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Frida kommt zur Welt
Das slowakische Dorf Lelesz war nicht sonderlich groß, von ihrem Nest auf dem Turm des Klosters konnten die Störche das gesamte Dorf übersehen. Unterhalb des Klosterhügels standen schmale, gemauerte Häuser in Reih und Glied. Alle mit einem Obst- und Gemüsegarten, alle mit einem Brunnen und einem Lattenzaun. Zwischen den Häusern verliefen schmale Schotterwege, und mitten durchs Dorf zog sich eine Allee aus Akazienbäumen, an der die Kirche und die Synagoge standen. Von oben betrachtet, war es unmöglich zu sagen, ob in einem Haus Christen oder Juden wohnten. Die Häuser der Roma hingegen waren leicht zu erkennen. Sie lebten am Rand des Dorfes, an der Grenze zu den sich weit erstreckenden Äckern, die sich jeden Sommer in ein schimmerndes Meer gelber Sonnenblumen verwandelten.
Lelesz, 1917.
Die Bevölkerung von Lelesz war stolz auf ihre Störche. Nicht alle Dörfer in der Gegend konnten die prächtigen Vögel willkommen heißen, wenn sie nach ihrem Winteraufenthalt in Afrika zurückkehrten. Doch ein Dorf ohne Storchennest war im Grunde genommen kein richtiges Dorf. Ein gewisser Segen schien auf der Anwesenheit der Störche zu liegen. Sie versprachen Nachwuchs und ein friedliches Zusammenleben, denn mit den Störchen kamen das Frühjahr und der Sommer, und dank ihnen landeten die kleinen Menschenkinder sicher, wenn sie durch die Schornsteine fielen - so wie Frida am Donnerstag, 3. September 1908.
Frida kam als Kind der frommen jüdischen Familie Grünfeld zur Welt. Ihre Mutter Hani hatte bereits acht Kinder geboren und wusste, was sie erwartete, doch sie war inzwischen beinahe vierzig Jahre alt und ihr Körper allmählich erschöpft. Ständige Kopf- und Gliederschmerzen quälten sie seit längerer Zeit. Glücklicherweise war die Hebamme Anna Reskó zur Stelle und half ihr, wie sie es auch bei einigen von Hanis früheren Geburten getan hatte. Anna Reskó kam aus einer christlichen Familie im Ort, in der die Frauen seit Generationen als Hebammen tätig waren. Normalerweise trat man in die Fußspuren des Vaters oder der Mutter. So war Fridas Vater Móric [deutsch: Moritz] Schuster wie sein Vater.
Móric Grünfeld war bei Fridas Geburt wahrscheinlich nicht dabei gewesen. Es war bei den Männern nicht üblich. Stattdessen hielt er sich vermutlich in der Werkstatt auf, um sich die Zeit zu vertreiben, oder er war in die Synagoge gegangen, um eines seiner täglichen drei Gebete zu sprechen. In diesem Fall wird er Gott gebeten haben, das Kind gesund zur Welt kommen und einen Jungen werden zu lassen. Ein Mädchen konnte niemals einen Jungen in einer Kultur ersetzen, in der der Mann jeden Morgen Gott dankte, dass er nicht als Frau geboren worden war. Zudem hatten Hani und Móric im Jahr 1900 ihre beiden kleinen Söhne Henrich und Dávid Mór verloren, die lediglich drei und anderthalb Jahre alt wurden. Kleine Kinder waren anfällig für Epidemien, die damals immer wieder ausbrachen.
Würde es ein Junge werden, sollte das Kind an seinem achten Lebenstag Leopold Weisz präsentiert werden. Weisz war nicht nur für eines der beiden Wirtshäuser des Dorfes verantwortlich, er war auch der lokale Mohel - der Beschneider - und hatte die Brit Mila bei allen Söhnen von Hani und Móric durchgeführt.
Ein immer wiederkehrendes Gesprächsthema unter den Einwohnern von Lelesz war zu dieser Zeit der anhaltende Sprachkonflikt zwischen den Bürgern, deren Muttersprache Ungarisch war, und denen, die Slowakisch sprachen. Da das Dorf viele hundert Jahre ein Teil der Österreichisch-Ungarischen Doppelmonarchie gewesen war, wurden in Lelesz mehrere Sprachen gesprochen. Bei der Volkszählung 1910 gaben 99,7 Prozent der Bewohner Ungarisch als ihre Muttersprache an, aber in den Straßen und Wirtshäusern hörte man auch Slowakisch, Deutsch, Ruthenisch und Jiddisch. Der Sprachkonflikt schwelte seit Generationen, hatte sich aber 1907 nach dem berüchtigten Massaker von Cernová verschärft.
Unstimmigkeiten über die Einweihung einer neuen Kirche hatten in Cernová zu Tumulten geführt. Die örtliche Bevölkerung, die eine selbstständige Slowakei forderte, verlangte, dass der junge nationalistische Priester Andrej Hlinka, der selbst aus Cernová stammte, die Einweihungszeremonie vollziehen sollte. Aber Hlinka war bei seinem ungarischen Bischof Sándor Párvy in Ungnade gefallen. Nachdem Hlinka proslowakische Agitation betrieben hatte, war er als Priester suspendiert und zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt worden. Als die einheimische Bevölkerung verlangte, man solle mit der Einweihung der Kirche warten, bis Hlinka sich wieder auf freiem Fuß befand, griff der Bischof ein. Zwei Ungarisch sprechende Priester wurden geschickt, um die Einweihung der Kirche vorzunehmen - eine Provokation, die dazu führte, dass die königlich ungarische Gendarmerie fünfzehn Menschen erschoss und viele weitere verletzt wurden.
