Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Wassili Grossmans weltbekannter Roman Leben und Schicksal beginnt mit der Anfahrt zu einem deutschen Todeslager an einem verhangenen Herbstmorgen. »Aus dem Nebel tauchte der Lagerzaun auf - Stacheldrahtreihen, die zwischen Pfosten aus Eisenbeton gezogen waren. Baracken bildeten breite, gerade Straßen. In dieser Einförmigkeit kam die ganze Unmenschlichkeit des riesigen Lagers zum Ausdruck.«1 In das ungenannte Lager unweit von Berlin (vermutlich Sachsenhausen), von dem es heißt, es sei vor dem Krieg für politische Straftäter gebaut worden, wird im September 1942 der russische Berufsrevolutionär Michail Mostowskoi eingeliefert. Über den Altbolschewiken Mostowskoi erfahren Leser knapp, dass er Wochen zuvor gemeinsam mit der Feldärztin Sofja Lewinton am Stadtrand von Stalingrad gefangen genommen worden sei.
Über viele Jahre lasen die Menschen im Westen Leben und Schicksal als ein in sich geschlossenes Werk und fragten nicht, warum Grossman Mostowskoi und viele andere Protagonisten gleichsam als bekannt voraussetzt und warum seine Schilderung der Schlacht von Stalingrad, von der das Buch in seinem Kern handelt, erst nach dem mehrwöchigen Flächenbombardement der Deutschen und dem anschließenden Sturm auf die Stadt im September 1942 einsetzt. Die Erklärung hierfür bietet das vorliegende Buch. Stalingrad ist der erste Band einer epischen Schilderung dieser Schlacht, die Grossman von Anfang an in zwei Teile gliedern wollte. Der erste Band, der den Krieg seit dem Tag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 schildert, macht die Leser mit den Familien Schaposchnikow und Strum vertraut, deren verschlungene Lebensgeschichten sich dann weiter durch den Folgeband ziehen. Dank der vorzüglichen Übersetzungsarbeit von Christiane Körner, Maria Rajer und Andreas Weihe schließen sich die Narrativstränge beider Bände zu einem beinahe nahtlosen Gefüge und eröffnen einen neuen Blick auf Grossmans große Darstellung von Stalingrad.
Auf Russisch erschien Grossmans erster Band stark zensiert und unter anderem Titel im Jahr 1952, ein Jahr vor Stalins Tod. Vier Jahre später folgte eine von fast allen Nennungen Stalins getilgte Neuauflage; diese lag auch der 1958 in der DDR erschienenen Übersetzung zugrunde, die vier Auflagen durchlief.2 Dass sich Grossmans breiteres Ouvre westlichen Lesern erst mit siebzig Jahren Verspätung erschließt, liegt an den noch fortwirkenden Schablonen aus der Zeit des Kalten Krieges, wonach allein dissidentische Werke als große Literatur zählen durften und jedes zu Lebzeiten Stalins publizierte Werk sich selbst diskreditierte. Obwohl Grossman - vergeblich - um eine sowjetische Veröffentlichung von Leben und Schicksal rang, erkoren westliche Kritiker seinen zweiten Romanteil zum alleinigen klandestinen Meisterwerk. In den dramatischen Umständen, unter denen eine Ausfertigung des Manuskripts vom KGB beschlagnahmt wurde und eine andere ihren heimlichen Weg in den Westen fand, sahen sie sich bestätigt.
Grossman wird häufig als ein Mensch mit zwei Gesichtern beschrieben: der für Stalinpreise nominierte jüngere Autor einerseits und der verbitterte Schriftsteller der Nachkriegszeit andererseits, dessen Werke vielfach in der Schublade blieben. Einige Kritiker stilisieren Grossman zu einem lebenslangen Regimekritiker und glauben schon in seinen frühen Veröffentlichungen »westlich« häretisches Gedankengut zu erkennen.3 Eine umgekehrte Position nahm Alexander Solschenizyn ein. Aus seinem Vermonter Exil geißelte er den veröffentlichten Teil von Grossmans Dilogie als rückgratloses Auftragswerk und mokierte sich besonders über den Altbolschewiken Mostowskoi als einen »hochtrabenden Schwätzer«.4 Dass sowjetische Menschen während der Schlacht von Stalingrad kommunistischen Idealen anhängen konnten, erschien Solschenizyn unvorstellbar.
»Westlich« und »sowjetisch« taugen als Gegensatzpaar nicht für ein tieferes Verständnis von Grossmans Werk. Zeit seines Lebens verfocht Grossman einen humanistischen Glauben, in dem Traditionen des russischen Realismus des 19. Jahrhunderts mit dem Pathos der sowjetischen Revolution und westlichen Einflüssen verschlungen waren. Wiederholt stellte er die gleichen Fragen, auch wenn seine Antworten mit der Zeit schärfer ausfielen. Die Fragen galten dem menschlichen Freiheitskampf gegen Unterdrückungssysteme, der Beziehung zwischen Individuum und Staatsmacht, zwischen Leben und Schicksal. Die beherrschende Erfahrung im Leben Grossmans und im Leben der sowjetischen Gesellschaft - nach Grossmans Überzeugung im Leben der gesamten Menschheit - war der Zweite Weltkrieg. »[.] wir, die Menschen aus der Epoche des Faschismus«, schrieb er in einer Erzählung aus dem Jahr 1955. Das war zehn Jahre nach Kriegsende und während Grossmans Arbeit am zweiten Band der Stalingrad-Dilogie.5 Die Lektüre von Stalingrad offenbart nicht nur die Geschlossenheit von Grossmans Gesamtwerk. Sie unterstreicht auch, wie stark der von Deutschland entfesselte Krieg gegen die Sowjetunion Grossman als Menschen und Schriftsteller prägte.
