Schweitzer Fachinformationen
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Berlin ist kochend heiß im ersten Sommer nach der Pandemie. Die Touristen sind zurück in der Party City, überall wird exzessiv gefeiert, die Menschen genießen die Zeit nach dem Lockdown. Gut für Tom Lohoff, der für das Partyvolk aus aller Welt Wohnungen, Drogen jeglicher Art, Sex und Zugang zu Top-Clubs im Angebot hat. Schlecht für ihn, dass er hohe Spielschulden bei einem fiesen Gangster hat. In seiner Geldnot trifft er ein paar Wochen vor den Bundestagswahlen eine fatale Entscheidung: Er beteiligt sich an der Entführung eines stadtbekannten Politikers, der sich als Rechtsaußen für law and order einsetzt .
Das WettbüroArena in der Potsdamer Ecke Pohlstraße ist am Mittag nahezu leer. Hinten sitzt Dmitri der Locher und bohrt mit einem Kugelschreiber Löcher in die weggeworfenen Wettscheine. Auf den Bildschirmen laufen Fußballspiele von gestern, Werbung für Onlinewetten und günstige Sofortkredite. Draußen sind es zweiunddreißig Grad. Ich bin seit sieben Uhr auf den Beinen nach drei Stunden Schlaf, es ist einer dieser Ritalin-Tage, hundertachtzig Beats per minute, einer dieser Tage, an denen ständig irgendwas ist, und das bei dieser Hitze. Das Paisley-Hemd klebt an meinem Oberkörper. Ich stehe an der Kasse und lasse mir die dreihundertzwanzig Euro auszahlen für Camila Giorgis Sieg im Achtelfinale, als Rudi mit einer Plastiktüte hereinkommt. Rudi ist einer der Spieler, die jeden Tag hier auftauchen, um ein paar Wetten zu setzen, der Rubel muss rollen. Den Zocker sieht man ihm nicht an. Sommerjackett über dem Arm, offenes Hemd, Lederschuhe. Rudi ist eigentlich immer gut drauf, grüßt alle, hat immer ein Lächeln im Gesicht, ein Siegertyp.
»Hallo Rudi«, sage ich, »wie läuft's, hast du einen Tipp für mich?«
Heute hat Rudi keinen Tipp. Heute grüßt er nicht. Sein Gesicht ist übernächtigt, fahl. Er stellt sich hinter mich und atmet angestrengt durch den offenen Mund, als komme er vom Joggen. Mich macht das immer noch nervös, wenn jemand ohne Maske in meinen Nacken atmet. Atila an der Kasse lässt sich Zeit mit dem Auszahlen, bei ihm dauert es immer, wenn er Geld herausrücken muss. Ihm tut das körperlich weh, sich von den Scheinen zu trennen.
»Ihr könnt euch ruhig mal ein paar Ventilatoren leisten«, sage ich. »Die gibt es für dreißig Euro in jedem Baumarkt. Das ist abartig heiß hier.«
»Sag das mal dem Chef, Tom«, sagt Atila und studiert immer noch meinen Wettschein, um einen Fehler zu finden. »Auf uns hört er nicht. Vielleicht hört er auf dich. Sag ihm das mal. Er will sowieso mit dir sprechen, es geht um irgendwas mit Kreditrückführung.«
»Der Schein ist in Ordnung, Atila, Giorgi hat gewonnen und die Quote stimmt«, sage ich. Das fehlt mir noch, dass die Schulden jetzt fällig werden, ausgerechnet jetzt, meine Geschäfte kommen gerade erst wieder ins Laufen. Die Touristen kehren allmählich zurück nach Berlin, brauchen Ferienwohnungen, Apartments, da bin ich der richtige Mann, Tom Lohoff. Bleiben wir lieber beim Wetter: »Ich meine ja nur. Draußen sind es zweiunddreißig Grad. Hier drinnen eher knapp vierzig. Hier knallt die Sonne den ganzen Tag drauf.«
»Ich weiß«, sagt Atila und langt ins Fach mit den Geldscheinen. »Ich arbeite hier. Dreihundertzwanzig Euro, nicht schlecht. Schönes Hemd hast du, wo kriegst du immer diese Hemden her?«
Rudi schiebt mich zur Seite, drängt nach vorn. Er fasst in seine Plastiktüte und holt ein Beil heraus. Ein robustes Handbeil, die Klinge schimmert.
»Immer sachte«, sage ich. Mein Mund ist trocken, jetzt ist mir kalt.
Rudi ignoriert mich, er hebt das Beil. »Ich will mein Geld zurück«, sagt er zu Atila. »Jetzt. Alles, was du hast.«
»Allahu akbar, mein Freund«, sagt Atila hinter der Plexiglasscheibe und hebt die Hände, um Rudi zu beschwichtigen. Er lächelt sein Kassiererlächeln. »Willst du hier jemand enthaupten? Meinst du, das ist witzig? Ich sag dir, das ist nicht witzig. Wir sind hier nicht in Frankreich. Ich gebe dir Hausverbot, wenn du das Beil nicht weglegst, Hausverbot ab sofort und lebenslang, dann kannst du woanders spielen.«
Der Sessel neben ihm ist leer, sein Kollege Ufuk ist unterwegs, draußen eine rauchen oder einen Kaffee holen. Atila weiß, er ist allein. Er weiß: Wenn Spieler durchdrehen und in den Berserkermodus gehen, sind sie nicht mehr aufzuhalten. In diesem Sommer liegen die Nerven bei allen blank.