Das Ereignis erregte nationales und internationales Aufsehen. Viele Akteure, die die Selbstständigkeit forderten und für die Rechte von Minderheiten kämpften, versuchten, aus dem Massaker ideologisches Kapital zu schlagen. Andrej Hlinka gelang es sogar, eine Reduzierung seiner Gefängnisstrafe zu erreichen, er genoss die Sympathie seiner Mitmenschen.
In dieser politisch-gesellschaftlichen Situation wurde Frida in den letzten Atemzügen der Österreichisch-Ungarischen Doppelmonarchie geboren. Mehrere hundert Jahre der zentralen Steuerung aus Wien und Budapest wurden von wachsenden lokalen Kräften herausgefordert. Aber noch lag Frida geborgen in ihrer Wiege und wurde von Mutter und Vater, drei älteren Schwestern und zwei großen Brüdern geschaukelt - der älteste war beinahe zwanzig Jahre älter als sie. Fridas Eltern hätten durchaus ihre Großeltern und der älteste Bruder Salomon ihr Vater sein können. In den armen, kinderreichen Familien war so etwas normal. Mehrere Generationen lebten unter einem Dach, die älteren Geschwister mussten sich um die jüngeren kümmern und einen Teil der Aufgaben der Eltern übernehmen. Die knappen finanziellen Mittel und die beengten Wohnverhältnisse ließen die Aussicht auf ein anderes Leben kaum zu. Viele junge Menschen entschlossen sich daher zur Emigration.
Als Frida zwei Jahre alt war, verließ die ältere Schwester Mari die Familie und wanderte 1910 zusammen mit Szerén Herschkovics, einem Mädchen aus der Nachbarschaft, nach Amerika aus. Mari war siebzehn, Szerén sechzehn Jahre alt. Von Lelesz ging die Reise nach Antwerpen, dort gingen die jungen Frauen an Bord der MS Finland. Am Montag, den 25. Juli 1910 erreichten sie Ellis Island in New York. Wohlbehalten angekommen, konnten sie bei Hanis älterem Bruder, Onkel David Schwartz im Haus Nummer 575 am Broadway in Brooklyn wohnen.
Vier Jahre später, als Frida sechs Jahre alt war, wanderte auch ihr älterer Bruder Jozef aus. Als Neunzehnjähriger ging er in Bremen an Bord der George Washington. Er verließ sein Heimatland rechtzeitig und vermied so, als Soldat zum Ersten Weltkrieg eingezogen zu werden.
Als ihre ältere Schwester Mari die Familie verließ, war Frida nicht alt genug, um zu verstehen, was es hieß, wenn jemand aufbrach und nicht wiederkam. Nun begriff sie es. Sie hörte die Geschichten, wie Jozef zusammen mit Hunderten anderer Europäer, viele von ihnen arme Juden, an Bord eines Schiffes ging, das sie über den Atlantik zu einer neuen und offenen Zukunft in Amerika brachte. Es war dasselbe Meer, das zwei Jahre zuvor beim meistdiskutierten Schiffsuntergang dieser Zeit beinahe eintausendfünfhundert Menschenleben gefordert hatte. Die Titanic war der teuerste Luxusdampfer der damaligen Zeit. Angeblich war das Schiff unsinkbar, doch bereits auf seiner Jungfernfahrt 1912 kollidierte es mit einem Eisberg und sank wie ein Stein in das nachtschwarze Meer. Das Ereignis führte weltweit zu großen Schlagzeilen auf den Titelseiten der Zeitungen und jagte all denen, die davon träumten, in die USA auszuwandern, einen gehörigen Schrecken ein. Fridas sechs Jahre ältere Schwester Regina wäre ihrer Schwester Mari gern gefolgt und wollte sich mit ihr in New York treffen, nach dem Titanic-Unglück verwarf sie jedoch den Gedanken an eine Atlantiküberquerung.
Amerika spielte in der Geschichte der Familie Grünfeld eine wichtige Rolle. Nicht nur die beiden ältesten Kinder waren emigriert und hatten sich bei Onkel David in Brooklyn einquartiert. Auch die Eltern Hani und Móric Grünfeld hatten sich zwanzig Jahre zuvor an der Lower East Side niedergelassen, als sie erst ein Kind hatten, den erstgeborenen Sohn Salomon. Aus Gründen, die wir nicht kennen, entschieden sich Hani und Móric drei Jahren später, wieder nach Europa zurückzukehren. Vielleicht war das Leben in der neuen Welt zu hart, vielleicht vermissten sie auch ihre Heimat oder mussten aus irgendeinem anderen Grund zurück.
Hani und Móric Grünfeld waren nicht die Einzigen, die zurückkehrten. Dreißig Prozent aller Emigranten in die USA entschieden sich damals, nach wenigen Jahren zurückzukehren. Der amerikanische Traum ging bei Weitem nicht für alle in Erfüllung. Viele erlebten, dass sie nicht geschaffen waren für ein von Uhren, Vorgesetzten und gewerkschaftlichen Regeln gesteuertes Leben. Es gelang ihnen einfach nicht, sich in der modernen Welt zurechtzufinden. Allerding war die Heimkehr teuer. Die meisten hatten zunächst gespart, um nach Amerika zu kommen, nun mussten sie erneut sparen, um die Heimreise zu finanzieren. So etwas tat man nicht...
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