Schweitzer Fachinformationen
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Montag, 28. September 2015
»Auf den ersten Blick scheinen Ihre Blutwerte in Ordnung zu sein, aber ich möchte Sie bitten, im Labor in der Hökergyden noch eine genauere Untersuchung machen zu lassen.« Torben Pedersen wandte den Blick von seinem Computerbildschirm ab und sah Dan Sommerdahl an, der auf der anderen Seite des Schreibtischs im Sprechzimmer des Arztes saß. »Ich möchte ganz sichergehen, dass Sie körperlich völlig gesund sind.«
Dan nickte. »Gut.« Nachdem er und Marianne sich vor drei Jahren definitiv getrennt hatten, wollte er nicht mehr bei seiner Exfrau in Behandlung bleiben und hatte sich auf gut Glück sofort einen anderen Arzt gesucht, tatsächlich war es das erste Mal, dass er ihn aufsuchte.
»Wie ich sehe, hatten Sie diese Symptome schon früher.«
»2006 hatte ich eine leichte Depression«, erwiderte Dan. »Stressbedingt. Ich habe ein Jahr lang Cipralex genommen.«
»Keine Gesprächstherapie?«
»Na ja, ich habe mit einem Psychiater gesprochen, wenn das Rezept erneuert werden musste. Ich weiß nicht, ob man das Therapie nennen kann.«
Torben Pedersen nickte. »Und diesmal? Fühlen Sie sich zurzeit wieder gestresst?«
Dan zuckte mit den Schultern. »Nein, eigentlich nicht. Ich bin Freiberufler, das heißt, ich kann das Tempo selbst bestimmen.«
»Selbstständig zu sein kann ja auch stressen.«
»Also, es ist nicht so, dass ich überarbeitet bin, wenn Sie das meinen. Eigentlich ist es in der letzten Zeit fast schon ein bisschen zu ruhig. Ich werde nicht gerade mit Aufträgen aus der Werbung überschüttet und musste ein paar Detektivjobs annehmen, die nicht besonders inspirierend waren.« Erneutes Achselzucken. »Aber sie haben mir zur Butter auf dem Brot verholfen.«
»Detektivjobs? Klingt spannend.« Torben Pedersen lehnte sich auf seinem Bürostuhl zurück.
»Überhaupt nicht. Ich habe einer Frau nachspioniert, deren Arbeitgeber überzeugt war, sie hätte sich zu Unrecht sehr lange krankschreiben lassen und eigentlich nur keine Lust zu arbeiten. Für einen anderen Kunden habe ich unglaublich viele Stunden damit verbracht, Videoaufzeichnungen aus Überwachungskameras auszuwerten, weil er wissen wollte, welcher seiner Angestellten im Lager Diebstähle beging. So etwas. Wirklich langweilig.«
»Hätten Sie diese Aufgaben vor einem halben Jahr auch schon langweilig gefunden?«
Dan sah aus dem Fenster, während er über die Frage nachdachte. »Vielleicht nicht ganz so langweilig«, räumte er ein.
»Okay«, sagte der Arzt, als ihm klar wurde, dass Dan das Thema nicht vertiefen wollte. »Klingt nicht so, als läge es diesmal an der Arbeit. Ist in Ihrem Privatleben etwas vorgefallen, das Sie gestresst haben könnte?«
»Meine Mutter hatte vor ein paar Wochen eine Hirnblutung und liegt im Krankenhaus. Morgen kommt sie ins Pflegeheim, dann müssen meine Schwester und ich ihr Haus ausräumen und verkaufen.«
»Ja, das ist zweifellos eine Belastung.«
»Ich habe ohnehin den Eindruck, von Krankheiten umgeben zu sein. Mein bester Freund hat vor anderthalb Jahren einen Rückfall bei seiner Leukämie erlitten.«
»Auch das ist ein heftiger Stressfaktor, Dan.«
»Schon, aber er ist inzwischen wieder gesund. Eine Knochenmarktransplantation hat ihm geholfen.«
»Gut.«
Alles andere, was mit Flemmings Krankheit zu tun hatte, erwähnte Dan nicht. Es war einfach zu kompliziert, es Außenstehenden zu erklären.
