Schweitzer Fachinformationen
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Ich war, was man heute eine Spätberufene nennen würde, denn ich machte meine Hebammenausbildung erst, als ich bereits verheiratet und Mutter zweier Kinder war. Vorher schien dieser Lebenstraum in unerreichbarer Ferne zu liegen. Mädchen erlernten damals keinen Beruf, schon gar nicht die Töchter von Bergbauern. Sie arbeiteten im elterlichen Haushalt, halfen in der Landwirtschaft oder verdingten sich als Mägde, bis sie einen braven Mann fanden.
Aber das Schicksal war mir gewogen, und es wies mir einen Weg, wie sich mein sehnlichster Wunsch doch noch erfüllen konnte. Und so trat ich eines Tages, erwartungsvoll und bang zugleich, meine erste Stelle an.
Der Sprengel, in den es mich auf eigenen Wunsch verschlagen hatte, lag mitten in den Salzburger Alpen, in einem engen Nord-Süd-Tal. Drei Dörfer waren es, die ich versorgen sollte, zwischen neun- und elfhundert Metern hoch gelegen und zu beiden Seiten von steil aufragenden Zweitausendern flankiert. Ich war in diesen Bergen aufgewachsen, in einem Nachbartal, und ich hatte nie etwas anderes gewollt, als hier in diesen abgeschiedenen ländlichen Gebieten als Hebamme zu arbeiten, mich um Menschen zu kümmern, deren Leben und Probleme mir vertraut waren, weil ich dazugehörte.
Natürlich hatte ich gut gemeinte Warnungen erhalten, wie viel anstrengender die Tätigkeit einer Berghebamme sei als die der Kolleginnen in den Krankenhäusern, doch ich ließ mich nie beirren. Zum Glück. Natürlich kostete es, besonders im Winter, bisweilen Überwindung, wenn ich des Nachts weite und beschwerliche Wege zurücklegen musste, bis ich bei werdenden Müttern auf entlegenen Höfen ankam. Zur Entbindung wurde ich zwar meist von den Bauern mit irgendeinem Gefährt abgeholt, doch an den anschließenden zehn Tagen der Wochenpflege musste ich schauen, wie ich zu den Einödhöfen kam - zu Fuß natürlich, egal ob es regnete, stürmte oder schneite oder ob die Sonne unbarmherzig auf mich niederbrannte.
Doch die langen Wege stellten nicht nur für mich eine gewisse Mühsal dar, sondern konnten bei Komplikationen zum ernsthaften Problem werden. Dann musste der Bauer erneut ins Dorf, um den Sprengelarzt zu rufen, denn Telefone gab es auf den meisten Höfen lange Zeit keine. Wie oft habe ich gebetet, der gute alte Doktor möge bitte rechtzeitig kommen. Noch schwieriger war es, wenn eine Einlieferung ins Krankenhaus nötig wurde und alle ungeduldig auf den Rettungswagen warteten, und oftmals wurde es ein Wettrennen mit der Zeit. Auch etwas anderes gab mir sehr bald zu denken: Die hygienischen Verhältnisse in den Bauernhäusern ließen sehr zu wünschen übrig, und kaum besser sah es in den Arbeitersiedlungen aus, die mittlerweile in den lang gestreckten Dörfern entstanden waren. Da musste ich von dem Standard, der mir auf der Hebammenschule als unerlässlich eingeimpft worden war, gewaltige Abstriche machen.
Immerhin brachten mich diese Unzulänglichkeiten auf eine glänzende Idee: Ich beschloss, in unserem nicht voll belegten Altersheim ein Entbindungszimmer einschließlich Wochenstation einzurichten. Wenn die Frauen diese Möglichkeit anfangs auch nur zögernd annahmen, so sprachen sich die Vorteile doch bald herum. Und jede, die einmal dort entbunden hatte, kam beim nächsten Mal wieder. Diese meist abgearbeiteten Mütter genossen es regelrecht, sich zehn Tage mal rund um die Uhr versorgen und verwöhnen zu lassen. Einen solchen Luxus hätten sie zu Hause niemals gehabt. Da sprangen die bereits vorhandenen Kinder herum, da waren der Ehemann oder sonstige Familienangehörige, die Auskünfte, Entscheidungen oder gar irgendwelche Hilfeleistungen forderten. Ich habe schon Wöchnerinnen einen Tag nach der Entbindung bei der Stallarbeit angetroffen.
Eine der ersten Frauen, die zur Entbindung ins Altersheim kam, war die Hochmoser Frieda. Sie stammte zwar von einem Bauernhof, lebte aber mit ihrem Mann Albert, einem Postangestellten, in einer bescheidenen Dienstwohnung unweit des Bahnhofs. Es war ein ziemlich kalter Tag Ende Februar, und es schneite still vor sich hin, als ich vom Altersheim den Anruf bekam, die Frieda habe sich eingefunden, wolle bei mir entbinden und es sei bald so weit. Ich hatte die junge Frau vorher noch nie richtig zu Gesicht bekommen - auch das war damals üblich so.
