Schweitzer Fachinformationen
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Sicher kann ich mein Leben nicht mit dem unserer Großmütter und Urgroßmütter vergleichen. Die hatten es ungleich schwerer, weil sie ohne fließendes Wasser auskommen und auf sämtliche Arbeitserleichterungen verzichten mussten, die uns der elektrische Strom bietet. Dennoch hatte ich schon als Kind das Gefühl - jedenfalls wenn ich mich mit meinen Geschwistern und Mitschülerinnen verglich -, dass ich es nicht unbedingt leicht hatte. Und wenn ich rückblickend meine Kindheit mit der meiner Kinder vergleiche, stelle ich fest, dass ich eine ausgesprochen schwere Kindheit und Jugend hatte. Das hat mich fürs Leben geprägt und mir die Kraft gegeben, zu tragen, was in meiner Ehe auf mich zukam.
Aber fangen wir bei meiner Geburt an. Mein Geburtsort ist Trier. Dort erblickte ich am 24. April 1960 im Marienkrankenhaus das Licht der Welt. Da ich das erste Kind eines bodenständigen Bauernpaares aus der Eifel war, glaubte die Leiterin der Säuglingsstation, eine alte Ordensschwester, meine Eltern trösten zu müssen: »Grämen Sie sich nicht zu sehr, dass es ein Mädchen geworden ist. Die Hauptsache ist doch, es ist gesund und kräftig.«
»Wieso sollten wir uns grämen?«, fragte meine Mutter befremdet. »Was Besseres konnte uns doch gar nicht passieren; jetzt haben wir zumindest schon mal das Kindermädchen.«
Diese Antwort wiederum brachte Schwester Meinrada, die sicher gut und gerne siebzig Jahre auf dem Buckel hatte, zum Staunen. Sie schluckte, ehe sie sich zu einer Antwort durchringen konnte: »Da bin ich aber froh, dass Sie das so sehen. Im Laufe meiner Jahre auf der Säuglingsstation habe ich so manche verzweifelte Szene erlebt, wenn ich einem Bauern nicht den erhofften Stammhalter in die Arme legen konnte.«
»Was heißt hier Stammhalter?«, konterte mein Vater, »Haben Sie nicht mitbekommen, dass vor einigen Jahren die Gleichberechtigung eingeführt worden ist? Seitdem gilt ein Mädchen genauso viel wie ein Junge.«
»Auf dem Papier ja, das habe ich sogar in meiner klösterlichen Abgeschiedenheit mitbekommen. Aber bis das wirklich in allen Köpfen drin ist, wird es mindestens noch eine Generation dauern.«
Wie recht sie behalten sollte, zeigte sich schon im Jahr darauf. Denn genau fünfzehn Monate nach meiner Geburt kam mein Bruder Gerald zur Welt. Da sollen meine Eltern entschieden mehr Freude gezeigt und mein Vater soll sogar einen Luftsprung ausgeführt haben.
Aber zurück zu meiner Winzigkeit. Neun Tage nach meiner Geburt holte mein Vater uns aus dem Krankenhaus ab. Er trug die Reisetasche und meine Mutter den Säugling, als sie zum Pferdemarkt gingen, um den Bus zu besteigen, der uns in die Eifel bringen sollte. In einem Dorf mit sechs-, siebenhundert Seelen, etwa fünfzehn Kilometer von Trier entfernt, hielt ich Einzug in eine bäuerliche Großfamilie. Außer meinen Eltern gab es zu der Zeit auf dem kleinen Bauernhof noch Vaters Mutter Maria und seinen Onkel Michel, einen Bruder seines verstorbenen Vaters. Auch lebte noch eine Schwester meines Vaters im Haus, die Tante Theresia, die von allen nur Resi gerufen wurde.
Da der Michel von klein auf bucklig war, hatte er weder die Statur noch die Kraft, richtig in der Landwirtschaft mitzuarbeiten. Stattdessen muss er sehr geschickte Hände gehabt haben. Deshalb hatte man ihn für einige Zeit nach Trier zu einem Uhrmacher in die Lehre geschickt. Ich erinnere mich noch, dass er davon lebte, dass er zu Hause die Uhren reparierte, die ihm die Bauern von nah und fern brachten. Überall in seinem Zimmer, das er Werkstatt nannte, standen und lagen große und kleine Uhren herum. Auch erinnere ich mich, dass er im Jahre 1966 starb, einige Wochen bevor ich in die Schule kam.
Wie bereits erwähnt, wurde ein gutes Jahr nach mir mein Bruder Gerald geboren, und zweieinhalb Jahre nach ihm kam meine Schwester Marita an. Das Haus wurde also voll und voller. Immerhin gab es 1964 in dieser Hinsicht ein wenig Erleichterung. Denn bei meiner Tante Resi, die immer ein schwächliches Kind gewesen war, wurde eine Lungenkrankheit festgestellt, die einen längeren Sanatoriumsaufenthalt nötig machte. Sie kam in die Pfalz, nach Annweiler am Trifels.
Bevor Tante Resi nach Annweiler kam, hatte sie bei uns, da sie für die meisten Arbeiten nicht stark genug war, die Rolle des Kindermädchens übernommen. Nachdem sie aber aus dem Haus war, musste ich diesen Part übernehmen, wie meine Mutter das gleich nach meiner Geburt prophezeit hatte. Obwohl ich selbst erst vier war, musste ich auf meine kleineren Geschwister, mittlerweile drei und ein Jahr alt, aufpassen und wurde immer zur Verantwortung gezogen, wenn sie etwas angestellt hatten.