»Haben Sie Kinder?«
»Zwei. Einen dreißigjährigen Sohn und eine sechsundzwanzigjährige Tochter.«
»Sehen Sie sich oft?«
»Rasmus arbeitet zurzeit an einem Film in London. Aber wir skypen ab und zu.« Wieder blickte Dan aus dem Fenster auf den Platz, auf dem eine neue zweistöckige Fahrradparkstation aufragte und teilweise die Sicht auf den Bahnhof versperrte.
»Laura studiert in Kopenhagen. Früher habe ich sie ziemlich häufig gesehen, aber seit sie mit ihrem Freund zusammengezogen ist .« Er hielt inne.
»Und Ihre Exfrau? Haben Sie Kontakt zu ihr?«
»Manchmal.«
»Haben Sie eine Freundin?«
»Zurzeit nicht.« Dan blickte erneut auf den hochgelobten Fahrradschuppen, bis ihm bewusst wurde, dass es einige lange Sekunden still im Raum gewesen war. Er begegnete Torben Pedersens Blick. »Was ist?«
»Sie sind einsam, Dan.«
»Natürlich nicht«, entgegnete Dan gereizt. »Ich komme zu Ihnen und erzähle Ihnen, dass ich Schlafprobleme habe - und sofort glauben Sie, ich sei gestresst, deprimiert, einsam und alles Mögliche mehr.«
Der Arzt beugte sich vor. »Sie können nicht schlafen, obwohl Sie müde sind. Sie sind offensichtlich gereizt, und Sie sind selten mit Ihren Kindern zusammen. Sie leben in keiner stabilen Zweierbeziehung. Ihre Mutter und Ihr bester Freund haben oder hatten ernsthafte gesundheitliche Probleme. Sie finden Ihre Arbeit langweilig, obwohl sie Ihnen sonst Spaß macht. Das klingt unweigerlich so, als befänden Sie sich in der Gefahrenzone, Dan.«
Dans Gesicht verzog sich zu einer irritierten Grimasse. »Als ich damals eine Depression hatte, ist sie von Stress ausgelöst worden. Und ich habe ja gerade gesagt, dass ich nicht gestresst bin.«
»Man muss nicht unbedingt gestresst sein. Alles deutet darauf hin, dass Sie depressionsgefährdet sind, Ihre Reaktion ist deshalb auch nicht ungewöhnlich .«
»Mir fehlt nichts«, unterbrach Dan den Arzt. »Ich schlafe nachts schlecht und leide deshalb unter chronischem Schlafmangel. Das ist nicht unbedingt die beste Voraussetzung für ein abwechslungsreiches gesellschaftliches Leben und glänzende Laune, oder?«
»Ich glaube, Sie sind auf dem direkten Weg in eine Depression, Dan.« Als Dan nichts erwiderte, fuhr er fort: »Ich würde Sie gerne an einen Psychiater überweisen, damit Sie gemeinsam mit ihm herausfinden, was .«
»Diese Glückspillen werde ich nicht wieder nehmen«, fiel Dan ihm ins Wort.
