Schweitzer Fachinformationen
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Spuren im Gestern, Hoffnung im Morgen
Hamburg, 1968. Ein Riss geht durch Deutschland, die neue Generation befindet sich im Konflikt mit der alten. Auch Ulrike Casparius, eine angehende Journalistin, sympathisiert mit der Studentenbewegung und rebelliert gegen ihre Eltern. Ihre sensible Schwester Sabine sucht verzweifelt nach Anerkennung und findet sie in einer Gruppe Hippies und Hausbesetzer, denen sie sich anschließt. Dort werden große Pläne für eine bessere Zukunft geschmiedet. Als einer ihrer Freunde erfährt, dass sie mit Kurt Jacobson verwandt ist, der für die Bundesanwaltschaft arbeitet, ruft dies die RAF auf den Plan. Und plötzlich wird aus Gedankenspielen tödlicher Ernst ...
Bester Schmökerstoff: packend, berührend, opulent
Das Finale der großen Hamburger Familiengeschichte
Ulrike erwachte. Als sie ihre Beine streckte, fühlten sie sich wohlig schwer an. Sie blinzelte. Warum war es nur so hell in ihrem Schlafzimmer? Konnte es tatsächlich die Nachmittagssonne sein, die da durch das zum Innenhof gelegene Fenster hereinschien? Als sie den Kopf zur Seite drehte, um mit halb geschlossenen Augen einen Blick auf ihren Wecker zu werfen, spürte sie ein dumpfes Pochen in den Schläfen. Wahrscheinlich die Rache dafür, dass sie gestern Abend den billigen Rotwein wie Wasser hinuntergestürzt hatte, während sie mit ihren Gästen bis in die frühen Morgenstunden geraucht, getanzt und gequatscht hatte.
Es war kurz nach fünfzehn Uhr. Schlagartig fiel ihr ein, wo sie eigentlich heute hätte sein sollen . Jetzt war es aber zu spät, um noch hinzufahren. Sie unterdrückte ein Seufzen und kämpfte gegen das aufsteigende schlechte Gewissen an. Um sich abzulenken, stützte sie sich auf die Unterarme und ließ ihren Blick durch das Schlafzimmer ihrer Berliner Wohnung wandern: hastig abgestreifte Klamotten auf dem Boden, an die Wand gelehnte Protestplakate, halb leer gegessene Teller und volle Aschenbecher, so weit das Auge reichte. Trotz der Kopfschmerzen musste sie grinsen. Ihre Mutter hätte einen Herzinfarkt bekommen, wenn sie dieses Chaos gesehen hätte.
Leider war sie als älteste Tochter von Sonja und Friedrich Casparius-Koenig in einer extrem konservativen Familie groß geworden, in der »anständige« Manieren stets wichtiger gewesen waren als ein offenes Gespräch. Alles Unangenehme oder Unschickliche wurde totgeschwiegen. Als sie mit vierzehn Jahren zufällig einen Taschenkalender ihres Vaters von 1943 entdeckt hatte, der mit einem Hakenkreuz bedruckt war, hatte sie sich zum ersten Mal gefragt, wie ihre Eltern eigentlich durch den Krieg gekommen waren. Doch ihre Mutter und ihr Vater hatten ihr Interesse im Keim erstickt. »Kannst du dich nicht mit etwas Sinnvollem beschäftigen?«, hatte es geheißen. Als sie erneut nachhaken wollte, hatte ihre Mutter sie mit diesem eiskalten Blick gemustert, der »Bis hierhin und nicht weiter« bedeutete. Damals hatte sie den Wunsch ihrer Eltern notgedrungen respektiert. So war sie erzogen worden: mit einer Extraportion Autorität. Das war in ihrer Kindheit nichts Besonderes gewesen. Egal, ob Eltern, Lehrer oder Arzt, immer hatte man das tun müssen, was die Erwachsenen verlangten. Sogar ihr erstes Rendezvous war von ihrer Mutter arrangiert worden: Der Sohn eines befreundeten Reeders hatte sie mit seinem protzigen Cabriolet zum Tanztee abgeholt. Einen Nachmittag lang hatte sie sich zu den Rhythmen von Rumba und Slowfox über das Parkett schleifen lassen, dann hatte der junge Mann sie mit einem Handkuss zum Abschied vor ihrem Elternhaus abgeliefert. Spießiger hätte ein solches Treffen nicht ablaufen können.
