Schweitzer Fachinformationen
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Sonne, vierundzwanzig Grad Außentemperatur, und der Geruch von frischen Backwaren vom mobilen Bäckerwagen, der mitten im Ort stand. Ein perfekter Tag. Gitte lächelte jeden Touristen an, der ihr entgegenkam, und fühlte sich in ihrem bunten Sommerkleid für alles gerüstet. Für fast alles. Denn als Gitte das Bestattungsinstitut betrat, um ihren Arbeitstag zu beginnen, fiel die Begrüßung ihres Chefs merkwürdig aus.
»Gitte, du kannst heute nicht arbeiten!«
»Warum denn nicht?«
»Weil du dich in einem emotionalen Ausnahmezustand befindest!«
Gitte und Paul Larstsen starrten sich an. Der schlanke Bestatter mit dem glatt rasierten Gesicht hielt die Arme vor der Brust verschränkt und stand mitten im Büro seines Bestattungsinstituts, als wollte er Gitte sogar den Weg zur Kaffeemaschine versperren.
Gitte ließ demonstrativ die Tür hinter sich ins Schloss fallen und trat einen Schritt auf ihn zu. »Paul, ich bin okay. Außerdem muss ich keinen Vortrag halten, sondern eine tote Frau waschen. Und der wird mein emotionaler Zustand vollkommen egal sein.«
Stur reckte sie ihr Kinn nach vorne und strich sich die blonden Haare zurück, die der leichte Seewind ihr ins Gesicht geweht hatte. Es war Montag, ein sommerlich strahlender Morgen mit jeder Menge sonnenhungriger Touristen im beschaulichen Marielyst auf der dänischen Insel Falster. Gitte konnte den Sand unter ihren Füßen beinahe noch spüren, denn sie hatte schon vor der Arbeit einen kurzen Abstecher ans Meer gemacht. Das Bestattungsinstitut von Paul Larstsen befand sich mitten im Ort und damit nur wenige Hundert Meter vom Strand entfernt. Und an diesen Strand wollte ihr Chef sie offensichtlich wieder zurückschicken. Er hielt sie für arbeitsunfähig nach dem, was am Wochenende auf ihrer kleinen Party geschehen war. Sie hatte den Kauf ihres Ferienhauses gefeiert, doch plötzlich war ein zwar lang-ersehnter, aber völlig unerwarteter Gast aufgetaucht.
»Gitte, du hast vorgestern deinen Vater wiedergesehen, nach fast zwanzig Jahren! Lange Zeit hast du sogar geglaubt, er sei tot. Erzähl mir nicht, dass du diese Begegnung einfach so wegsteckst. Er ist noch immer in Marielyst. Verbring also lieber Zeit mit ihm als mit einer toten Frau.«
»Diese tote Frau ist die Mutter von Nils. Ich habe ihm versprochen, dass ich mich um sie kümmern werde.«
Paul trat einen Schritt auf sie zu und fasste sie sanft an den Schultern. »Morgen kümmerst du dich um Ella Jansen. Heute ist dein Vater dran. Ich bestehe darauf, Gitte.«
Sie gab auf und drehte sich um. An der Tür hielt sie noch einmal inne. »Hat Nils noch etwas gesagt? Wie geht es ihm?«
»Er war verständlicherweise geschockt. Seine Mutter war erst fünfundsechzig Jahre alt. Kein Alter für einen plötzlichen Tod. Aber Herzinfarkte bekommen auch schon Vierzigjährige.«
Gitte nickte und verließ das Institut. Sie schloss ihr altersschwaches Fahrrad auf und dachte an den sonst so munteren Journalisten Nils. Auf ihrer Party hatte Nils noch Anekdoten von seiner allein lebenden Mutter erzählt, und nun, einen Tag später, hatte er seine Mutter spätabends tot vor dem Fernseher gefunden. Der Hausarzt hatte einen Herzinfarkt als Todesursache diagnostiziert.
Nachdenklich schob sie ihr altes Fahrrad bis zur Straße, unschlüssig, ob sie zum Strand gehen sollte oder nach Hause. Eine Möwe beschwerte sich lauthals, weil sie sich beim Essen einer weggeworfenen Eiswaffel gestört fühlte.
»Gitte, was machst du denn hier? Paul hat dir doch für heute freigegeben. Wir haben es alle gehört.«
Kommissar Ole Ansgaard kam soeben auf dem Weg zum Präsidium die Straße entlang. In der Hand hielt er eine Brötchentüte. Prüfend blickte er ihr ins Gesicht und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
Wow, diese Selbstverständlichkeit war sie noch gar nicht gewohnt. Schnell überspielte sie ihre Befangenheit.
»Nils' Mutter ist gestorben, und ich habe ihm versprochen, mich persönlich um die Leiche zu kümmern.«
Oles Blick wurde misstrauisch. »Kümmern als Bestatterin, oder fängst du wieder an zu ermitteln? Mir wurde jedenfalls kein Mordfall gemeldet, und ich als Kommissar sollte doch informiert werden, oder?« Er grinste jungenhaft und zeigte seine Grübchen.
»Natürlich kümmere ich mich als Bestatterin und Freundin darum. Die Frau ist an einem Herzinfarkt gestorben, und Nils tut mir wirklich leid. Aber Paul hat mich wieder nach Hause geschickt. Ich soll mich um meine eigene Familie kümmern.« Sie stöhnte und verdrehte die Augen.
