1. Kapitel
Die Sommerferien im Fichtelgebirge machten riesigen Spaß, als meine Eltern plötzlich aufgeregt durch die Gegend liefen und mit anderen Gästen heftigst diskutierten. Eigentlich sahen sie ziemlich erschrocken aus. Wenngleich ich damals erst sechs Jahre alt war, schien mir das alles nicht ganz normal zu sein. Ich fragte sie, was los sei, erhielt aber keine richtige Antwort; offenbar wussten sie es selber nicht genau. Erst abends hörte ich die Nachricht übers Fernsehen: Berlin wird mit einer Mauer abgeriegelt. Was immer das auch bedeutete. »Mama, können wir jetzt nicht mehr nach Hause?«, fragte ich mit feuchten Augen. »Doch, natürlich, bestimmt, mein Junge«, antwortete sie. Wie zum Teufel wollte sie das denn wissen? Und dann war sogar von Abreise die Rede; der Spaß war ohnehin weg. Aber geflennt habe ich erst im Bett. Viel später würde ich mir das Datum merken: Es war Sonntag, der 13. August 61.
Auf der Rückfahrt hatte ich Fieber. Die Autoschlange staute sich vor dem Grenzübergang bereits mehrere Kilometer - das konnte Stunden dauern. Da meinte Mutter: »Der Junge ist krank, fahr doch an der Schlange links vorbei!« Mein Vater und ich starrten sie ungläubig an. Zum einen war ich ja gar nicht so krank, zum anderen war mein Vater Polizist und so etwas macht man eben nicht. Wiederum ging es auch nicht vorwärts und mir natürlich immer schlechter. So kam der Befehl: »Leg dir die Decke drüber«, und schon fuhren wir auf der Überholspur an der endlosen Kolonne vorbei. Jetzt war mir wirklich mulmig.
Lange konnte das nicht gut gehen, die armen Gesinnungsgenossen in der wartenden Blechlawine hupten wie die Verrückten, aber für einen Kranken hätten sie bestimmt Verständnis. Und die Kilometer rollten dahin. Gut gemacht, Papa.
Auf einmal stand er uns im Weg, dieser Grepo mit dem schwarz-weiß geringelten Anhaltestab. Da war sie wieder, diese unbestimmte Angst vor dem Ungewissen. Jedenfalls muss ich echt blass ausgesehen haben, denn er setzte sich zu uns ins Auto und nun durften wir autorisiert die Grenzkontrollstelle auf schnellstem Weg passieren. Niemand wagte mehr zu hupen.
Also gab es auch drüben Menschen, die mit sich reden ließen, obwohl wir ihn ein bisschen reingelegt hatten. Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, durchschaut worden zu sein. Immerhin hatte er nun mehr als vier Stunden Zeit, uns irgendwem zu melden. Drewitz, Dreilinden, aufatmen. Wir waren zu Hause: Der restliche Weg durch die Stadt zählte nicht mehr.
Oh, wie war sie mir verhasst, diese Ostautobahn, auf der man kein Mensch, sondern »Transitreisender« aus einer »selbstständigen politischen Einheit« war. Zigtausende Kilometer in all diesen Jahren auf rumpelnden Betonplatten mit Fugen so breit wie Straßenbahnschienen und Schlaglöchern, in denen tiefer gelegte Westautos zerschellten. Hier waren die Trabis und Wartburgs die Sieger, weshalb sie von einigen »Unbeirrbaren« mit 200 km/h überholt werden mussten, um es denen mal richtig zu zeigen - koste es, was es wolle.
Denn bezahlen mussten wir ja sowieso. Zuerst Straßenbenutzungsgebühr für jedes einzelne Fahrzeug. Gut, wenn man mindestens zu zweit war. So musste man nicht auch aus der Fahrzeugschlange ausscheren. Mist, die andere Kolonne kommt schneller voran, wie immer. Und weshalb sind nur zwei Spuren geöffnet, wenn doch zehn möglich wären? Klar, alles Willkür und Schikane.
Ach herrje, eine weibliche Angehörige der Grenztruppen schlendert giftigen Blickes auf mich zu. Flintenweiber, Heeressteckdosen, denke ich und will dabei schön lässig wirken. Radio aus und am besten ein wenig im Handschuhfach rumräumen. Ah, es klopft an die Scheibe. Bloß nicht gleich zu freundlich antworten, erst die Frage abwarten, die man kannte, und da war sie: »Führen Sie Funkgeräte, Waffen, Munition mit?« »Guten Tag, nein, danke. Auf Wiedersehen.« Scheißbande. Vielleicht lag das ganze Verhalten ja auch an den schrecklichen Uniformen samt Mütze, denn sie hatten keine Chance, darin hübsch auszusehen, wobei ich mir das im Einzelfall durchaus vorstellen konnte.
Ich erinnere mich noch an eine tolle Stimmung im Reisebus bis zur Grenze. Klassenfahrten fanden nicht allzu oft statt. Der Offizier musterte uns. Verdammt, weshalb hörten einige nicht auf zu quatschen. »Guten Morgen. Ausweiskontrolle. Irgendwelche Funkgeräte, Waffen oder Munition?« So ein Blödsinn, natürlich nicht. Da sagt einer: »Meine Waffe ist die Faust.« Blankes Entsetzen, das konnte jetzt dauern. Darauf der Offizier: »Wo ist hier 'ne Panzerfaust?« Allgemeines Gelächter (gequält) - Erleichterung. Drüben haben sie also auch Humor - war ja auch ein Mann.
