektorin macht sich Grusa an die Übersetzung: »Sehr anstrengend. Kokes wird praktisch neu erfunden, ich übersetze ins Deutsche und Frau Julius summiert das alles irgendwie . Das Deutsche . ach!« Mit der Übersetzung, die dann unter dem Titel »Janinka« erschien, ist Grusa nicht zufrieden. Mit der vorzüglichen Übersetzung von Joachim Bruss, die wir hier vorlegen, wäre er zufrieden gewesen, sehr zufrieden.
Es ist ja keineswegs so, dass der Roman schwer lesbar wäre. Wenn man sich auf ihn einlässt, sich in ihn einliest, wird man von der Geschichte gefangen genommen, denn es sind nicht unzusammenhängende Teile, der Zusammenhang wird bald deutlich: es ist eine Familiengeschichte, Großeltern, Eltern, Enkel, die von der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg reicht, eine böhmische Geschichte, von der k. u. k. Monarchie bis zu den Kommunisten. Jede Episode, in Kapiteln sind sie gegliedert, bringt eine intensive Schilderung von Lebensverhältnissen voll anschaulicher Kraft. Der immer zuverlässige Erzähler verstört uns nicht, er bringt uns voran, wenn wir uns von ihm führen lassen. Die verschiedenen Handlungsstränge sind miteinander verflochten. Auch die Namen, die anfangs irritieren mögen, sind immer dieselben, sodass der Leser rasch mit den Figuren vertraut wird.
Der Offizier, der die Großmutter zu Habsburgs Zeiten verführte, sein Tod in der Schlacht, mit welcher Kraft wird das dargestellt, aber auch die alltäglichen Szenen, die fröhlichen und die traurigen Ereignisse in diesem Familienleben, rühren und bewegen. Der frühe Tod der Freundin Janinka (Verkleinerungsform von Jana) schwebt über dem Ganzen. Hier ist der immerwährende Schmerz des Autors über den Tod dieses Mädchens zu spüren, denn dieser Tod ist keine Fiktion, sondern eine Realität. In seiner Dresdner Vorlesung berichtet Grusa von seiner Rückkehr nach dem Ende des Kommunismus in seine Heimatstadt Pardubice: »Meine Mutter wohnt noch immer an der Ecke in unserem Haus. Hier in den Straßen habe ich Fußball gespielt, wurde zum Messdiener in der Wenzelskapelle, begleitete Begräbnisse zum Stadtfriedhof . und vierhundert Meter von hier, da liegt meine Sippe - mein erstes Mädchen, grausam vor diesem Kloster von einem LKW überfahren. Und auch der Pistora, Jirí wie ich, der, als die Russen kamen, nur litt, dann durchdrehte und Freiheit wählte - durch Gas« (S. 12). So steht hinter diesem Roman die Erfahrung des Autors und die seiner Familie, aber eben nicht als Autobiografie, sondern als Exempel einer Familiengeschichte, wie es viele gab.
In der Ausgabe des Romans, die 1984 in Toronto erschien, stand als Ergänzung des Titels in Klammern: »Ackermann aus Böheim«. Das ist jene alte Geschichte, die am Beginn einer Epoche der deutschen Literatur steht und in ihrem tschechischen Pendant am Beginn einer Epoche der tschechischen Literatur. Der »Ackermann aus Böhmen« von Johannes von Tepl entstand wohl um 1400, eben in Böhmen. Der erste Druck kam 1460 heraus, eines der ersten deutschen Bücher mit Holzschnitten. Das tschechische Pendant »Tkadlecek« (Weberlein) entstand zwischen 1436 und 1440. Eine deutsche Übersetzung dieses tschechischen Buches ist 2007 mit einem Vorwort von Jirí Grusa im Wieser Verlag in Klagenfurt erschienen, wo nun auch dieser neue »Ackermann aus Böhmen«, der »Dr. Kokes« von Grusa selbst erscheint. Denn ein Thema haben die beiden Texte gemeinsam, der Text von Johannes von Tepl und der von Jirí Grusa: die Klage über den Tod einer jungen Frau. Bei Tepl klagt der Bauer den Tod an, der seine Frau geholt hat. Das Buch bringt einen Dialog in 34 Kapiteln, wobei der Bauer die ungeraden Kapitel spricht, der Tod die geraden. Im 33. Kapitel spricht Gott, der dem Ackermann die Ehre, aber dem Tod den Sieg zuteilt. Das letzte Kapitel endet mit dem Lob Gottes.
So mag es auch nicht verwundern, dass Grusa zwei seiner Texte »modlitba« nennt: »Gebet«. Der Roman »Der 16. Fragebogen« trägt den Untertitel »Gebet für eine Stadt und einen Freund«, und auch ein Gedichtband heißt »Gebet für Janinka«. Grusa wiederum in der Dresdner Vorlesung, die einen so guten Zugang zu seiner Poesie bietet: »Gebete und Gedichte hängen eng zusammen. Denn Gedichte ohne Sprachmagie sind keine, und Gebete sind Gespräche - wenn auch mit einer Person mit Namen Gott. Nur weil sich in ihnen das Namengebende auf Wunsch oder Kummer einschränkt, lieben sie das Ausrufezeichen mehr als das Fragezeichen. Ich hatte Kummer und Wünsche, als ich mein letztes tschechisches Bändchen um 1972 verfasste - nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten und schon für die Selbstverlagsreihe. Sie hieß folgerichtig >Edice petlice<, also >Hinter Schloss und Riegel<. Wer uns liebte, tippte uns ab und las - keine schlechte Sitte. Unter dem Titel >Gebet für Jana<, für das Mädchen also, das der LKW in den Tod riß, erschienen Beschwörungen und Zaubersprüche, Bannworte und Bittrufe, die das stoppen sollten, was ich kommen sah« (S. 23).
So bringt auch »Dr. Kokes« im Grunde ein Rechten mit dem Tod wie »Der Ackermann aus Böhmen«. In beiden Fällen trägt der Tod den Sieg davon. Er hat immer das letzte Wort. Im Roman soll der Student, der ein Verhältnis mit...
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