Mein jüngster Bruder ist zu Hause auf die Welt gekommen, warum, weiß ich nicht. Wir Kinder wussten gar nicht, dass die Mutter ein Baby erwartete. Damals wurde über so etwas noch nicht gesprochen, zumindest nicht in unserem Haus. Dabei hätte man mit mir, einer Siebenjährigen, getrost darüber reden können, ich hätte das alles verstanden. Da ich also keine Ahnung hatte, wachte ich eines Nachts sehr überrascht auf, als ich Babygeschrei vernahm. Verwundert fragte ich mich: Wo kommt denn das Kind her? Dieser Sache musste ich nachgehen. Im Dunkeln stand ich auf, tastete mich bis zur Tür vor und trat auf den erleuchteten Hausflur. Dort lief ich meinem Vater in die Arme. Verwundert fragte er: »Nanu, Lena, was tappst du denn mitten in der Nacht im Haus herum? Ich denke, du schläfst längst.«
»Ich habe auch geschlafen. Aber dann bin ich von Babygeschrei wach geworden.«
»Soso«, lächelte er verschmitzt. »Na, dann komm mal mit.«
Er führte mich in das Elternschlafzimmer, wo die Mutter mit geschlossenen Augen in ihrem Bett lag. Das nächste, das mir ins Auge fiel, war ein wunderschöner großer Korbwagen, der neben dem Bett stand, mit einem blauen Batisthimmel darüber. In dem Korb deutete der Vater auf ein winziges Etwas, das zwischen den Kissen schlief, und erklärte: »Du hast einen kleinen Bruder bekommen.«
In dem Moment öffnete die Mutter matt die Augen und lächelte mir zu mit den Worten: »Das ist Horst.«
Als ich wieder wohlig eingekuschelt in meinem Bett lag, konnte ich lange nicht einschlafen. Zu viel Fragen geisterten mir durch den Kopf: Wo kommen die kleinen Kinder her? Und wie kommt so ein winziges Würmchen dazu, ausgerechnet mitten in der Nacht bei uns einzutreffen? Und wo kommt so plötzlich - und genau zur rechten Zeit - dieser wundervolle Babykorb her?
Ohne dass ich Antworten auf meine Fragen gefunden hätte, fielen mir dann doch die Augen zu, und am nächsten Morgen dachte ich, ich hätte das alles bloß geträumt. Als ich aber blinzelnd in den Tag schaute, stand Oma Martha, die Mutter meiner Mutter, an meinem Bett. »Wo kommst du denn so plötzlich her?«, fragte ich verwundert. »Ja, weißt du, deine Mama ist krank, und heute Nacht hat sie ein Baby gekriegt. Deshalb muss ich mich jetzt um alles kümmern.«
Das leuchtete mir ein. Aber dass das Baby ausgerechnet zu einer Zeit kommen musste, da die Mama krank war! Es war ein Glück für die ganze Familie, dass wir jetzt Oma Martha hatten, sonst wäre bei uns alles drunter und drüber gegangen. Bei uns lebte zwar ständig Oma Maria im Haus, aber sie war kränklich und wäre der Aufgabe, die Mutter zu vertreten, nicht gewachsen gewesen. Oma Martha war viel tatkräftiger als Oma Maria. Immerhin war sie dreizehn Jahre jünger und hatte ihren Mann nicht durch Kriegsfolgen verloren.
Nachdem Martha meinem Vater fleißig im Stall geholfen hatte, sorgte sie dafür, dass ich ordentlich frühstückte. Sie packte mir mein Pausenbrot ein und schickte mich rechtzeitig aus dem Haus, so dass ich pünktlich zur Schule kam. Dort verkündete ich voller Stolz: »Wir haben heute Nacht ein Brüderchen gekriegt.«
Auf die Fragen, die nach dieser Eröffnung auf mich einstürmten - nach Gewicht, Größe, Haar- und Augenfarbe -, konnte ich keine Antwort geben. »Horst heißt er!« Das war das Einzige, was ich dazu sagen konnte. Ehrlich gesagt hatte ich auch niemanden danach gefragt, weil diese Details für mich unwichtig waren. Auf dem Heimweg machte ich mir aber doch Gedanken darüber, woher die kleinen Kinder kommen. Deshalb bestürmte ich meine Mutter gleich nach meiner Heimkehr mit entsprechenden Fragen.
»Das erfährst du noch früh genug«, war ihre enttäuschende Antwort. Die Oma wagte ich aber auch nicht zu fragen, um nicht noch einmal so abgespeist zu werden. Ich erfuhr es dann wirklich noch früh genug, nämlich in der Schule. Im Jahr darauf hatten wir nämlich bereits Sexualkundeunterricht.
Nachdem Oma Martha zwei Wochen bei uns verbracht hatte, reiste sie wieder ab. Die Mutter hatte sich, Gottlob, wieder so weit erholt, dass sie ihre Arbeiten selbst verrichten konnte. Ich mit meinen sieben Jahren musste ihr allerdings mehr und mehr zur Hand gehen. Vor allem war es meine Aufgabe, mich nun zusätzlich mit dem kleinen Bruder zu befassen, wenn er nicht gerade schlief. Das war alles so alltäglich und selbstverständlich, dass ich mich an Einzelheiten nicht mehr erinnere.
Ein Erlebnis ist mir jedoch noch lebhaft in Erinnerung. Horst war bestimmt noch kein Jahr alt,...
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