Ulrike strich sich eine dunkelblonde Haarsträhne hinters Ohr und erinnerte sich, wie viel Wert ihre Mutter immer auf das Äußere ihrer Kinder gelegt hatte. Wie oft war sie noch einmal aufs Zimmer geschickt worden, um sich eine »adrette« Bluse anzuziehen oder die Stoffhose gegen einen Rock zu tauschen. Wenn sie jetzt abgewetzte Jeans und lässig weite T-Shirts trug, war das auch ein Akt der Befreiung, denn in dem biederen Wirtschaftswunderidyll ihrer Kindheit wäre sie fast erstickt. Hinter den vornehmen Mauern der Blankeneser Villa hatte es keine Liebe gegeben, nur blindes Befolgen gesellschaftlicher Regeln. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals eine zärtliche Geste zwischen ihren Eltern gesehen zu haben. Oder einen Morgen, der gemütlich im Bett verbracht worden wäre. Ihre Mutter, die die Arbeit in der Reederei grundsätzlich über Geburtstage, Schulfeiern und Kinderkrankheiten stellte, schien keinen Wert auf spontane Liebesbezeugungen oder familiäre Geselligkeit zu legen. Selbst in der Freizeit ging es ihr nur um Pflichterfüllung und die Pflege nützlicher Kontakte. Sie war die unangefochtene Herrscherin in der Villa. Ihr Vater richtete sich in allen Lebenslagen nach seiner erfolgreichen Ehefrau, selbst wenn er diesen Umstand nach außen hin zu verschleiern versuchte. Erst spät hatte Ulrike begriffen, dass er ein gottverdammter Nazi gewesen war. Ein U-Boot-Kommandant von Hitlers Gnaden. Diese Erkenntnis hatte sie zutiefst schockiert und zu einer inneren Distanz ihm gegenüber geführt. Denn selbst wenn sich ihr Vater inzwischen als CDU-Politiker mit weißer Weste inszenierte und die Wahrheit über seine Vergangenheit unter den Teppich kehrte, hatte er genau wie Millionen andere Deutsche der menschenverachtenden faschistischen Ideologie angehangen.
Seit ihrem zwölften Lebensjahr hatte sie versucht, aus dem engen Korsett ihrer großbürgerlichen Herkunft auszubrechen. Sie hatte heimlich auf dem Schulklo geraucht und sich vor Mutters feinen Gästen einen zweiten oder dritten Nachschlag beim Dessert genommen, obwohl die mütterlichen Lippen lautlos die Worte »Denk an deine Figur« geformt hatten. Überhaupt waren ihre üppigeren Formen ein Dorn im Auge ihrer Mutter gewesen. Mehrfach hatte sie versucht, sie auf Diät zu setzen. Doch jede Hungerkur war wegen Ulrikes nächtlichen Pirschgängen in die Küche und des unentdeckten Süßigkeitenlagers unter ihrem Bett fehlgeschlagen.
Erst mit Beginn ihres Publizistikstudiums an der Freien Universität Berlin war es ihr gelungen, ihre Flügel auszubreiten und Teil der neuen Zeit zu werden. Sie hatte beschlossen, den Beruf der Journalistin zu ergreifen, um ihre zukünftige Leserschaft über politische und gesellschaftliche Themen aufzuklären. Sie wollte Licht ins Dunkel bringen und endlich all das in Worte kleiden, was in ihrer Familie totgeschwiegen worden war. Der Auslöser für ihren Berufswunsch waren die Frankfurter Auschwitzprozesse gewesen. Damals hatte sie alles, was in den Zeitungen darüber geschrieben worden war, wie ein Schwamm aufgesogen. Doch als sie mit ihren Eltern über die entsetzlichen Zeugenaussagen der ehemaligen KZ-Insassen sprechen wollte, hatte ihre Mutter gemeint, ein solch degoutantes Thema tauge nicht zum Tischgespräch.