Bei meiner Ankunft erzählte sie mir, dass dies ihr erstes Kind sei und wie sehr sie und ihr Mann sich freuten. Die Entscheidung, wo sie entbinden wolle, habe sie sich nicht leicht gemacht. Immer wieder habe sie das Für und das Wider gegeneinander abgewogen. Daheim sei daheim, habe sie sich gesagt. Da kenne sie sich aus. Da sei ihr alles vertraut. Aber andererseits: Wer würde sie und das Neugeborene in den Tagen des Wochenbetts pflegen? Sollte sie ihre Mutter kommen lassen? Oder ihre Schwester? Aber sowohl die eine als auch die andere würde nur ihre Nase überall reinstecken. Das wolle sie dann doch nicht. Also habe sie sich für meine kleine Wochenstation im Altersheim entschieden. Nur dass ihr Mann nicht dabei sein könne, das fände sie jammerschade. Der bekäme jetzt von der ganzen Entbindung nichts mit. Wo er sich doch so auf das Kind freue und es gar nicht erwarten könne.
Eine Wehe unterbrach ihren Redefluss. Dann ging es weiter: Andererseits habe sie sich gedacht, dass zu Hause nicht nur alles recht beengt, sondern auch primitiv sei. Sicher, es gebe schon fließendes Wasser, aber kein warmes. Das brauche man doch dringend bei einer Entbindung! Und die ganze Wäsche, die bei einer Entbindung anfalle! Ganz zu schweigen von der vielen Kindswasch anschließend! Das müsste ja alles auf dem Küchenherd gekocht werden. Dann sei sie auch noch zu waschen und zu schwenken. Und wo sollte man das alles trocknen, jetzt im Winter? Nein, das habe sie sich und den anderen nicht zumuten wollen. Da sei es doch gescheiter, sich im Altersheim bequem ins Bett zu legen. Das alles und noch mehr erzählte die Frieda, während wir darauf warteten, dass sich der Muttermund weit genug öffnete, damit das sehnlich erwartete Kind endlich ans Licht der Welt kam.
»Es ist mir ganz gleich, was es wird«, versicherte sie mir. »Hauptsache gesund.«
Nach einer Weile fügte sie hinzu: »Schön wär's allerdings schon, wenn als Erstes ein Bub käm. Den wünscht sich der Albert so sehr, damit er mit ihm all das unternehmen kann, was er in seiner Jugend hat entbehren müssen. Mit einem Buben würd der Albert überglücklich sein.«
»Na, dann wollen wir mal schauen, was sich machen lässt«, plapperte ich optimistisch vor mich hin, als ob ich da irgendeinen Einfluss hätte. »Wichtig ist jetzt, dass du immer tief durchatmest, damit dein Kind genug Sauerstoff bekommt. Es hat die richtige Lage und gesunde Herztöne, und es liegt jetzt viel an dir, damit das auch so bleibt.«
Sie atmete brav, und der Minutenzeiger wanderte träge von Strichlein zu Strichlein.
»Ist auch alles normal?«, fragte die Frieda zwischendurch beunruhigt, weil sich nichts tat. »Es dauert schon arg lang.«
»Beim ersten Kind ist das halt so. Das ist ganz normal, und es besteht kein Grund zur Beunruhigung. Schau, der Muttermund, der bislang fest verschlossen war, muss sich jetzt immerhin so weit öffnen, damit das Kopferl durchkann.«
Endlich, endlich kam das Kind! Gesund und aus Leibeskräften schreiend. Und es war sogar der erhoffte Stammhalter! Selten habe ich eine glücklichere Mutter gesehen als die Frieda. Sie drückte den winzigen nackten Körper an sich, streichelte den Kleinen zärtlich, küsste seine Stirn und die runden Wangen, ja sogar den rosigen Po. Sie wusste gar nicht, auf welche Weise sie ihrem Glücksgefühl noch Ausdruck verleihen sollte. Auf einmal aber wurde sie ernst: »Ach, der Albert! Jetzt hat er diesen wundervollen Moment verpasst. Was wird der für eine Freud haben, wenn er erfährt, dass es ein Bub ist!«
»Ja, das kann ich mir vorstellen. Ich hab schon manch einen Vater erlebt, der vor lauter Freud einen Luftsprung gemacht hat.«
»Den macht der Albert auch, darauf kannst dich verlassen.«
»Na, das wirst ja sehen, wenn er dich morgen besucht. Nur schad, dass ich wahrscheinlich nicht dabei sein kann.«
»Wo denkst hin! So lang will ich den Albert nicht ohne Nachricht lassen. Die Neuigkeit muss er heut noch erfahren.«
»Und wie stellst dir das vor? Telefon habt ihr ja keines, und Brieftauben hab ich keine bei mir.«
Sie lachte über meinen Scherz, um dann gleich in vollem Ernst fortzufahren: »Ich tät dich halt schön bitten, dass du auf dem Heimweg bei ihm vorbeischaust.«
»Das wär aber ein schöner Umweg, den ich da machen müsst. Und das bei Nacht und am Bahnhof vorbei, wo es mir eh nicht ganz geheuer ist.«
»Ach geh, Nanni, so furchtsam brauchst nicht sein. Wer sollt dir da schon was tun? Den kleinen Umweg kannst für mich wirklich machen.«
Kleiner Umweg! Die Frieda hatte Nerven. In der Nacht, wenn man zu Fuß ist und über fünfzehn Zentimeter Neuschnee liegen und man eine...
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