1. KAPITEL
Juni 1841, Centerville, Delaware
Wirf mit elf Jahren einen Stuhl, und du wirst dein Leben lang eine Außenseiterin sein.
Ursula fuhr mit einem Finger über die Kante des Konsolentisches aus vergoldetem Holz in der Halle der Truitts - sie war allein. Gelächter und Gesprächsfetzen der ausgelassenen Gesellschaft, die sich im angrenzenden Salon vergnügte, wehten durch den leeren Raum zu ihr herüber, begleitet von Musik.
Ihre Anwesenheit bei der Soiree war eine reine Pflichtübung - demütigend, aber zumindest genoss sie als einziges Kind eines Bankbarons einige Vorteile. Kredite waren in der gegenwärtigen Wirtschaftslage schwer zu bekommen, besonders in Delaware. Wenn also die Ehemänner bei der Gästeliste ein Wörtchen mitzureden hatten, war den Nunes eine Einladung sicher.
Unsinn. Ihr Vater beschwerte sich immer, dass Partys oberflächlich und langweilig seien, aber wenn sie Hugo sehen wollte, musste sie sich dazu durchringen, gute Miene zu machen. Die Zeit für einen Heiratsantrag war definitiv gekommen. Zwar hatte die Saison gerade erst begonnen, aber wenn er sein Versprechen einlöste, wäre dieser leidige Abendausflug immerhin nicht vollkommen umsonst gewesen.
Entschlossenen Schrittes stieg sie die imposant geschwungene Treppe im Haus ihrer Gastgeber hinauf. Fast so beeindruckend wie die im Haus ihres Vaters, wenn auch etwas altmodisch.
Sie schob sich einen Windbeutel in den Mund, da ihr der Magen knurrte. Vielleicht sollte sie noch rasch einen Blick auf den Tisch mit den Erfrischungen werfen und sich mit ein paar Leckereien versorgen. Beim letzten Mal gab es die köstlichsten Bratäpfel, Rührkuchen mit gezuckerten Beeren und in Schokolade getauchten Früchten. Bei der Erinnerung schloss sie die Augen.
Schokolade. Ambrosia war nichts gegen Schokolade. Mit Erdbeeren. Einfach göttlich. Später - erst Hugo, dann die Süßigkeiten.
Die Ehe war die einzig vernünftige Option, die sie hatte. Hugo war ihr bester Freund, und sie war seine beste Freundin, und wenn sie nicht einander heirateten, müssten sie Fremde heiraten. Oder, schlimmer noch, niemand würde sie heiraten, und wenn ihr Vater starb, wäre sie ganz allein. Außerdem hatten sie einen Pakt geschlossen.
Sie raffte ihre Röcke und schlich sich in den Flur im Obergeschoss.
Hugo Middleton lehnte mit einer Schulter neben dem Porträt eines längst verstorbenen Truitt-Vorfahrens. Das Bild war verrutscht. Das würde sie noch richten müssen, bevor sie gingen.
Sie tippte ihm auf die Schulter. Es gab keinen Grund, um den heißen Brei herumzureden. Die Zeit war gekommen. Wenn er es jetzt tat, würden die Leute ihr gratulieren, freundlich zu ihr sein, sie anlächeln und so tun, als gehörte sie dazu. Dann müsste sie nicht länger das Gefühl haben, sich nur auf Zehenspitzen bewegen zu dürfen, um niemanden zu stören. "Wirst du heute Abend oder morgen mit meinem Vater sprechen?"
"U.ursula", stotterte Hugo, und seine blassen Augen weiteten sich.
Sie blinzelte. War das Missfallen in seinem Gesicht? Anders als alle anderen war Hugo nie unglücklich, sie zu sehen. Unbehagen durchzuckte sie. "Du musst ihn fragen. Es ist an der Zeit."
"Ursula, du weißt, dass ich dich verehre, d. dich schon immer verehrt habe, und wenn es nur irgendeine M.möglichkeit gäbe ." Das Stottern wurde stärker, als er ihre Hand ergriff.
Klamme Hände. Sie rümpfte die Nase, unterdrückte ihre Abneigung aber rasch. Sie würde ihm etwas Talkum kaufen.
Er begann erneut: "Das Geschäft meiner Familie hat einige Rückschläge erlitten. Das Vermögen und der Name der Middletons sind nicht mehr das, was sie einmal waren. Meine Eltern haben ein paar finanzielle Probleme."
Der Mann machte wohl Witze! Geld? Es ging um Geld? Geld stellte nun wirklich kein Problem dar. Sie hätte vor Erleichterung tanzen mögen. Geld war das, wovon die Nunes mehr als genug hatten. Das Getuschel hinter vorgehaltenen Händen bezog sich eher darauf, dass sie zu viel davon hatten, aber gewiss nicht zu wenig.
"Hugo, meine Familie ist die reichste in Delaware. Wir könnten allein von den Zinsen leben, die unsere niederländischen und britischen Beteiligungen abwerfen, und mein Vater wird alles tun, was ich will, um deinen Eltern zu helfen, Middleton Carriers zu halten. Mein Vater ist immer auf der Suche nach Expansionsmöglichkeiten, und ."
Sie biss sich auf die Lippen. Sollte sie es sagen? Wäre es unhöflich? Ihr Vater sagte immer, dass eine Ehe Vertrauen und Ehrlichkeit erfordere. Und Hugo liebte seine Eltern, also wollte er gewiss, dass sie ganz offen sprach. Ursula spielte mit dem aus Smaragden bestehenden Löwenkopf an ihrem Armband, das eines der Lieblingsstücke ihrer Mutter gewesen war. "Ich möchte nicht aufdringlich oder unhöflich erscheinen, aber Middleton ist veraltet. Hast du dich mal mit Schienenverkehr beschäftigt? Die Dampflokomotive ist der Weg in die Zukunft."
