Schweitzer Fachinformationen
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Schuld war meine Mutter. Sie hatte mich in einen Lodenmantel und eine Pudelmütze gesteckt, obwohl die Sonne schien. Dennoch zitterte ich am ganzen Körper. »Ist dir kalt?«, fragte sie und kramte nach Handschuhen. Mir war nicht kalt. Im Gegenteil, ich schwitzte. Ich war fünfeinhalb Jahre alt und beim Anblick der Schwäne in ein Dilemma verfallen. Schuld daran war ebenfalls meine Mutter. Sie hatte mir am Abend das Märchen der Schwanenprinzessin vorgelesen. Und da waren sie: Lauter verzauberte Prinzessinnen schnatterten leibhaftig vor mir und sahen mich mit unglaublich traurigen Augen an. Verzweifelt starrte ich auf den kleinen Brotsack in meiner noch kleineren Hand. Wie sollte ich die alle satt bekommen?
Um alle vermeintlich verwunschenen Prinzessinnen im weißen Federkleid vor dem ebenso vermeintlichen Hungertod zu retten, brauchte ich einen Plan.
Die Tür der Bäckerei war mit verschiedenen bunten Plakaten zugeklebt. Die Bäckerin wollte es jedem Plakatierer recht machen und klebte eine Ankündigung über die nächste, sodass von jeder zumindest ein Stück zu sehen war. Es war immer genug Zeit, einen Blick auf die Veranstaltungen zu werfen, während sich meine Mutter gegen die schwere Türe drückte, die sich nach der anfänglichen Schwerarbeit plötzlich einfach und einem vertrauten Klingeln öffnete. Der süßliche Duft von frischem Brot wehte uns entgegen. Je nach Jahreszeit mischten sich Duftnoten frischer Früchte oder saisonaler Mehlspeisen dazu. Ich betrat das Geschäft immer mit geschlossenen Augen und versuchte zu erraten, was die Bäckerin heute in ihrem wechselnden Sortiment hatte. Heute roch es nach Herausgebackenem. Gierig sog ich den Duft ein und öffnete die Augen. Meine Mutter packte bereits einen Laib Roggenbrot und einen Striezel in ihren Korb und zahlte.
»Sag, verkaufst du bis zum Abend alles?« Mit prüfendem Blick musterte ich die Verkaufsvitrine der Bäckerei und deren unerschöpfliche Fülle an feilgebotenen Backwaren und Mehlspeisen. Neugierig betrachtete die Verkäuferin das hübsche Mädchen, dessen Nasenspitze kaum bis zu den Faschingskrapfen hochreichte.
»Warum fragst du?«, wollte die rundliche Frau mit den hochgesteckten Haaren wissen und rückte ihre Brille zurecht. In ihrem weißen Kittel war sie für mich die Göttin in Weiß am Schalthebel der Macht über Leben und Tod.
»Ich brauche altes Brot, um die Schwäne zu füttern«, weihte ich sie in meinen Plan ein. Durch meine wilden Gesten schwangen meine langen, geflochtenen Zöpfe aufgeregt auf und ab. »Meine Mutter isst immer auch das Harte und lässt nichts alt werden. Daher habe ich zu wenig für die vielen Vögel.« Meine Mutter versank vor Scham neben mir im Erdboden. »Brot-alt-werden-Lassen ist Lebensmittelverschwendung«, hatte sie mir eingetrichtert. Vor der Verkäuferin war ihr das allerdings mehr als peinlich.
»Verstehe«, die Bäckerin überlegte kurz. »Weißt du was, ich lege dir während der Woche Altbackenes auf die Seite und du hilfst mir Samstagmittag nach Ladenschluss beim Aufräumen des Geschäfts. Was meinst du?« Ich war hellauf begeistert. Damit war der Handel beschlossen, und wir baten meine Mutter mit fragendem Blick um ihre Zustimmung. Da sie merkte, dass ein Nein nicht mehr zur Debatte stand, stimmte sie mit immer noch rotem Gesicht zu. Mit einem stolzen Grinsen verließ ich das Geschäft. Das säuerliche Gesicht meiner Mutter übersah ich. Als ihr beim Nachhauseweg klar wurde, dass sie ab jetzt samstags zwei freie Stunden hatte, in denen sie in Ruhe das Mittagessen zubereiten konnte, löste sich dieses in Wohlgefallen auf. Und so spazierten wir, jede mit einem kleinen Erfolg in der Tasche, triumphierend die Straße entlang.
Eine Woche war mir bis jetzt immer kurz vorgekommen. Nicht so diese. Sie zog sich ins Unendliche. Sehnlichst wünschte ich mir den Moment herbei, mich gegen die schwere Tür der Bäckerei zu stemmen und den Boden kehren zu dürfen. Freitagabend konnte ich vor Aufregung kaum schlafen, Samstag wachte ich früher auf als sonst. Das hatte den Nachteil, dass sich die Stunden noch einmal ewig lange bis zehn Minuten vor 12 Uhr zogen. Als mir der Wecker endlich den Startschuss gab, zur Bäckerei zu laufen, wäre ich fast über meine eigenen Beine gefallen und dann noch einmal beinahe über die Stufen. Wie durch ein Wunder erreichte ich unfallfrei den Ort der unendlichen Brotreserven. Dort angekommen wischte und putzte ich völlig aufgedreht, als hinge mein Leben davon ab.
»Du bist echt fleißig«, wunderte sich die Bäckerin über meinen Einsatz. Natürlich wusste sie nichts von den verwunschenen Prinzessinnen, die ich zu retten gedachte. Großzügig steckte sie Brot und Semmeln, das sie bereits in schnabelgerechte Happen geschnitten hatte, in einen Papiersack und überreichte ihn mir feierlich. Glückselig schleppte ich meine Beute nach Hause und stellte sie neben der Wohnungstür ab.
