Schweitzer Fachinformationen
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Wenn ein Moment zwei Familien auf immer verbindet
Hamburg, 1919. John Casparius glaubt nicht mehr an das Gute im Menschen. Die grausamen Erfahrungen des Krieges verfolgen ihn, die einst so florierende Reederei, seit Jahrzehnten in Familienbesitz, ist durch die politischen Turbulenzen angeschlagen. Von Schuldgefühlen geplagt kreisen seine Gedanken darum, ins Wasser zu gehen. Nach einer durchgrübelten Nacht trifft er im Morgengrauen am Elbufer auf die junge Leni Hansen. Zwei Fremde, die der Zufall für einen kurzen, aber schicksalshaften Moment zusammenführt und die nicht ahnen, dass von nun an ihr Leben und das ihrer Familien über Generationen miteinander verwoben sein wird.
Michaela Grünig erzählt mit Einfühlsamkeit und Wucht von Schuld, Verlust und Menschlichkeit, die alle Schicksalsschläge überdauert
Wie jeden Morgen nahm Leni einen Umweg in Kauf, um vor der Arbeit am winterlichen Elbstrand entlangzuschlendern. Die Sattlerei in der Blankeneser Hauptstraße hätte sie auch über einige Treppen erreichen können, die sich durch die verwinkelten Gässchen ihres Viertels schlängelten. Doch am unterhalb des Elbhangs gelegenen Strandweg blies ihr der frische Wind um die Nase, und sie genoss den täglich wechselnden Ausblick aufs Wasser. Heute hingen die Wolken so tief über dem Fluss, dass man die gegenüberliegende Landschaft nur schemenhaft erkennen konnte. So kurz nach Kriegsende zogen lediglich vereinzelt Barkassen und Fischkutter leise plätschernd an ihr vorbei. Die Viermast-Frachtsegler, an deren majestätischem Anblick sie sich früher nicht hatte sattsehen können, gingen schon lange nicht mehr auf große Fahrt. Das sei der noch immer anhaltenden Seeblockade der Engländer geschuldet, behauptete Albert, der solchen Sätzen meist ein geknurrtes »Verdammte Hunde!« folgen ließ.
Obwohl die Temperaturen endlich wieder über den Gefrierpunkt geklettert waren, trieben kleine Eisschollen auf dem blaugrauen Wasser. Leni zog den viel zu großen Mantel fester um ihren schlanken Körper. Trotz der Lage Zeitungspapier, die sie sich in die Stiefel gestopft hatte, spürte sie ihre Füße vor Kälte kaum. Hoffentlich wurde bald wieder alles so wie früher. In der morgendlichen Stille, in der sie nichts außer ihrem eigenen Atem hören konnte, wirkte die glatte Elbe unwirklich, fast wie eine Traumwelt. So als könnten jeden Moment die schrecklichen Ungeheuer auftauchen, mit denen ihre Brüder sie geängstigt hatten, als sie klein war.
Mit einem leisen Lachen eilte Leni weiter. Das einzige Ungeheuer, mit dem sie dieser Tage zu kämpfen hatte, war Herr Kröger, ihr Chef in der Sattlerei. Aber mit diesem lüsternen alten Törfkopp wurde sie schon fertig. Sie war schließlich nicht umsonst mit fünf Brüdern aufgewachsen.
Als sie die vielen Stufen der langen Strandtreppe erklommen hatte und in die kopfsteingepflasterte Hauptstraße einbog, hörte sie rasche Schritte hinter sich. Bevor sie sich umdrehen konnte, legten sich eiskalte Finger von hinten auf ihre Augen. »Und? Wer bin ich?«, fragte eine bekannte Stimme.
»Ina!«, rief Leni und drehte sich um. »Du bist aber früh unterwegs.« Wie viele junge Frauen hatte auch ihre Freundin im Krieg die zivile Stelle eines für das Vaterland kämpfenden Soldaten übernommen: Sie trug in diesem Viertel die Post aus. Doch im Gegensatz zu ihr selbst hatte Ina keinen Spaß an ihrer Aufgabe.