Nun verzog der Arzt das Gesicht. »Der Ausdruck ist ziemlich unangemessen, Dan.«
»Einverstanden. Dann eben Antidepressiva. Ich will sie nicht.«
»Was wollen Sie dann?«
»Keine Ahnung. Können Sie mir nicht etwas verschreiben, damit ich schlafen kann?«
»Das könnte ich schon, nur .«
»Hauptsache, ich komme aus dieser Käseglocke, dann werde ich mich schon zusammenreißen und wieder anfangen zu joggen. Ich weiß, dass es sofort hilft, wenn ich mich bewege, aber ich habe einfach nicht die Energie dazu, wenn ich jeden Tag nur ein paar Stunden Schlaf bekomme.«
Der Arzt sah ihn an, nickte. »Ich kann Sie nicht zwingen, mit einem Psychiater zu reden«, erklärte er. »Ich verschreibe Ihnen für die nächsten zehn Tage Schlaftabletten. Dann kommen Sie wieder, damit wir uns unterhalten, wie es Ihnen geht, und um uns die Laborergebnisse anzusehen. Einverstanden?«
*
Dan besorgte sich die Tabletten in der Apotheke und kaufte auf dem Heimweg ein. Kaffee, Rotwein und ein Schawarma von dem Imbiss an der Ecke Hafenpromenade und Bagergade.
Er aß vor dem Fernseher und blieb, nachdem er aufgegessen hatte, noch eine Viertelstunde sitzen und kämpfte mit dem Schlaf, während er sich eine Diskussion beunruhigter Politiker über die katastrophale Flüchtlingssituation in Europa ansah. Dan meinte, sämtliche Argumente schon einmal gehört zu haben. Es war erst kurz vor sechs, aber er hatte das Gefühl, ins Bett gehen und schlafen zu können. Um zehn, dachte er und stand auf. Um zehn gehe ich ins Bett - nicht eine Sekunde früher. Wenn die Schlaftabletten ihm zu einem vernünftigen Schlafrhythmus verhelfen sollten, durfte er nicht schon am frühen Abend einnicken.
Entschlossen stellte er den Fernseher ab, blieb mit der Fernbedienung in der Hand stehen und ließ seinen Blick durchs Zimmer schweifen. Hier sieht's aus wie bei einem Teenager, dachte er. Pizzaschachteln, benutztes Geschirr, zerlesene Zeitungen, Stapel ungeöffneter Post, ein Haufen Wäsche. An der Wand lehnte ein Ib-Andersen-Plakat, in einem Rahmen ohne Glas. Es war kaputt gegangen, als der Rahmen im letzten Sommer von der Wand fiel, und er hatte noch immer kein neues Glas einsetzen lassen.
Eigentlich war Dan ein fast schon übertrieben ordentlicher Mensch. Er bezahlte seine Rechnungen pünktlich, ernährte sich vernünftig, trieb Sport, räumte hinter sich auf und war stolz darauf, immer frisch gebügelte Hemden im Schrank zu haben. Doch in den letzten Monaten war ihm alles entglitten. Wie hatte sich nur dieses Chaos entwickeln können, ohne dass es ihm aufgefallen war? Objektiv betrachtet bestätigte der Zustand der Wohnung die Theorie des Arztes, dass er auf eine neue Depression zusteuerte, das musste er zugeben. Und dann wurde ihm plötzlich noch etwas klar: Man sah genau, dass seit mehreren Wochen - vielleicht sogar seit mehreren Monaten - niemand mehr in seiner Wohnung zu Besuch gewesen war. Hatte Torben Pedersen recht? War er einsam?
Ein bisschen, ja. Ein wenig einsam war er tatsächlich. Dan setzte sich wieder aufs Sofa und goss sich noch ein Glas ein. Einundfünfzig Jahre alt und verdammt oft alleine, ging ihm durch den Kopf. Die Kinder lebten ihr Leben, und das war auch gut so. Kollegen hatte er schon lange nicht mehr, und die Menschen, mit denen er beruflich zu tun hatte, waren Kunden, keine Freunde. Vor allem nachdem er wegen seiner schwierigen finanziellen Verhältnisse den Platz in der Bürogemeinschaft in der Garverstræde aufgeben musste, gab es niemanden aus seinem professionellen Umfeld mehr, mit dem er regelmäßig Kontakt hatte. Und schon gar nicht außerhalb der Arbeitszeit.
Seit dem endgültigen Bruch mit Marianne hatte er einige kurze Affären gehabt, aber nichts hatte sich zu etwas...
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