Hugo wischte sich die Stirn. Der Mann konnte wirklich schwitzen. Das war nicht seine vorteilhafteste Eigenschaft, aber niemand war perfekt - sie selbst war weit davon entfernt, egal, wie hart sie an sich arbeitete. Abgesehen von seiner Neigung zum Schwitzen war Hugo der ideale Mann, zumindest für sie. Er machte sich nie über sie lustig, war freundlich zu ihren Tieren, sagte ihr nie, ihre Haare wären zu zerzaust oder dass ihre Kleider nicht die richtige Farbe oder den richtigen Schnitt hätten. Außer ihrem Vater war Hugo der einzige Mensch, der ihr Luft zum Atmen ließ.
"Wir können nicht heiraten. Ich weiß, wir hatten Pläne, um uns gegenseitig Schutz zu bieten, aber meine Eltern haben es verboten. Es tut mir leid. Es geht nicht nur ums Geschäft, es geht auch um meinen Vater. Er will - braucht, um genau zu sein - ein Richteramt, ein Bundesrichteramt. Wir ziehen nach Philadelphia, und zwar sofort. Meine Eltern wollen, dass ich eine Frau heirate, die ." Hugo murmelte das Ende des Satzes in seinen Ärmel.
Ihr begann das Herz zu rasen, und alle Hoffnungen, das Erwachsenenalter zu überleben, lösten sich mit einem Schlag in Luft auf.
Was hatte sie dieses Mal falsch gemacht? War es wieder der Stuhl? Oder die Flambierpfanne? Sie hatte sich so viel Mühe gegeben. Sie hatte sich benommen. Sie hatte sich auch an die meisten Regeln gehalten. Und wer konnte schon behalten, welche Wörter unhöflich waren oder wie man eine Serviette faltete? Was wurde denn noch alles verlangt? Ihr war der Hals wie zugeschnürt, als hätte sie einen ganzen Keks verschluckt - einen aus Blei.
"Eine Frau, die was?" Was war denn nur mit ihrer Stimme los? Himmel, eine Nunes weinte nicht. Selbst wenn sie verlor. Weinen war Schwäche, und die Menschen in ihrem Umfeld verspeisten die Schwachen zum Frühstück.
"Ursula, es tut mir leid. Wirklich. Ich bete dich an. Du bist immer noch die einzige Frau, die ich jemals heiraten möchte." Er nestelte an seiner Manschette herum. "Aber dein Vater ist, nun ja, nicht christlich."
Mist, doppelter Mist, und verdammt.
Warum zur Hölle stellte das so ein Problem dar? Es war doch egal. Es sollte egal sein. Warum war ihr Geld gut genug, aber sie nicht? Sie ballte die Hände so fest zu Fäusten, bis sich ihr die Fingernägel schmerzhaft in die Haut bohrten.
Sie würde ihn überzeugen. Niemand konnte so argumentieren wie sie. Das hatte ihr Vater gesagt, und ihr Vater hatte immer recht, außer wenn er Nein zu ihr sagte, was fast eigentlich nie der Fall war.
Sie straffte die Schultern.
"Das würde dir nie auffallen. Wir verbringen nie Zeit mit anderen Juden. Ich meine, wir leben in Delaware." Sie zitterte, während sie sprach, unfähig, sich zu beherrschen. Einzelne Strähnen lösten sich aus ihrer Frisur und fielen ihr ins Gesicht. "Wir treffen unsere Familie, das ja, aber selten. Mein Vater nimmt mich mit auf Partys und in die Oper, aber nicht in die Synagoge. Und wir beten, bevor die meisten Menschen aufwachen. Du würdest es gar nicht mitkriegen."
Sie verschränkte die Finger ineinander. Es ergab Sinn. Sie und Hugo ergaben Sinn. War das nicht genug?
"Ursula, ich kann nicht, ich kann einfach nicht." Hugo warf ihr einen letzten Blick zu, bevor er mit flatternden Rockschößen die Treppe hinunterfloh und sich ihre Augen mit Tränen füllten.
Jay Truitt lehnte sich gegen den Türrahmen und trank den Rest seines Champagner, sein drittes Glas, nicht genug, um einzuschlafen, aber genug, um das Gefühl zu lindern, Steine im Magen mit sich herumzutragen. Die Luft im Haus seiner Eltern war dick wie Teer.
Die Weste machte ihn noch wahnsinnig! Er zerrte an dem Kleidungsstück. Wenigstens war er nicht alt und steif und brauchte ein Korsett wie die Hälfte der Leute auf dieser unsäglichen Veranstaltung.
Warum hatte seine Mutter ihn überhaupt nach Hause eingeladen? Er war ein Versager. Das auf zwei Monate angelegte Experiment der Frau war sinnlos. Eigentlich sollte er auf der Stelle verschwinden, anstatt darauf zu warten, dass sein Vater das Kommando übernahm. Jay schluckte. Auf keinen Fall würde er die "Heilung" des Mannes noch einmal überleben.
Zum dritten Mal tastete er die Wand im Gästezimmer im zweiten Stock ab. Er hätte schwören können, dass er hinter dem Spiegel ein Versteck angelegt hatte. Verdammt. Das war das Werk seiner Eltern. Zwei...