1 › Das fliegende Cabrio
Vermissung/Rettung
Fahrer unbekannt, verletzt und abgängig. Beifahrer tot. Wer ist der Fahrer? Wohin führt dessen Spur von der Unfallstelle? Liegt er verletzt in dem angrenzenden Wald?
„Einen Latte macchiato mit fettarmer Milch und Süßstoff bitte und einen ganz normalen.“ Rizzo kramte in ihrer Hosentasche nach Kleingeld, um zu bezahlen. Sie waren bereits seit knapp zwei Stunden auf dem Weg nach Vorarlberg und hatten beim Übertritt nach Österreich an einer Autobahnraststätte gerade eine Vignette gekauft. Vor ihnen lag ein Trainingswochenende mit der Bergrettung. Der Bus war voll bepackt mit Abseilgeschirren für den Flying Fox über eine Schlucht und fünf ausgewachsenen Bloodhounds. Die großen Sankt-Hubertus-Hunde lagen in ihren Hundebetten und schliefen.
Die Riesen waren das Reisen mit dem Bus gewohnt. Rizzo und Gideon stiegen gerade wieder in den Transporter, als auf den iPhones der Alarm einging. Gideon stellte den Lautsprecher an, damit sie beide mithören konnten. „Einsatz für die Personensuchhunde.
Bloodhounds
Der Name „Sankt-Hubertus-Hund“ geht auf die ursprünglichen Suchhunde des Sankt-Hubertus-Klosters zurück, die dort von Mönchen in den Ardennen (Belgien) gezüchtet wurden. In Deutschland und in den meisten Ländern weltweit wird die Rasse nach dem alten englischen Namen „Bloodhound“ bezeichnet (eingedeutscht: „Bluthund“), nachdem der Hubertushund im 11. Jahrhundert nach England kam. In Frankreich und Belgien nennt man den Hund heute noch „Chien de Saint-Hubert“ (übersetzt: Sankt-Hubertus-Hund).
Schwerer Autounfall. Der Fahrer eines verunglückten Cabrios ist seit den frühen Morgenstunden abgängig. Der Beifahrer ist bereits an der Unfallstelle verstorben. Es wird vermutet, dass auch der vermisste Fahrer schwer verletzt ist und dringend Hilfe braucht. Benötigt werden die Mantrailer, Suchgruppenhelfer und auch die Flächenhunde, da sich Wiesen und Wälder in unmittelbarer Nähe befinden. Rückmeldung bitte an Jo mit genauer Ankunftszeit.“
Der Einsatzort war nicht weit entfernt von ihrem Wohnort und lag im hügeligen Einzugsgebiet des Lechs. Während Rizzo noch mit dem Zugführer telefonierte, hatte Gideon bereits das Auto gewendet und sie fuhren die Autobahn zurück Richtung Heimat. „Als Geruchsartikel haben wir abgetrennte Haare, die an der Fahrerkopfstütze eingebrannt waren. Jo fertigt Geruchskopien an“, teilte Rizzo mit. Da der flüchtige Fahrer nicht der Fahrzeughalter des Autos ist, war nicht bekannt, wer am Steuer saß. Somit konnten keine weiteren Geruchsartikel vom Zuhause der vermissten Person besorgt werden. Beim Fahrzeughalter handelte es sich um den toten Beifahrer.
Gideon und Rizzo fuhren durch die verwinkelte Landschaft einen Berg hinauf, der vor allem durch seine schöne Wallfahrtskirche bekannt war. Die Kirche thronte erhaben über dem Ort und strahlte eine gewisse Ruhe aus. Sie waren fast am Einsatzort angekommen. Als sie um die Kurve fuhren, wurden sie von der prallen Frühlingssonne und dem stahlblauen Himmel geblendet, unter ihnen das Lechtal und der immergrüne Fluss. „Was für ein Tag und Ort, um zu sterben“, meinte Rizzo. Kurz vor der nächsten Kurve war bereits eine Straßenabsperrung eingerichtet. Der Polizist winkte sie mit der Kelle durch, er wollte sie umleiten. Gideon fuhr rechts an die Seite und ließ das Fenster herunter. „Wir sind von der Hundestaffel und müssen zum Einsatzort. Der Autounfall.“ „Ja, fahrts da weiter. Is glei um d' Kurvn rum“.
Das junge Mädchen war bereits seit zwei Stunden unterwegs und einige Kilometer weit querfeldein umhergeirrt. Als sie endlich den breiten Waldweg in Richtung ihres Heimatorts erreicht hatte, kamen ihr in einiger Entfernung ein paar Wanderer entgegen. Sybille S. schlug sich ab vom Weg, quer durch das Unterholz und stolperte ein paar Meter tief eine Senke bergab. Dort blieb sie in einem kleinen Wasserlauf liegen. Es durfte sie keiner sehen, in dem Zustand, in dem sie sich befand. Das Wasser war nur einige Zentimeter tief, sie nahm es zunächst gar nicht wahr. Sie rollte sich langsam zur Seite, drehte das Gesicht nach unten, ließ sich sanft umspülen und Erde und Blut von dem kleinen Rinnsal abwaschen. Einige Zeit bewegte sie sich nicht. Sie wäre gern liegen geblieben. Als sich die Stimmen der Wanderer wieder entfernt hatten, stand sie auf und lief weiter. Sie kannte die Gegend gut, fuhr durch diesen Wald häufig mit ihrem Fahrrad, um sich im nächsten Ort mit Freunden zu treffen. Sie hatte noch kein Auto, machte aber gerade den Führerschein. Sich zu orientieren fiel ihr trotz Ortskenntnis schwer, sie hatte auf der Party einiges getrunken. Sybille S. schlug sich weiter durch das Gebüsch und folgte ihrem inneren Kompass. Nur nach Hause und schlafen.
