Vorwort
Jirí Grusa wurde 1938 in Pardubice in Böhmen geboren. Als Kind lernte er noch die Schrecken der Besatzung und des Krieges kennen. Als die Kommunisten 1948 die Macht ergriffen, war er neun Jahre alt. Die stalinistischen Verfolgungen der fünfziger Jahre, die Schauprozesse gegen Demokraten, Priester und schließlich auch gegen Kommunisten erlebte er als Heranwachsender. Die leichte Lockerung in den sechziger Jahren ermöglichte es dem jungen Mann, seine ersten Texte zu veröffentlichen. Mit anderen gründete er 1964 die Zeitschrift Tvár (Gesicht), die erste nichtkommunistische Zeitschrift nach 1948; da war er 26 Jahre alt. Die Hoffnung auf menschlichere Verhältnisse im »Prager Frühling« wurde durch den Einmarsch der sowjetischen Truppen im August 1968 zunichtegemacht. Es folgte eine neue Repression. Grusa hatte Berufsverbot. Er unterzeichnete die Charta 77, die für die Bürgerrechte eintrat. Er wurde wegen seines Romans Der 16. Fragebogen, der in Toronto erschien, verhaftet und schließlich 1981 nach dem Westen abgeschoben.
Die lange Liste der Leiden in aller Kürze, um verständlich zu machen, dass Jirí Grusa zeit seines Lebens die Frage umtrieb, warum das alles geschehen war, warum dieses friedliche Land im Herzen Europas vom deutschen Nationalsozialismus und vom russischen Kommunismus so brutal unterdrückt wurde. Ein Versuch, diese Frage zu beantworten, ist dieses Buch über den nach Tomás Garrigue Masaryk wichtigsten tschechischen Politiker der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Edvard Benes. Und die schmerzliche Erfahrung des Autors mag die manchmal scharfen Urteile erklären und seinen gerechten Zorn.
Faschismus und Kommunismus hatten in der Tschechoslowakei nie viele Anhänger. In den dreißiger Jahren war sie die einzige Demokratie in Mittel- und Osteuropa. In der Generation, die der Grusas voranging, gab es wohl einige, die sich vom Kommunismus eine goldene Zukunft für das Land versprachen oder sich selbst eine solche Zukunft, wenn sie mitmachten. Er gehörte so wie sein Freund Václav Havel zu denen, die nur Opfer waren, nicht auch Täter. Sie gehörten wie alle Unterzeichner der Charta 77 auf den Müllhaufen der Geschichte, so tönte die kommunistische Presse. Es war die Ironie der Geschichte, die nach der samtenen Revolution von 1989 den einen zum Präsidenten der Republik machte und den andern zum Botschafter der Republik - in dem Land, in dem er als Emigrant lebte, nämlich in der Bundesrepublik Deutschland. Eine im Grunde tragikomische Situation von der Art, wie sie Havel in seinen Theaterstücken und Grusa in seinen Prosatexten konstruiert hatte. Grusa kam an die Spitze der Botschaft in Bonn, die ihn zuvor schikaniert und ausspioniert hatte.
Havel versuchte als Präsident an die Tradition der ersten Republik anzuschließen, die 1918 aus den Trümmern des Habsburger-Reiches entstanden war, an die Maximen des bedeutenden Präsidenten Tomás Garrigue Masaryk, der sie von 1918 bis 1935 führte. Und Grusas Schmerz war es, dass diese Maximen von Edvard Benes, nachdem er nicht mehr als Außenminister unter dem Schirm Masaryks arbeitete, sondern selbst Präsident war, verraten worden waren. Und davon handelt dieser Text, in dem drei wichtige Gestalten der tschechischen Geschichte auftreten: vor Benes eben Masaryk und vor Masaryk Frantisek Palacký. Eine vierte Gestalt erscheint bisweilen wie ein Menetekel an der Wand: der aus dem nahen Braunau stammende andere Österreicher Hitler, den Grusa gerne tschechisch schreibt »Hýdla« (das ý wird wie i ausgesprochen).
