Schweitzer Fachinformationen
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Meine ersten Entbindungen, die ich als selbstständige Berghebamme durchgeführt habe, fielen in den Winter. Das war nicht nur für mich unangenehm, sondern auch für die Mütter und ihre Kinder. Für mich hatte eine Wintergeburt den Nachteil, bei Schnee und Kälte und Sturm unterwegs sein zu müssen. Für die Mütter bedeutete es oft, in einem unzureichend geheizten Schlafzimmer entbinden zu müssen, und für Neugeborene war die Ankunft in einem kalten Raum geradezu ein Schock. Deshalb freute ich mich immer, wenn es allmählich auf das Frühjahr und dann auf den Sommer zuging.
Naturgemäß hielt diese Freude nicht lange an. Denn kaum war es September, da steuerten wir bereits wieder auf den Winter zu, der manchmal, ohne den Umweg über den Herbst zu nehmen, bei uns in den Bergen ganz plötzlich mit all seinen unangenehmen Begleiterscheinungen hereinbrach.
Aber was half es! Jedes Jahr musste man da durch, und auch wenn der Wechsel der Jahreszeiten seinen eigenen Reiz hatte, freute ich mich auf meinen Wegen zu einer Entbindung durch Eis und Schnee oder Kälte und Regen stets auf die ungleich angenehmeren Sommermonate. Doch ich konnte es mir nicht aussuchen, sondern musste es nehmen, wie es gerade kam. Es gibt Familien, da verteilen sich die Geburtstermine der Kinder übers ganze Jahr. Bei anderen dagegen kommen sie immer in der gleichen Jahreszeit, und bei manchen ist das eben der Winter. So war es auch bei den Windbichlers. Die Hanna hatte es offensichtlich darauf angelegt, ihre Kinder, allen Nachteilen zum Trotz, im Winter zur Welt zu bringen, denn mit schöner Regelmäßigkeit hielt der Schlitten vom Windbichler alle zwei Jahre ausgerechnet dann vor meinem Haus, wenn besonders viel Schnee lag oder wenn gerade ein Schneesturm wütete, also im Januar oder im Februar.
Es war nämlich so, dass ich in den ersten Jahren meiner Hebammentätigkeit noch keinen Telefonanschluss hatte. Für mich war das natürlich eine Kostenfrage, doch selbst wenn ich es mir damals hätte leisten können, wäre der Nutzen gering gewesen, denn in den Dörfern meines Sprengels verfügte kaum jemand über einen solchen Luxus. Die wenigen, die ein Telefon besaßen, konnte man an einer Hand aufzählen. Das waren der Posthalter, der Arzt, der Tierarzt und die Hotels. Sogar bei den Handwerkern war es nicht üblich, ganz zu schweigen von den Bauern auf den entlegenen Berghöfen, obwohl die eine solche Verbindung zur Außenwelt am notwendigsten gebraucht hätten.
Wenn sich dort also der Klapperstorch ansagte, blieb dem werdenden Vater nichts anderes übrig, als einen Knecht ins Dorf zu schicken oder, falls er keinen hatte, sich selbst auf den Kutschbock seines Pferdewagens oder -schlittens zu schwingen, um mich zu benachrichtigen. Manch einer benutzte auch sein Fahrrad, und ein ganz fortschrittlicher Bauer nannte sogar ein Moped sein Eigen. Allerdings waren die Zweiräder nur im Sommer zu gebrauchen, denn im Winter war damit kein Durchkommen. Und der begann bei uns früh im Jahr, denn meist lag ab Oktober schon reichlich Schnee, der sich oft bis in den April hielt. Mir persönlich war es ohnehin lieber, wenn ich mit der Kutsche oder dem Schlitten abgeholt wurde und mich nicht auf den Sozius eines Mopeds oder gar auf mein eigenes Fahrrad schwingen musste. Allerdings kam es auch vor, dass ich zu Fuß gehen musste, was mit meiner Hebammentasche, die ein anständiges Gewicht hatte, auf den meist steilen Straßen recht mühsam war.
In der ersten Zeit kam hinzu, dass ich mich in der Gegend noch nicht auskannte und manchmal einen Hof erst mühsam suchen musste, besonders in der Nacht. Es war damals nämlich in der Regel nicht üblich, sich vor der Entbindung untersuchen zu lassen, und so betrat man als Hebamme, wenn man dort nicht bereits zum wiederholten Mal gebraucht wurde, ein Haus am Tag der Geburt zum ersten Mal. Allerdings war es üblich, anschließend zehn Tage lang zur Wochenpflege bei Mutter und Kind zu erscheinen, doch zu diesem Zweck kam kein Bauer mit Wagen oder Schlitten vorgefahren. Da musste man sich zu Fuß mit schwerem Koffer selbst bei schlimmstem Schneegestöber nach oben durchkämpfen.
So erging es mir jedes Mal, wenn ich zu einer Entbindung zur Windbichler Hanna gerufen wurde. Bereits bei ihrem ersten Kind hatte ich mich die ganze Zeit durch kniehohen Schnee kämpfen müssen, und bei den folgenden dreien war es mir nicht besser ergangen.
Deshalb war ich höchst überrascht, als eines Tages, mitten im August, der Windbichler Sepp mit der Kutsche vor meiner Tür stand. Aufgeregt gab er mir zu verstehen, ich müsse sofort mitkommen, seine Frau liege in den Wehen.