Ole lachte, wurde aber schnell wieder ernst. »Gitte, wenn du jemanden zum Reden brauchst, bin ich da. Ich meine, das war schon eine ziemliche Überraschung, als dein Vater plötzlich mit deiner Tante auf deiner Party aufgetaucht ist. Du siehst ihm übrigens ähnlich, die gleichen schönen braunen Augen, und auch deine zierliche Gesichtsform, in der sich viele seiner charakteristischen Züge finden.«
»Ja.« Gitte nickte. »Das war ein bewegender Moment, ihn nach zwanzig Jahren plötzlich wiederzusehen. Ohne darüber nachzudenken, habe ich ihn einfach umarmt und war kurz wieder sein kleines Mädchen.«
»Er sah mächtig stolz aus, als er dich angesehen hat«, sagte Ole.
Es war an dem Abend nicht leicht gewesen, ihre Partygäste zu unterhalten, während ihr Vater anwesend war. Oles Hand auf ihrem Rücken hatte ihr dabei gutgetan, erinnerte sich Gitte. Heute Nachmittag traf sie ihren Vater erneut, dann würden sie ungestört miteinander reden können.
Jetzt aber funkelte Gitte Ole trotzig an. »Mir wird eine Ruhepause verordnet, damit ich erst richtig nervös werde. So ein Blödsinn! Ablenkung würde mir viel besser tun.«
Er lachte nur und nahm ihre Hand. »Ich bin für dich da, das weißt du, oder?«
Sie nickte stumm. Daran musste sie sich erst gewöhnen, dass ihre Beziehung eine neue, tiefere Ebene erreicht hatte. »Ich gehe gleich zum Strand, während ihr anderen am Schreibtisch schwitzt«, grinste sie und winkte ihm noch zu.
Leise murmelte sie seinen Namen. »Ole.« Der smarte Kommissar hatte es nicht leicht. Er steckte in einer Ehe fest, die keine mehr war. Seine Frau Anita hatte vor wenigen Jahren einen Autounfall gehabt, der sie zu einem Pflegefall gemacht hatte. Seitdem lebte sie in einem Heim und ließ ihre Stimmungsschwankungen gerne an Ole aus.
Dem Unfall vorausgegangen war ein Treffen mit einem Lover. Die meisten hätten Verständnis gehabt, wenn Ole sich von Anita getrennt hätte. Stattdessen besuchte er sie regelmäßig und hatte immer wieder ein schlechtes Gewissen, wenn er mit Gitte zusammen war. Ihr Verhältnis war fragil, so fragil wie die schönen Glasobjekte, die Oles Schwester Ann in ihrer berühmten Werkstatt herstellte.
Gitte bestieg das Rad und fuhr entschlossen die kurze Strecke zu ihrem Haus. Es war ein ehemaliges Ferienhäuschen, in das sie nach ihrer Übersiedlung von Münster nach Marielyst gezogen war, um sich nach dem Tod ihrer deutschen Mutter nun auf die dänischen Wurzeln ihres Vaters zu besinnen. Dass dieser Vater bis vor Kurzem fast zwanzig Jahre lang aus ihrem Leben verschwunden gewesen war, hatte natürlich auch eine Rolle gespielt. Unerbittlich hatte sie nachgeforscht, was damals passiert war, als Mads von einem Tag auf den anderen in Marielyst wie vom Erdboden verschluckt worden war. Sie hatte ihn nach langer Zeit gefunden. Aber die Umstände waren schwierig und hatten Gitte an ihre eigenen Grenzen gebracht. Nach zwei Jahren in Marielyst hatte sie selbst schließlich Wurzeln geschlagen, und seit Kurzem gehörte das Häuschen ihr. Zu Hause angekommen, zog sie sich unter dem Kleid einen bunten Bikini an und tauschte die Arbeitstasche gegen ein Badetuch ein.
Von ihrem Haus zum Strand waren es nur ein paar Hundert Meter. Sie ging über den Torv, den großen, mit Holzplanken belegten Platz, und kaufte sich ein Softeis. Nach und nach öffneten die Boutiquen, und die Besitzer schoben ihre Kleiderständer in die Sonne.
Gitte setzte sich mit ihrem Eis auf eine der Bänke und beobachtete, wie im Ortskern langsam das Leben erwachte. Die ersten Familien wanderten bereits zum Strand, und die Spätaufsteher versorgten sich mit Brötchen und leckeren Marzipanteilchen. Bis zum Wasser reichten die Holzplanken, auf denen Gitte schließlich gemächlich dahinspazierte. Dabei setzte sie ihre Füße auf die silberne Erhebung, die es auch blinden Menschen ermöglichte, einigermaßen durch den Ort geführt zu werden und zum Strand zu gelangen.
Am weißen Sandstrand setzte sie sich mit einem Handtuch an die Dünen und blickte aufs Meer hinaus. Ruhig lag die Ostsee vor ihr. Zahlreiche Sandbänke ließen das Wasser in unterschiedlichen Blautönen strahlen. Noch vor einem Jahr hatte sie gedacht, ihr Vater Mads läge mit einem Betonklotz an den Füßen irgendwo auf dem Meeresgrund. Ermordet von einem russischen Kunden, mit dem er zuletzt Geschäfte gemacht hatte.
So konnte man sich auch als Tochter irren, obgleich sie fast sechzehn Jahre lang mit ihm zusammengelebt hatte. Ihre Mutter Bärbel war letztes Jahr verstorben, sie hatte nicht mehr erfahren, dass ihr Mann Mads sich im Alkoholrausch...
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