Schweitzer Fachinformationen
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Eine Reifenpanne zwang Bernhard Ziegel an diesem späten Abend im Oktober auf dem Weg von der Gaststätte Heiringhoff bis zu seinem Haus in der Ortschaft Sünninghausen zum Anhalten. Wenn er trotz des platten Vorderreifens die zwei Kilometer bis nach Hause gefahren wäre, hätte er einen teuren Felgenschaden riskiert. Also stieg er fluchend aus, öffnete den Kofferraum und die Klappe für das Reserverad und nahm den Wagenheber heraus.
Der Mann machte sich missmutig ans Werk. Auf die Hilfe der ortsansässigen Polizei wollte er lieber verzichten, drei Bier und zwei Korn würden beim Pusten keinen guten Eindruck machen.
Als er sich bückte, um den Wagenheber anzusetzen, nahm er eine Bewegung wahr. Hinter ihm, keine vier Meter entfernt auf dem Feld stand ein Hund, ein Schäferhund. Bernhard Ziegel stand sofort wieder auf, denn seinen Rücken hielt man einem fremden Hund besser nicht entgegen. Das Tier besaß weder ein Halsband, noch sonst eine Markierung und war viel zu weit vom Ort entfernt, um nur alleine Gassi zu gehen. Nach einigen Sekunden, in denen sich die beiden, Mensch und Tier, angestarrt hatten, fuhr Bernhard Ziegel der richtige Gedanke durch den Kopf: die schmalen, hohen Läufe, die hellen Augen und das dreieckige Gesicht mit dem weißen Fell an den Wangen. Unverkennbar. Solche Bilder gingen derzeit zuhauf durchs Netz oder liefen im Fernsehen. Deutschland war wieder Wolfsland. Aber Ziegler mochte kaum glauben, dass er hier in Oelde, einem beschaulichen Städtchen im Kreis Warendorf mitten in Nordrhein-Westfalen, einem echten Wolf gegenüberstand.
Das Tier machte einen Schritt nach vorne, nur einen. Dann blieb es wieder stehen. Wenn Ziegler jetzt schnell ins Auto sprang, würde er dem Wolf etwas beibringen: Menschen haben Angst vor dir, sie sind schwächer. Kurz dachte er an den Waldkindergarten, der sich in Oelde befand. Das würde einen Aufschrei bei den besorgten Eltern geben, den konnte man bestimmt bis Berlin hören. Unverhofft schwang er den Wagenheber über den Kopf, drohte dem Tier und rief laut: »Mach dich vom Acker, lauf, alter Junge.«
Der Wolf zuckte kurz, guckte dann noch mal würdevoll in seine Richtung und lief tatsächlich übers Feld davon.
Der Reifenwechsel dauerte lange, denn Ziegler stand immer wieder auf, blickte um sich und horchte ins Dunkel. Mittlerweile war es nach zwölf Uhr. Er nahm sich vor, am nächsten Morgen früher aufzustehen und das Notwendige zu veranlassen. Die Schafzüchter mussten gewarnt werden, auch die Pferdezüchter mit ihren Fohlen auf den Weiden. Der Kreis Warendorf war die Pferderegion Nordrhein-Westfalens. Bernhard Ziegler war mächtig aufgeregt, als er in sein Auto stieg und zügig nach Hause fuhr.
Doch er war am nächsten Morgen nicht früh genug, um als Erster über die Entdeckung eines Wolfes in der Gegend zu berichten. Als Ziegler bei der Polizei anrief, war es kurz nach halb acht Uhr. Der Beamte am anderen Ende der Leitung beantwortete seinen Bericht mit folgender Gegenrede: »Ja, Sie haben recht. Wir haben einen Wolf mitten in Oelde. Er hat heute Nacht die Ziege von Mirela Schulze Brinkhoff gerissen. Alle sind entsetzt. Der Hof ist ja nicht einmal besonders einsam.«
Den Hof Schulze Brinkhoff kannte fast jeder in Oelde-Sünninghausen. Die Familie besaß einen gut gehenden Hofladen mit viel heimischen Gemüsesorten und Fleischprodukten. Zum Hof gehörten auch Rindervieh, Hühner und Pferde. Die Brinkhoffs könnten froh sein, dass der Wolf nur die alte Ziege gerissen habe, meinte der Beamte. Zumindest wirtschaftlich gesehen hätte es schlimmer kommen können. Allerdings werde das Raubtier bestimmt wiederkommen, nachdem es das üppige Angebot gesichtet habe, meinte der Polizist.
Ziegler konnte ihn förmlich grinsen hören.
Schon im Laufe des Vormittags lief im Warendorfer Radio eine Menge Tamtam zum Thema »ein Wolf in unserer Straße«. Besorgte Mütter, begeisterte Tierfreunde und angespannte Politiker meldeten sich zu Wort und heizten eine lebhafte Diskussion an. Man konnte den Eindruck gewinnen, Oelde und Umgebung würden in Kürze in den Krieg eintreten. Gedanklich taten das sicher ein paar Bürger, denen das Märchen von Rotkäppchen und dem bösen Wolf gar zu real durch den Kopf geisterte.