Nur Tage nach dem deutschen Überfall meldete sich der fünfunddreißigjährige Grossman zum Einsatz in der Roten Armee. Er trug eine dicke Brille, war tuberkulös und hatte vor dem Krieg noch nie eine Waffe getragen, bestand aber darauf, dass sein Platz an der Front sei. Grossmans Antrag wurde zurückgestellt, doch fand er ebenso wie Hunderte andere sowjetische Schriftsteller Verwendung als Kriegsberichterstatter. Anfang August erlebte Grossman als Korrespondent der Militärzeitung Krasnaja swesda (Roter Stern) seinen ersten Kriegseinsatz. Während seines Aufenthalts im weißrussischen Gomel wurde die Stadt aus der Luft total zerstört. In seinem Tagebuch brachte Grossman die lebensauslöschende Gewalt des Krieges in einer bewegenden Zeile zum Ausdruck: »In den Augen einer verwundeten Kuh spiegelt sich das Bild des brennenden Gomel.«6 Grossman begleitete die Rote Armee bei ihren Niederlagen und Rückzügen im Sommer und Herbst 1941, im Jahr darauf war er bei den Truppen an der Südfront und erlebte fast die ganze Schlacht von Stalingrad; er berichtete über die Schlacht von Kursk im Sommer 1943 und nahm an der darauf folgenden Befreiung der Ukraine teil. Gemeinsam mit der vorrückenden Roten Armee zog Grossman durch Polen und überschritt die Grenze nach Deutschland. Beim Sturm auf Berlin wurde er auf eigenen Wunsch hin der 8. Gardearmee zugeteilt, die er als 62. Armee aus Stalingrad kannte.
Keiner seiner Kriegseinsätze prägte Grossman mehr als die Schlacht von Stalingrad. Im September 1942 wurde der Schriftsteller in die belagerte Stadt entsandt, um die Schlacht zu dokumentieren, die nach Ansicht vieler das Schicksal der Sowjetunion entscheiden würde. Grossman blieb bis Anfang Januar 1943 in Stalingrad, er war der am längsten dienende Moskauer Korrespondent in der Frontstadt. Seine Berichte machten ihn über Nacht berühmt. Sie schilderten das Schlachtgeschehen aus der Sicht einfacher Soldaten, mit denen er lange Gespräche führte, bevor er seine Reportagen verfasste. Soldaten erkannten sich in seiner Darstellung wieder. Ein Veteran erinnert sich, dass seine bei Moskau stationierte Kompanie trotz der enormen Anspannung und Erschöpfung die Kämpfe bei Stalingrad in den Zeitungen aufmerksam verfolgte. Da nur wenige Exemplare des Roten Sterns zur Verfügung standen, wurden sie der versammelten Truppe auszugsweise vorgelesen. »Es wurde abgestimmt, welche Berichte wir hören wollten. Beinahe alle einigten sich auf Wassili Grossman.«7 Der Rote Stern, schrieb Chefredakteur Ortenberg rückblickend, verdanke seine Beliebtheit bei den Soldaten in großem Maße den lebhaften und realitätsnahen Reportagen Grossmans, und von allen seinen Kriegsberichten, fügte er an, machten die Reportagen aus Stalingrad bei den soldatischen Lesern den stärksten Eindruck.8
Das bestimmende Thema in diesen Reportagen war der Geist des sowjetischen Volkskriegs. Dieser Geist nährte sich aus der moralischen Stärke gewöhnlicher Menschen, die sich im Krieg zusammenschlossen und bis zur Selbstopferung kämpften, um den deutschen Vormarsch zu stoppen. Die von ihm oftmals namentlich geschilderten Einheiten und Soldaten wurden weithin bekannt. Grossmans eigentliches Bestreben jedoch galt den zigtausend namenlosen Menschen, die die Last des Krieges willentlich trugen, im Bewusstsein, »für die gerechte Sache« zu handeln.9
Grossmans Erzählungen gingen durch die Welt. Westliche Korrespondenten, die während der Kampfhandlungen nicht nach Stalingrad reisen durften, zitierten sie in ihren eigenen Berichten, die von einer Weltöffentlichkeit atemlos rezipiert wurden. Beobachter weltweit erblickten im Kampf um Stalingrad das entscheidende Ereignis des Zweiten Weltkriegs. »Schicksalsreichste Schlacht des Krieges«, titulierten die Dresdner Nachrichten Anfang August 1942, als die deutschen Soldaten ihren Sturmangriff auf die Stadt erst vorbereiteten. Fast dieselben Worte benutzte im September der britische Daily Telegraph. In Berlin las Joseph Goebbels aufmerksam die Zeitungen der Feinde Deutschlands. Die Schlacht von Stalingrad,...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.