"Das kann ja gar nicht sein", rief ich ungläubig aus. "Ihr kriegt eure Kinder doch immer im Winter, und bis zum Winter ist es noch lange hin."
Für Scherze sei jetzt keine Zeit, wies mich der Sepp mit todernstem Gesicht zurecht. "Wenn ich's dir sage, die Hanna hat Wehen."
"Aber, aber .", stotterte ich und dachte angestrengt nach. Die Geburt des jüngsten Sprosses lag höchstens sieben oder acht Monate zurück. Aus diesen Überlegungen heraus sagte ich: "Vielleicht irrt sich deine Bäuerin. Schwanger mag sie vielleicht sein, aber das, was sie für Wehen hält, ist sicher nur ein Bauchgrimmen."
"Das solltest du besser wissen, Nanni", entgegnete der Sepp und kratzte sich nachdenklich am Kopf. "Mein Weib hat mit dem Kinderkriegen genug Erfahrung, um eine quer sitzende Blähung von einer Wehe unterscheiden zu können."
"Hast Recht, Sepp, schauen wir uns das mal an."
Damit wuchtete ich zuerst meine Tasche neben dem Bauern auf den Kutschbock und dann mich selbst. In rasanter Fahrt ging es durchs Dorf und dann in gemächlicherem Tempo den Berg hinauf zu dem Anwesen, das den stolzen Namen Sonneckhof trug. Bei meinem Eintreffen lag die Bäuerin in ihrem Bett und stöhnte verhalten vor sich hin. Ich schlug die Bettdecke zurück, um ihren Bauch in Augenschein zu nehmen, doch der Leibesumfang war so gering, dass nicht einmal der geringste Verdacht aufkommen konnte, es liege eine Schwangerschaft vor, geschweige denn, dass die Frau kurz vor der Entbindung stehe. Das Abtasten des Bauches belehrte mich jedoch eines Besseren. Die Gebärmutter wies eine leichte Vergrößerung auf.
"Wann hast die letzte Regel gehabt?", wollte ich wissen, um einen Anhaltspunkt dafür zu bekommen, im wievielten Monat sich die Hanna befand.
"Nach der letzten Entbindung hab ich die Regel überhaupt nicht bekommen. Ich muss wieder aufgenommen haben, bevor die erste Blutung eingesetzt hat. Zu der Zeit hab ich ja noch gestillt, deshalb dachte ich, es kann nichts passieren."
"Ja, ja, das ist auch so ein Aberglaube, mit dem man mal gründlich aufräumen müsste", murmelte ich hörbar vor mich hin, während ich die Bäuerin genauer untersuchte.
"Aber bisher hat es doch immer geklappt", widersprach die Schwangere.
"Da hast du Glück gehabt, nichts als Glück", versuchte ich ihre Illusionen zu zerstören.
Wirklich hatte sich der Muttermund schon ein beträchtliches Stück geöffnet, und demnach waren es tatsächlich Wehen, was die Hanna verspürte, doch keineswegs handelte es sich um ein ausgetragenes Kind, sondern wir hatten es mit einer drohenden Fehlgeburt zu tun. Da half alles nichts - es musste zumindest ein Arzt her, denn für einen Transport ins Krankenhaus reichte, unter den gegebenen Verkehrsverhältnissen, die Zeit nicht mehr. Dem armen Sepp blieb also nichts anderes übrig, als noch einmal anzuspannen und ins Dorf zu fahren. Da die Zufahrt für das Auto des Doktors zu unwegsam war, brachte ihn der Bauer gleich in der Kutsche mit.
Noch während der Landarzt mit der Untersuchung der Windbichlerin beschäftigt war, setzten die Presswehen ein, und die Geburt war nicht mehr aufzuhalten. Man mag es kaum glauben, aber trotz der verschwindenden Größe des Babys verlief sie ebenso dramatisch und schmerzhaft wie eine normale Geburt.
Das winzige Etwas legte ich auf ein Segeltuch, das ich an meine Federwaage hängte. Nicht einmal sechshundert Gramm wog das nicht lebensfähige Kind, dessen Entwicklungsstand ich höchstens auf Mitte des sechsten Monats schätzte. Selbst heutzutage ist es trotz des rasanten Fortschritts auf dem Gebiet der Versorgung von Frühgeburten noch immer schwierig, ein solch winziges Kind durchzubringen. Damals aber bestand nicht die geringste Chance, und so spendete ich, während der Arzt auf die Nachgeburt wartete, dem verlöschenden Leben die Nottaufe. So wie man uns in der Hebammenlehranstalt den Taufritus beigebracht hatte, goss ich Weihwasser, das in jedem Bauernhaus neben der Schlafkammertür in einem Kessel hing, über das kleine Köpfchen, dabei die Formel sprechend: "Ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes." Einen Namen bekam der winzige Täufling nicht, denn er galt als Spätabgang und wurde nicht ins Geburtsregister eingetragen.
Meist erhielten solche Frühgeburten nicht einmal ein eigenes Grab, sondern wurden bei der nächsten im Dorf anfallenden Beerdigung einfach beigelegt. In diesem Fall jedoch bastelte der Vater für sein Kind eine kleine Holzkiste, legte es hinein und begrub es in der Familiengrabstätte. Bei...
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