»Geh Hände waschen«, meinte meine Mutter und schielte auf meinen Sack.
»Du nimmst da nichts raus«, unterband ich den Anflug der mütterlichen Idee, einige meiner Brotbröckerl in der Mittagssuppe zu versenken. Zappelig setzte ich mich zum Mittagstisch und hoffte, mein Vater würde schneller aufessen.
»Mama, gehen wir dann?«, fragte ich ungeduldig. Ich konnte es kaum erwarten, meinen nunmehr prall gefüllten Brotsack an die Alte Donau zu tragen und nach hungrigen Schwänen Ausschau zu halten. Über Wochen hinweg war das Füttern der Schwäne meine Lieblingsbeschäftigung. Es schien, als würden die Schwäne schon auf das kleine Mädchen im Lodenmantel warten. Denn immer wenn ich mich dem Ufer der Alten Donau näherte, kamen sie laut schnatternd angeschwommen. Mein kindliches Herz hüpfte vor Freude. Schließlich fühlte ich mich verantwortlich, für die Prinzessinnen zu sorgen, bis sie erlöst wurden.
»Du bekommst etwas, und du und du«, versuchte ich die Brothappen möglichst gerecht auf die Schwäne zu verteilen, die sich gierig darauf stürzten. Dennoch bevorzugte ich die hübschen zierlichen Schwäne, denn die Großen hatten meiner Meinung nach ohnehin genug zu fressen.
»Und du nicht«, zischte ich streng einen besonders aggressiven Schwan an, der das meiste Futter für sich beanspruchte und auf die kleineren Schwäne hinpeckte. Ich nannte den bösen Schwan Heinz und warf das Futter möglichst so ins Wasser, dass er am wenigsten davon erwischte. Heinz gefiel das gar nicht. Ich hingegen fand es amüsant, ihn zu ärgern. Eines Samstags wurde er so wütend, dass er aus dem Wasser watschelte und auf mich und meinen Brotsack losging.
»Krr-krr-krr«, fauchte er böse und schnappte mit seinem gelben Schnabel nach mir.
»Verschwinde«, schrie ich ihn an und versuchte mit meinem Gummistiefel nach ihm zu treten. Heinz ließ sich davon nicht beeindrucken, biss in den braunen Papiersack und riss an. Mit aller Kraft hielt ich meinen Schatz fest und stemmte mich dagegen. Meine Mutter, die eben noch ein paar Fotos von der Schwanenidylle geschossen hatte, stieß einen gellenden Schrei aus, packte mich am Kragen und zog mich vom wütenden Schwan weg. Dabei platzte mein Brotsack auf. Sichtlich zufrieden fraß sich Heinz an den verstreuten Brotstücken satt und sah mich dabei hämisch an. Ohnmächtig musste ich mit ansehen, wie der Lohn meiner ganzen mühseligen Arbeit just in dem Magen verschwand, den ich am wenigsten füttern wollte. Damit war es mit meiner Schwanenliebe jäh vorbei.
Ich stornierte meinen Deal mit der Bäckerin und wollte auch nicht mehr zum Schwänefüttern an die Donau. Übrig blieb die Erinnerung an diesen Moment, den meine Mutter in ihrem Schreck mehrfach mit ihrer Kamera festgehalten hatte.
Trotz des Reinfalls mit den Schwänen zogen mich Märchen nach wie vor magisch an. »Geschichten sind etwas für Träumer«, erklärte mir meine Mutter, die wie meistens keine Lust hatte, mir etwas vorzulesen, »und selbst die wachen irgendwann in der Realität auf.« Dabei deutete sie missmutig auf die Nachrichten, die gerade im Hauptabendprogramm liefen. Möglicherweise lehnte meine Mutter jegliche Schwärmerei deswegen ab, weil sie bei der Suche nach ihrem Märchenprinzen kläglich versagt hatte.
»Deine Mutter hat als kleines Mädchen davon geträumt, einen Arzt oder Rechtsanwalt zu heiraten und in eine schöne Villa mit Garten in einen noblen Bezirk zu ziehen«, verriet mir meine Großmutter. Geworden war es dann ein Versicherungsangestellter, nicht aus einem allzu großen Anfall an Romantik, sondern weil er sie geschwängert hatte. Mit einem Braten in der Röhre war das Rennen um einen besseren Ehemann gelaufen und alle Träume von Arzt, Anwalt und Villa platzten ebenso jäh, wie sie ausgemalt worden waren.
Mit der Eheschließung war es amtlich, das erträumte weiße Ross war ein leicht rostiger schwarzer Mercedes und das Märchenschloss eine kleine Gemeindewohnung im dritten Bezirk ohne Lift. Das Leben ließ meiner Mutter ohnehin nicht viel Platz für Schwärmerei. Sie musste sich um den Haushalt kümmern, Hemden bügeln, meinem Vater ein warmes Abendessen hinstellen, mich großziehen und sich zusätzlich um die kränkelnden Schwiegereltern kümmern. Jedenfalls nahm sie ihre Mehrfachbelastung gerne als Grund, um sich als die ärmste Ehefrau Wiens zu fühlen.
»Als Anwaltsgattin müsste ich all das nicht machen«, bemitleidete sie sich selbst und war damit genauso realitätsfremd wie die Prinzessinnen meiner Märchen.
»Na gib schon her«, seufzte meine Mutter, als ich wieder einmal mit meinem Buch vor ihr stand. Mein Vater war ein paar Tage auf Weiterbildung in Kärnten und der Zeitpunkt daher günstig. Die Stimme meiner Mutter ließ mich mit Rapunzel, Dornröschen und Aschenputtel in eine zauberhafte Welt...
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