Frantisek Palacký (1798-1876), der bedeutende Historiker und wichtigste tschechische Politiker des 19. Jahrhunderts, gab den Tschechen mit seinem Werk in fünf Bänden Geschichte der Tschechen in Böhmen und Mähren, zwischen 1836 und 1867 erschienen, ihre Geschichte zurück; von da an war Jan Hus nicht mehr ein verächtlicher Ketzer, sondern ein unbeugsamer Held, um ein herausragendes Beispiel zu nennen. Und Palacký vertrat die tschechischen Interessen gegenüber der Wiener Regierung, immer maßvoll, immer verbindlich, immer vergeblich. Sein viel zitierter Satz von 1848: »Wahrlich, existierte der österreichische Kaiserstaat nicht schon längst, man müsste im Interesse Europas, im Interesse der Humanität selbst sich beeilen, ihn zu schaffen«, klingt wie eine Rechtfertigung des damaligen Österreich, weil man nicht die folgenden Sätze zitiert, aus denen hervorgeht, dass der Satz eine Forderung ist, keine Feststellung, eine Forderung, die Habsburg nie erfüllte: »Warum sahen wir aber diesen Staat, der von der Natur und Geschichte berufen ist, Europas Schild und Hort gegen asiatische Elemente aller Art zu bilden - warum sahen wir ihn im kritischen Momente, jedem stürmischen Angriff preisgegeben, haltungslos und beinahe ratlos? Weil er, in unseliger Verblendung, so lange her die eigentliche rechtliche und sittliche Grundlage seiner Existenz verkannt und verleugnet hat: den Grundsatz der vollständigen Gleichberechtigung und Gleichbeachtung aller unter seinem Scepter vereinigten Nationalitäten und Konfessionen.«
Dieser Forderung zu genügen, ist Österreich nie gelungen, es hat nicht einmal die Anstrengung dazu unternommen: Die Tschechen blieben bis 1918 ein Volk zweiten Ranges, und die Folgen der Versäumnisse des 19. Jahrhunderts wurden zu den Katastrophen des 20. Jahrhunderts. 1872, vier Jahre vor seinem Tod, veröffentlichte Palacký sein Politisches Vermächtnis. Darin heißt es: »Ich selber gebe jetzt leider schon die Hoffnung auf eine dauernde Erhaltung Österreichs auf.« Die Tschechen, die im 19. Jahrhundert einen enormen kulturellen und ökonomischen Aufschwung genommen hatten, sahen keinen Sinn in der Erhaltung eines Staates, der ihnen wesentliche Rechte vorenthielt. Und hier tritt Tomás Garrigue Masaryk auf, dem es gelang, mit der Hilfe des geschickten Edvard Benes während des Ersten Weltkrieges, den fahrlässig die Wiener Regierung riskiert hatte, von der deutschen Regierung unterstützt die Tschechoslowakei als eigenständigen Staat aus der Habsburger-Monarchie herauszulösen.
Tomás Garrigue Masaryk (1850-1937) hätte es schon wegen einer Tat verdient, in den europäischen Annalen ein für allemal festgehalten zu werden: wegen seines Verhaltens in der sog. Hilsner-Affäre. Ein jüdischer Schustergeselle wurde verdächtigt, eine junge Frau bei Polná, einem böhmischen Städtchen, getötet zu haben. Es sei ein Ritualmord gewesen, hieß es. Wer auch immer diesen Unsinn des jüdischen Ritualmords in die Welt gesetzt hat, jahrhundertelang saß er in den Köpfen vieler Menschen. Eine Welle des Antisemitismus schwappte über Böhmen und Mähren und Österreich, die tschechischen und die deutschen Nationalisten waren sich einmal einig. Als Hilsner zum Tode verurteilt wurde, nahm sich Masaryk der Sache an. In zwei kleineren Schriften wies er die Fehler der Richter nach. Darauf wandte sich die Wut der Meute gegen ihn, er stand ziemlich allein, hielt aber stand. Es kam zu einer Revision des Prozesses. In einer anderen Sache hatte er auch schon den Unwillen der tschechischen Patrioten auf sich gezogen: Seine Zeitschrift Athenäum hatte den Aufsatz des Bohemisten Gebauer abgedruckt, der nachwies, dass die angeblich uralten tschechischen Handschriften von Königinhof und Grünberg romantische Fälschungen waren.
Masaryk, Professor der Philosophie an der tschechischen Karlsuniversität, die durch Abspaltung von der deutschen 1882 entstanden war, erst ab da konnten die Tschechen in ihrer Sprache ein Studium absolvieren, engagierte sich politisch und publizistisch. Er erstrebte die Selbstständigkeit Böhmens und Mährens im Rahmen der Habsburger-Monarchie, sah aber bald, dass dies kaum zu bewerkstelligen war. Der Erste Weltkrieg gab dann die Chance einer Neugründung des tschechischen Staates, der dreihundert Jahre, seit der Schlacht am Weißen Berg 1620, unter Österreichs Herrschaft gestanden hatte. Masaryk gelang es im Exil, die Zustimmung der Alliierten Großbritannien, Frankreich und USA zu gewinnen, wobei ihm der geschickte Diplomat Edvard Benes zur Seite stand und der slowakische Politiker Milan Rastislav Stefánik, denn der neue Staat sollte Tschechien und die Slowakei umfassen. Masaryk kam nicht mehr mit leeren Händen. Die tschechische Legion, die sich in Italien, Frankreich und vor allem in Russland aus Überläufern und Gefangenen geformt hatte, kämpfte auf alliierter Seite.
In seinen Gesprächen mit dem tschechischen Autor Karel Capek entwickelte Masaryk seine demokratische Konzeption auf christlicher Basis. Er hatte die Demokratie in den USA kennengelernt, als er dort seine Frau heiratete und bei späteren Besuchen. Es gelang ihm schließlich auch, einen Ausgleich mit den deutschsprachigen Bewohnern Böhmens und Mährens zu erreichen, die nach der Gründung der Tschechoslowakei am 28. Oktober 1918 sich abspalten und mit Österreich verbinden wollten. Ab 1926 saßen immer zwei deutsche Minister in der Prager Regierung und die nationalistischen Deutschböhmen waren eine kleine...