Die meisten Eltern verlangten rigorose Sicherheitsmaßnahmen für den Waldkindergarten, der sich am Rande des Bergeler Waldes befand. Andernfalls würden ihre Kinder dort nicht mehr spielen dürfen. Die müssten dann in den städtischen Kindergarten. Wunderbar, dachte Bürgermeister Tillmann. Jeder wusste, dass vor den städtischen Kindergärten hektische Eltern ihre Sprösslinge ablieferten, um anschließend mit siebzig Sachen davonzurasen. Gegen die Gefahren des Stadtverkehrs war der Wolf eine Gans, dachte Tillmann und legte den Telefonhörer nun neben das Gerät. Er war es bereits jetzt am frühen Mittag leid, sich anhören zu müssen, welche Maßnahmen man nun initiieren müsse. Wenn es nach ihm ginge, sollten die Bauern und Schafzüchter sich zeitnah bessere Zäune bauen, die Mehrkosten konnten sie gerne der Kommune einreichen. Aber dann musste das Jammern aufhören.
Oelde hatte es zum ersten Mal in die Schlagzeilen geschafft. Wer kümmerte sich denn sonst um ein solches Örtchen im Warendorfer Kreis? Jetzt hieß es: »Oh, Oelde, das liegt doch ganz bei uns in der Nähe. Wahnsinn, ein Wolf!« Man musste doch auch mal das Gute an der Sache sehen.
Tillmann konnte sich nicht vorstellen, dass nun ein Wolf Kinder aus dem Waldkindergarten verschleppen würde. Sein erster Vorschlag, der Kindergarten könne sich doch einen Hütehund anschaffen, der im Fall der Fälle anschlagen würde, rief blankes Entsetzen bei seinen Mitarbeitern hervor. Ein Hütehund? Ein richtig großer, echter Hund? Und wenn der dann aus einer Laune heraus ein Kind anfallen würde? Ja, das hatte er wohl nicht zu Ende gedacht. Also die Kinder einzäunen? Auch keine schlechte Idee, fand der Bürgermeister. So manch Fünfjähriger konnte eine Plage für den Wald sein. Diesen Gedanken hatte Tillman aber nicht laut ausgesprochen. So weit entfernt lagen die nächsten Bürgermeisterwahlen ja nicht.
Frau Schulze Brinkhoff senior war noch immer den Tränen nahe, als der Polizist Dirk Kemper mit einer Zoologin zusammen den Tatort begutachtete. Das zum Teil ausgeweidete Tier würde ins Chemische und Veterinäruntersuchungsamt Münsterland-Emscher-Lippe kommen. Dort würde man genau sagen können, ob es ein Wolf oder ein Hund gewesen war, der die Ziege gerissen hatte. Die Zoologin guckte sich die Spuren an, maß den Abstand zwischen den gut sichtbaren Pfotenabdrücken und war sich schnell sicher: Das war ein Wolf, wahrscheinlich ein jüngerer, ein bis eineinhalb Jahre alt.
Dirk Kemper versuchte mit einer Engelsgeduld, ein informatives Gespräch mit der alten Frau Schulze Brinkhoff zu führen.
Hatte jemand in der Nacht etwas gehört? Wo genau hatte sich die Ziege aufgehalten, und hatte sie nicht gemeckert? Aber die Bäuerin geriet immer wieder ins Stocken, tupfte sich die eine oder andere Träne weg und schwieg schließlich ganz. Am Ende war seine Packung Tempotücher leer, und er wusste nur, dass die Ziege tagtäglich lauten Krawall gemacht hatte. Keiner hatte ihr Geschrei noch ernst genommen.
Und diesem Tier weinte man nun hinterher? Krokodilstränen. Dirk Kemper fand einen echten Wolf toll. Eine Ziege war eine Ziege. Deshalb wurde das Verhör allmählich sehr ermüdend. Die ältere Frau wollte nun einmal nicht mit ihm reden.
Zur Hilfe eilte ihm gerade die Dame des Hauses, die Ehefrau des führenden Hofbauern. Als Bäuerin bezeichnete man sie selten. Sie war groß, schlank und lief meistens in adretten Reithosen herum. Sie war nicht eben schön, aber eine charismatische Frau mit dunklen Haaren und einer wohlgeratenen Nase.
»Mutter, nun ist es aber gut. Unsere Ziege war sechzehn Jahre alt. Ich mache mir mehr Sorgen um das Wohlergehen des Wolfes, wenn er sie gefressen hat.«
Sie wandte sich an den jungen Polizisten. »Wir haben zwei Ziegen, aber die andere ist noch sehr jung, und wir schließen sie abends immer in den Kuhstall ein. Hera, die alte Ziege, ließ sich nicht mehr einschließen, die machte ein Heidentheater, daher durfte sie im Hof herumlaufen. Sie war dann immer mit einer Kette angebunden, damit sie nachts keinen Blödsinn machte. Meine Schwiegermutter hat sie aufgezogen und . hm, auf ihre Art geliebt.«
Die Schwiegermutter sagte nun kein Wort mehr, sondern zupfte an ihrem Tuch herum. So richtig wohl fühlte sie sich in der Gegenwart der jüngeren Frau anscheinend nicht, aber sie saß aufrecht und herrschaftlich auf der Bank im Hof, ein dickes Wolltuch lag um ihre Schultern.
Die Ziege festgebunden, der Hof frei zugänglich - für den Wolf war dieses Abendessen leichte Beute gewesen.
»Sie müssen davon ausgehen, dass der Wolf noch einmal auftaucht«, sagte Dirk Kemper. »Sind die anderen Tiere...
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