Das Einsatzszenario war eines der spektakuläreren. Rizzo und Gideon fuhren langsam die Straße hinauf. Sie kamen nur mühsam vorwärts. Die Straße wurde immer enger, rechts und links parkten an die 50 Pkws, Busse und Kleintransporter der verschiedenen Hilfsorganisationen und Rettungshundestaffeln. Links ging es eine Böschung hinauf, rechts fiel der Hang steil ab in Richtung Tal. Dann kam die freie Sicht auf eine große Wiese. Es wimmelte von Löschfahrzeugen, Polizeiautos, weiteren Dienstfahrzeugen, Bussen und Transportern. Es mussten sich an die 100 Personen am Unfallort befunden haben. Einige standen herum und warteten, andere liefen bereits emsig umher. Der Hubschrauber kreiste. Zwischen dem ganzen Gewusel konnte Gideon das Autowrack erkennen. Viel war nicht mehr übrig geblieben von dem einst schicken Sportwagen. „Dass da einer lebend rausgekommen ist,“ Rizzo blickte ungläubig zum Wrack. Das Auto hatte auf der Wiese wie ein Meteorit eingeschlagen und war durch den heftigen Aufprall um die Hälfte zusammengedrückt worden. Nun lag es als dunkle flache Metallmasse eingegraben in der Erde, die Reifen standen verdreht gen Himmel gereckt. Gideon parkte den Transporter im Schatten, denn die Sonne stand mittlerweile höher. Es war bereits Mittag.
Sie zogen am Auto ihre Einsatzkleidung über und liefen an den Hilfskräften vorbei zum Unfallort. Jo, der Zugführer, erwartete die beiden bereits. „Hallo, super, dass ihr da seids! Hier habts die Haare vom Fahrer und Kompressen als Geruchsartikel. Wir wissen noch nix über ihn oder sie, außer dass die Person dunkle längere Haare hat. Wir gehen aber davon aus, dass sie schwer verletzt im Schock umherirrt oder bereits irgendwo im Wald liegt und dringend Hilfe benötigt. Wäre gut, wenn ihr gleich loslegen könntet.“ Sie starteten mit Hitchcock. Der Bloodhoundrüde würde mit der Situation am Start und den ganzen Verleitgerüchen gut klarkommen. Er gehört zu den Hunden, die die Nase auch hin und wieder hochnehmen, um den frischesten Geruch zu bekommen, und somit auf offener Fläche schnell Strecke machen können. Mit großen offenen Wiesen und Hanglage hatte der Chef der Bloodhoundgruppe in der Regel keine Probleme.
Das Auto war mit überhöhter Geschwindigkeit in einer engen Kurve von der Serpentinenstraße abgekommen. Die Leitplanke wirkte wie eine Sprungschanze und katapultierte es hoch in die Luft. Es hob ab und flog um die 40 Meter weit über die Wiese, bis es auf dem Boden auf- und sich danach mehrfach überschlug, um dann auf dem Überrollbügel liegen zu bleiben. Die Fahrt- und Flugrichtung, aus der es kam, war aufgrund der eindeutigen Spuren an der Leitplanke und den Bodenverletzungen gut zu erkennen und musste als herführende Geruchsspur miteinbezogen werden. Einige Personensuchhunde sehen sich gern ein Stück weit an, von wo die zu suchende Person kam, bevor sie die Spur in die richtige Richtung weiterverfolgen. Der Fahrer hatte sich eine Zeit lang im Auto aufgehalten und musste sich vermutlich auch erst aus dem Wrack befreien. Somit befand sich ein sogenannter Geruchspool (engl. „scent pool“, Ansammlung eines Geruchs) am Startpunkt. Aus diesem musste sich der Hund erst herausarbeiten und den richtigen Abgang finden. Durch die Hanglage war davon auszugehen, dass der Geruch der eigentlichen Spur durch die Thermik weiter verteilt wurde.
Berg- und Talwind-Zirkulation
An einem von der Sonne beschienenen Berghang setzt nach Sonnenaufgang eine starke Erwärmung des Bodens ein, wodurch sich die bodennahe Luft rascher erwärmt als die hangferne Luft. Durch die Verringerung der Luftdichte (thermischer Auftrieb) setzt am Vormittag zunächst ein Hangaufwind ein. Am späten Abend kehrt sich das Windsystem um.
Gideon öffnete den Plastikbeutel, den Jo ihr gegeben hatte, und ließ jeweils eine Kompresse und ein paar der dunklen Haare in zwei eigene Tüten fallen. Rizzo tat dasselbe. Somit hatten sie jeweils zwei Beutel mit Geruchsartikeln (GA), auf die sie mit Folienstift die Namen
der Hunde, die für diesen Fall eingesetzt werden sollten, schrieben, falls mehrere Mantrailer benötigt würden.
„Riech.“ Die Nasenlöcher des Bloodhounds blähten sich auf, sorgfältig sog er den Geruch in die Nase. Hitchcock schüttelte sich, Sabber flog rechts und links seitlich weg. Dann gab Gideon ihm das Suchkommando „Such“. Der Bloodhound nahm den Kopf hoch und setzte seine 50 Kilo in Bewegung, trabte hinauf zur Straße. An der stark verbogenen Leitplanke drosselte er sein Tempo und kam mit der Nase tiefer. Er trailte ein Stück an der Absperrung entlang, bis er auf den Asphalt gelangte. Dort fing er an, sich tief an den Boden zu heften und in schlängelnden Bewegungen immer langsamer zu werden. Der ganze Körper des arbeitenden Hundes verkürzte sich und wurde quadratisch, er schlug einen Haken und warf sich nach rechts herum. Gideon verkürzte die Leine, sie wusste, dass...