»Telegramm für die Schneiderei Paulsen.« Ina rieb ihre blaugefrorenen Hände aneinander, um sie aufzuwärmen. »Glücklicherweise das letzte Mal für mich. Ab morgen kann ich wieder im warmen Bett liegen bleiben und ausschlafen.«
Leni riss die Augen auf. »Wie das?«
»Mommsen hat mir einen Heiratsantrag gemacht und .«
»Der dicke Metzger Mommsen? Oje! Hast du ihn schon abgelehnt?«
Inas Gesichtsausdruck verfinsterte sich. »Also . so dick ist Franz gar nicht, und außerdem .«
»Aber er ist doch bestimmt schon an die vierzig!«, rief Leni entgeistert, als ihr aufging, dass ihre Freundin tatsächlich darüber nachdachte, den Antrag anzunehmen.
»Ja, und? Franz ist im besten Mannesalter und hat sein eigenes Geschäft. Er ist eine gute Partie für mich. Besonders jetzt, wo so viele Männer im Krieg gefallen sind«, erwiderte Ina mit trotzig vorgeschobenem Kinn.
Obwohl sie die Worte nachher am liebsten sofort wieder eingefangen hätte, konnte Leni nicht an sich halten: »Sag . redet dir deine Mutter so einen Blödsinn ein?« Sie erinnerte sich gut daran, wie die spindeldürre Frau Feddersen schon früher am Notwendigsten für ihre Tochter gespart hatte. Oft war Ina nur deswegen satt geworden, weil sich Lenis eigene Mutter erbarmt und ihr ein Botterbroot zugesteckt hatte. »Inalein, du kannst doch unmöglich in den alten Kerl verliebt sein. Und eine Ehe ohne Liebe . das geht doch gar nicht!«
Ina funkelte sie böse an. »Du sitzt aber auf einem hohen Ross, Leni. Wart's ab . irgendwann wirst auch du den Tatsachen ins Auge schauen müssen. Fast alle jungen Männer sind im Krieg geblieben oder Krüppel. Und wir sind auch keine Prinzessinnen. Was bleibt uns da anderes übrig, als uns mit dem Schicksal zu arrangieren, wenn wir nicht leer ausgehen wollen?«
Leni hätte tausend Gründe anführen können, warum es besser war, auf die große Liebe zu warten. Schließlich waren ihre eigenen Eltern das beste Beispiel dafür. Die beiden hatten sich innig geliebt und waren bis zum viel zu frühen Tod ihres Vaters gemeinsam durch dick und dünn gegangen. Ihre Mutter schien noch heute von diesem vergangenen Eheglück zu zehren. Wie schrecklich musste es dagegen sein, jeden Morgen neben . Metzger Mommsen aufzuwachen! Würde Ina nun täglich seine blutbesudelten Kittel waschen müssen? Allein bei dieser Vorstellung wurde ihr übel.
Ina schien ihr ihre Gefühle anzusehen, denn sie verkündete inbrünstig - ganz so, als müsste sie sich selbst vom Wahrheitsgehalt ihrer Worte überzeugen: »Franz ist ein rechtschaffener und angesehener Mann. Außerdem steckt er uns öfters eine Extraportion Fleisch zu . ganz ohne Essensmarken.«
Leni, die darauf bedacht war, den Streit mit ihrer Freundin nicht aus dem Ruder laufen zu lassen, unterließ es, Ina zu belehren, dass sich das Wort »rechtschaffen« nicht mit gesetzeswidrig unter der Hand ausgegebenen Fleischportionen vertrug. Sie schluckte alle weiteren kritischen Bemerkungen hinunter und lächelte. »Dann wünsche ich euch beiden alles Glück der Welt.«
»Danke«, erwiderte Ina, immer noch verschnupft. »Wir werden vorerst nur auf dem Amt heiraten, aber nächstes Jahr, wenn die Versorgung wieder besser ist, feiern wir ein Fest. Dazu bist du natürlich auch herzlich eingeladen.«
Leni öffnete die Arme und zog ihre Freundin für einen Moment fest an sich. »Da komme ich gern.«
»Schön.« Halbwegs versöhnt, klopfte Ina auf die umgehängte Tasche mit der Post. »Ich muss jetzt weiter.«
Leni nickte. Auch sie war spät dran. »Bis bald.« Während sie den Rest des Weges zur Sattlerei zurücklegte, dachte sie über Inas Worte nach. Es stimmte, viele junge Männer waren im Krieg geblieben. Unwillkürlich kam ihr in den Sinn, wie ihre Mutter die schreckliche Nachricht von Karls und später von Hendriks Tod erhalten hatte. Ihre Brüder waren 1915 und 1918 gefallen. Gemeinsam mit ihrer in Blankenese verbliebenen Familie hatte Leni sehr um die beiden getrauert. Besonders der Verlust ihres lebenslustigen Lieblingsbruders Hendrik so kurz vor Kriegsende war eine Tragödie gewesen, da er während seines letzten Heimaturlaubs seine Verlobte geschwängert hatte. Seine Tochter Fanni hatte er nicht einmal mehr zu Gesicht bekommen.