»Ich will mein Scheißgeld zurück«, sagt Rudi und hebt das Beil über seinen Kopf. Seine Halsschlagader tritt hervor, als er zu brüllen beginnt, er hat rote Flecken am Hals. »Ich habe die Schnauze voll, das muss aufhören, ein für alle Mal.«
»Du kriegst dein Geld«, sagt Atila, »aber erst mal ist Tom dran, der war vor dir. Ordnung muss sein.« Er schiebt mir die dreihundertzwanzig Euro über den Tresen. Rudi steckt die Scheine ein, ehe ich danach greifen kann.
»Warte mal«, sage ich. »Das ist mein Geld. Giorgi im Achtelfinale gegen Halep, das waren drei knappe Sätze.«
Rudi dreht sich um und geht hinüber zu seinem Wettautomaten, der zweite von links. Jeder von uns Zockern hier hat seinen bestimmten Automaten, an dem man am liebsten seine Wetten platziert. Nenn es Aberglauben, meinetwegen. Alle sehen völlig gleich aus, aber man hat so ein Gefühl für seinen persönlichen Favoriten, wenn er einem irgendwann mal fünftausend, fünfzehntausend Euro gebracht hat, diese eine geniale Multikombiwette vor drei Jahren. An dem einen Abend, als alles lief. Als die Strähne einfach nicht aufhörte. Kombiwette ging klar, Tor in der Verlängerung in der polnischen Liga und Connor McGregor besiegte seinen Gegner im Oktagon innerhalb von vierzig Sekunden, und man hatte drauf gesetzt. So eine Ahnung gehabt. Jeder von uns hat diesen einen Abend gehabt. Zwanzigtausend Euro gutgemacht, mit einem Schlag ist man aus allen Schulden raus. Wieder Land in Sicht. Hat wieder Boden unter den Füßen. Jeder von uns rennt diesem Abend hinterher. Dann bleibt man bei seinem Wettautomaten, entwickelt eine Bindung zum Gerät. Mein Wettautomat steht in der Mitte, Rudi nimmt immer den zweiten links. Hat ihn jahrelang Tag für Tag mit Zehnern, Zwanzigern, Fünfzigern gefüttert. Jetzt holt er aus und wuchtet das Beil mit aller Kraft, mit seiner ganzen Wut, seinem Frust, seinem Schuldendruck auf den Automaten. Mitten ins Gesicht des Monitors. Ich kann das verstehen, ich habe es mir selbst schon tausendmal vorgestellt, der Kiste in die Fresse zu treten, weil sie immer nur nimmt und nimmt, schluckt und schluckt, und nichts zurückgibt außer Nieten, wertlosen Wettscheinen, die Dmitri dann lochen kann. Es gibt ein hässliches Geräusch, als die Klinge eindringt, ein Knarren von hartem Kunststoff. Dimitri hinten in seiner Ecke hebt den Kopf, versteht noch nicht, was los ist, und wendet sich wieder den alten, zerknüllten Wettscheinen zu. Rudi holt aus und schlägt noch einmal zu, jetzt splittert der Monitor auf, ein Spalt zeigt die schwarze Leere hinter dem Touchscreen.
»Ich will mein Geld wiederhaben«, sagt Rudi zu Atila. »Mach hin.«
»Ich brauche deinen Wettschein, Götveren, verstehst du«, sagt Atila, und ich weiß es, er verflucht seinen Kollegen, der nicht aus der Pause wiederkommt, sondern lieber stundenlang mit Azra telefoniert. »Ich kann dir nichts auszahlen ohne Wettschein. Das weißt du genau. Ich brauche deinen Wettschein.«
Rudi sagt nichts, kommt zurück zum Kassenschalter, holt aus und hackt das Beil in die Plexiglasscheibe, die sofort aufreißt, splittert, auseinanderbricht beim zweiten, dritten, vierten Schlag. Ich nehme grad noch rechtzeitig meine Hände vom Tresen, die Klinge fährt ins Resopal, ein Satz neue Finger kommt teuer, das Geld habe ich nicht. Rudi ist noch längst nicht fertig, er führt das Beil mit beiden Händen, sein Gesicht ist vor Anstrengung verzerrt, die drückende Luft macht ihm zu schaffen. Atila in seinem Kabuff weicht zurück.
»Okay«, sagt er. »Okay. Ich habe verstanden. Du willst dein Geld. Warte doch. Ich gebe dir dein Geld, tamam.«
Rudi lässt das Beil für einen Moment sinken und sieht zu, wie Atila hastig die Scheine aus den Fächern zieht.
»Mach hin«, sagt er und hebt wieder das Beil. »Wieso nicht gleich so, wir könnten längst fertig sein, ich hab auch nicht den ganzen Tag Zeit.«
Ich habe mir um Rudi nie Sorgen gemacht. Es gibt viele Männer in diesem Wettbüro, die knapp bei Kasse sind, im Grunde alle. Ich selbst habe mindestens zwölftausend Euro Schulden, allein bei Krasniqi, dem das Golden Dolls gehört und der auch diese Filiale führt. Außerdem einen...
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