Was war jetzt wieder los? Einer hat seinen Ausweis in den Koffer gepackt - Idiot. Auch wenn es ja nur ein behelfsmäßiger Personalausweis war, das grüne Ding musste her. So dauerte es doch noch eine Stunde, bis wir weiterfahren konnten. Aber die ging auf unsere Kappe.
Bei den Kontrollen vor dem Transitabkommen erhöhte sich der Stress. Da öffnete man bereitwillig Motorhaube, Kofferraum und klappte im Käfer die Rückbank hoch. Jeder weiteren Aufforderung kam man geflissentlich und dankbar lächelnd nach, noch bevor diese ganz ausgesprochen war. Dabei stand man im Hemd in der Arschkälte, weil man in der Aufregung die Jacke im Auto liegen gelassen hat. Durchhalten, bloß nicht dazwischenfunken, sonst fällt denen vielleicht noch was anderes ein. Dann kommt die Messlatte in den Tank. Keiner drin, bis auf den Tiger. Spiegel unters Auto - Glück gehabt; nur unter jedem dritten hängt ein »Republikflüchtling«.
Die Papiere liefen auf einem Förderband bis in die Abfertigungshäuschen. Dort wurden wir bestimmt mit allen möglichen Karteien abgeglichen, überprüft und unsere Daten aktualisiert. Jeder wurde registriert, eventuell konnte man ihn ja mal irgendwie anwerben, erpressen oder aushorchen. Ein Freund, der bei der Berliner Polizei war, berichtete, dass er unter einem fadenscheinigen Vorwand zu einem »Gespräch« geführt wurde. »Falls dies ein Verhör darstellt«, sagte er, »bestehe ich auf Anwesenheit eines Offiziers.« Peng! Warten. Papiere zurück mit den Worten: »Sie können die Fahrt fortsetzen.« Den Ton verstanden sie offensichtlich.
Für diesen Firlefanz hatten wir zwei Urlaubstage mehr, die so genannten Berlintage, denn mit Urlaub hatten sie wenig zu tun. Die Wessis neideten sie uns. Wie sollten sie es auch verstehen, wenn sie uns fragten, »Kommt ihr aus West- oder Ost-Berlin? Warum habt ihr denn keinen Reisepass?« Von Gegeneinladungen zur Erweiterung des politischen Horizonts wurde trotz angeblichen Interesses wenig Gebrauch gemacht. Einige fürchteten wohl, auf dem Weg von Tieffliegern abgeschossen zu werden oder dass die Insel nicht ausreichend Platz für sie bieten könnte. Bestimmt wären einige dieser engstirnigen Kameraden froh, wenn sie statt des Soli-Zuschlages nur wieder für die Berlinzulage arbeiten gehen dürften - wie früher.
Ab 1972, nach den Viermächteverhandlungen und dem Transitabkommen, entspannte sich die Lage. Jetzt konnte das Radio anbleiben und die Fahrzeuge wurden grundsätzlich nicht mehr kontrolliert - es sei denn, dass der Verdacht auf einen Gesetzesverstoß bestand. Wer kannte schon alle Regeln bis ins Detail?
Eine Ausnahme bildete ohnehin die »Einreise in die DDR«. Wer nicht höllisch aufpasste, was er mitnehmen durfte, handelte sich da schon Ärger ein. Und irgendeine alte BZ, in die was eingewickelt war, fiel einem schlagartig erst an der Kontrollstelle ein. Schlimmer war allerdings dann die Ausreise. Hiergegen waren selbst die alten Transitkontrollen geradezu oberflächlich. Der Wagen wurde gefilzt, man selber auch. War man der 57. oder hatte ein provokativ tolles Auto, durfte man zur Leibesvisitation mit gleichgeschlechtlichen Kontrolleuren. Dann staunte man, wie viel Teile sich während dieser Zeit vom eigenem Fahrzeug einfach abmontieren ließen. Hierfür gab es spezielle Hallen, sodass das Geschehen Schaulustigen verborgen blieb. Wir bedauerten jeden, den es traf. Angeblich gelang es den »Spezialisten« nämlich nicht immer, besonders teure Fabrikate wieder vollständig zusammenzusetzen. Dieses Problem hatte ich mit meinem VW Käfer nicht. Dafür gab es ein anderes: Es war meine erste Tour als Fahrer durch die Zone.
Meine Pappe besaß ich fast zwei Monate und meine Eltern hatten keine Einwände, was ich wohl mit »keine Bedenken« verwechselte. »Machen Sie mal Ihr linkes Ohr frei«, tönte es durchs offene Seitenfenster. Da saß er, der Offiziersanwärter, der von einem alten Hasen eingewiesen wurde. Damit waren Witze und Frotzeleien tabu. Mit meiner schulterlangen Mähne muss ich damals für die ja auch wie der wahrhaftige Klassenfeind ausgesehen haben. »Welcher Grenzübergang?«, wurde ich gefragt. Richtung Hannover, wegen der kürzeren Strecke. Dort hieß er auf der Westseite Helmstedt; aber die wollten immer die Ostbezeichnung. Sekunden der Stille, dann hatte ich...