Über ihre eigene Zukunft hatte Leni damals nicht groß nachgedacht, dafür war sie zu sehr mit dem Anstehen vor leeren Geschäften, dem ständig nagenden Hunger, der Betreuung ihres jüngsten Bruders und schließlich der Arbeit in der Sattlerei beschäftigt gewesen. Wie alle ihre Nachbarn im Treppenviertel hatte sie von Tag zu Tag gelebt, immer darauf bedacht, dass keiner von ihnen Not litt und jeder genug zu essen hatte.
Energisch drückte sie die Eingangstür der Sattlerei auf. Sogleich zog ihr der würzige Geruch von Leder, Seife und Bienenwachs in die Nase. Während sie ihren Mantel achtlos über einen der an der Holzwand angebrachten Haken warf und ihren beiden bereits an der Werkbank sitzenden Kollegen ein kräftiges »Moin, moin« zurief, beschloss Leni, sich von dem vorherrschenden Männermangel nicht Bange machen zu lassen. Kommt Zeit, kommt Rat, dachte sie und griff beherzt nach dem erst gestern angefangenen Zaumzeug und dem Locheisen. Mit ihren fast zweiundzwanzig Jahren hatte sie sicher Zeit und musste noch nicht nach einem Ehemann Ausschau halten. Und bevor sie sich wie Ina an eine gute, aber lieblose Partie verschachern ließ, blieb sie sowieso lieber allein. Schließlich hatte sie gerade erst ihre Lehre als Sattlerin abgeschlossen und verfügte über ein eigenes, wenn auch bescheidenes Einkommen. Außerdem verfolgte sie seit geraumer Zeit das Liebesleben ihrer Brüder, das auch nicht immer rosig aussah. Möglicherweise war es gar nicht so einfach, die große Liebe zu finden.
»Fräulein Hansen?«, schallte es plötzlich aus dem Büro durch die Werkstatt.
»Ja?«, antwortete Leni zögerlich. Was konnte Kröger denn so früh am Morgen von ihr wollen?
»Ins Büro!«, lautete die kurze Anweisung ihres Chefs.
Leni verdrehte die Augen und legte das Eisen und den Hammer zur Seite, mit denen sie gerade weitere Löcher in das Kopfstück des Zaums geschlagen hatte. Als sie zu ihren Kollegen blickte, sah sie, dass die beiden sich verdächtig konzentriert über ihre Arbeit beugten. Wussten sie etwa, um was es ging? Mit einem mulmigen Gefühl machte sie sich auf den Weg.
»Schließ die Tür hinter dir«, sagte Kröger, als sie eintrat.
Leni gehorchte, blieb aber unmittelbar neben der Tür stehen. Sie war nicht gern allein mit ihm in einem Raum.
»Du ahnst bestimmt, worüber ich mit dir reden muss?«, fragte der Sattlermeister. Er war von eher kleiner Statur, und sein Frettchengesicht hatte etwas Verschlagenes. Kröger war nur deshalb gut durch den Krieg gekommen, weil er sich an den leichtgläubigen reichen Leuten in den Villen entlang der Elbchaussee schadlos gehalten hatte. Höchstpersönlich hatte er die Stallburschen bestochen, ihre Dienstherren von der Notwendigkeit neuer Sättel und...
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