Trotzdem war der Umzug von Blankenese nach Berlin erst der Auftakt zu größeren Veränderungen gewesen. Mit einem Lächeln blickte Ulrike den leise vor sich hin schnarchenden Mann an, der neben ihr im Bett lag. Lars - oder »der Bürgerschreck«, wie ihre Nachbarn ihn wegen seiner langen Haare nannten - ermutigte sie dazu, immer neue Grenzen zu überwinden. Auch die in ihrem eigenen Kopf. Er war das Gegengift für ihre alte Spießerexistenz. Wenn sie bislang in einem langweiligen Schwarz-Weiß-Film gelebt hatte, dann war das Dasein an seiner Seite eine Explosion aus Farben und bewusstseinsverändernden Ideen.
Lars kämpfte an vielen Fronten für eine bessere Welt und rebellierte gegen die rigide Sexualmoral der älteren Generationen. Natürlich war auch sie mit gebetsmühlenartig wiederholten Warnungen aufgewachsen: Achte auf deine Tugend! Sex vor der Ehe ist eine Sünde! Kein Mann wird jemals ein »leichtes« Mädchen heiraten! Aufklärung im eigentlichen Sinne hatte es in ihrem Elternhaus nicht gegeben. Alles, was sie vor ihrer Begegnung mit Lars über dieses Thema gewusst hatte, hatte sie sich im »Knigge für Verliebte« in der Bravo selbst angelesen. Lars' Motto lautete dagegen: »Keuschheit ist ebenso wenig eine Tugend wie Unterernährung.« Diese Parole hatte er aus einem Buch übernommen, und natürlich verlangte er auch von ihr, sich für die freie Liebe zu öffnen, was ihr anfänglich nicht gerade leichtgefallen war.
Lars und sie hatten sich im Juni des vergangenen Jahres eher zufällig kennengelernt. Nach ihrem Grundstudium hatte sie damals nach Themen gesucht, über die sie als angehende Journalistin Artikel verfassen könnte. Als sie in der Universität Poster erblickte, die zur Teilnahme an einer Demonstration gegen den Besuch des Schahs von Persien aufriefen, beschloss sie spontan, dort vorbeizuschauen.
Am zweiten Juni kurz vor Mittag hatte sie sich mit rund zweitausend anderen Demonstranten gegenüber dem Schöneberger Rathaus eingefunden, in dem sich der Schah ins Goldene Buch der Stadt eintragen sollte. Trotz des hohen Polizeiaufgebots herrschte hinter der Absperrung eine ausgelassene, fröhliche Stimmung. Die meisten Anwesenden schienen wie sie Studenten zu sein und schwenkten Plakate mit Parolen wie »Nieder mit der Diktatur« oder »Freiheit für den Iran«. Neben dem Rathaus, in unmittelbarer Nähe zu dem Turm mit der Freiheitsglocke, stand eine Gruppe finster dreinblickender Männer in schwarzen Anzügen. Im Gegensatz zu den Studenten hielten sie Porträts des iranischen Staatsoberhaupts hoch, die an langen Holzlatten befestigt waren.
»Das sind die Jubelperser des Schahs«, erklärte ein junger Mann mit Nickelbrille, der ihren fragenden Blick bemerkt haben musste.
»Jubelperser?«
»Iraner, die vom Schah bestellt und bezahlt worden sind, um ihm zu applaudieren.«
»Wie? Echt?«
Er nickte und zeigte auf die Kolonne dunkler Limousinen, die sich dem Rathaus im Schritttempo näherte: »Da kommt das Schwein!«
Im selben Moment kippte die Stimmung. Wütende »Mörder, Mörder!«-Rufe schallten dem Schah und seinem Gefolge entgegen, als sie aus den Limousinen kletterten. Vereinzelt wurden Stinkbomben und Eier geworfen, die jedoch allesamt ihr Ziel verfehlten. Dafür klatschte eine überreife Tomate unmittelbar vor Ulrike auf die Straße und hinterließ unschöne Spritzer auf ihrer Jeans. Kurz darauf verschwand der Schah im Rathaus, und die Rufe verstummten.
Ulrike griff gerade in ihren Rucksack, um ein Notizbuch hervorzukramen und ihre Eindrücke festzuhalten, als sie bemerkte, wie die »Jubelperser« die Schah-Porträts herunterrissen und mit den zu Knüppeln umfunktionierten Holzlatten auf die...
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